Behandelter Abschnitt Est 5
Demzufolge begibt sie sich am Ende des dreitägigen Fastens, ihr Leben aufs Spiel setzend, in den inneren Hof des Königshauses, wo der Herrscher auf seinem königlichen Throne sitzt. Doch die Herzen der Könige sind in der Hand des Herrn. Das zeigt sich auch hier. Esther erlangt Gnade in den Augen des Ahasveros, und er reicht ihr das goldene Zepter.
Darin war alles eingeschlossen. Der Ausgang der ganzen Angelegenheit war damit gegeben. Alles hing von der Bewegung des goldenen Zepters ab. Es war Gottes Ratschluß, Sein Wohlgefallen, Seine unumschränkte Gnade, welche alles ordnete. Das Volk war gleichsam schon gerettet. Das Zepter hatte alles zu Gunsten der Juden und zum Verderben ihrer Widersacher entschieden, mochten diese auch noch so hoch und mächtig, noch so zahlreich und listig sein. Gott hatte die Sache in Seine Hand genommen. Und wenn Er für uns ist, wer könnte dann wider uns sein? „Sei fern von Angst“, so sprach der Herr auch hier zu Seinem Volke, „denn du hast dich nicht zu fürchten, und von Schrecken, denn er wird dir nicht nahen. Siehe, wenn man sich auch rottet, so ist es nicht von mir aus; wer sich wider dich rottet, der wird um deinetwillen fallen. Siehe, ich habe den Schmied geschaffen, der das Kohlenfeuer anbläßt und die Waffe hervorbringt, seinem Handwerk gemäß; und ich habe den Verderber geschaffen, um zu zerstören. Keiner Waffe, die wider dich gebildet wird, soll es gelingen; und jede Zunge, die vor Gericht wider dich aufsteht, wirst du schuldig sprechen.“ (Jes 54,14-17)
Esther nahte herzu und rührte das Zepter an. Sie machte Gebrauch von der Gnade, die sie besucht hatte; aber sie tat es in aller Ehrerbietung, und das Zepter blieb sich treu. Es erweckte keine Hoffnungen, die es auch nicht zu verwirklichen bereit war. Es hatte bereits von Frieden zu ihr geredet; und Friede, weit mehr als Friede, sollte ihr zu teil werden. „Was ist dir, Königin Esther?“ sagt Ahasveros zu ihr, „und was ist dein Begehr? Bis zur Hälfte des Königreichs, und sie soll dir gegeben werden!“
Das ist sehr gesegnet. Ich wiederhole, das Zepter blieb sich selbst treu. Welch eine Wahrheit finden wir hierin zum Ausdruck gebracht! Die Verheißung Gottes und das Werk des Herrn Jesu, sie gleichen diesem Zepter. Sie sind Pfänder, die uns unter der gütigen Hand unseres Gottes zum voraus gegeben sind, und die Ewigkeit wird sich ihnen treu erweisen; ja, endlose Zeitalter der Herrlichkeit, Zeugen des vollendeten Heils, werden sie einlösen. Nichts ist zu groß für die Einlösung solcher Pfänder, wie hier das halbe Königreich der Esther zu Füßen gelegt wird.
Die Art und Weise indes, wie Esther von der ihr so gebotenen Gelegenheit Gebrauch macht, ist eine der herrlichsten und köstlichsten Früchte des Lichtes und der Kraft des Geistes, welche wir unter den vielen Wundern entdecken, die Gottes Meisterhand uns in diesem Buche vor Augen führt.
Anstatt um die Hälfte des Königreichs zu bitten, anstatt sogleich das Haupt des gewaltigen Amalekiters zu fordern, ersucht sie nur darum, daß der König und Haman zu einem von ihr bereiteten Male kommen möchten. Das ist in der Tat merkwürdig! Wer hätte eine solche Verwertung eines nahezu unbeschränkten Versprechens erwartet? Die Bitte erinnert uns an die Antwort, welche der göttliche Meister selbst, Er, der „die Weisheit Gottes“ ist, dem samaritischen Weibe gab. Sie bat um das lebendige Wasser, und Er forderte sie auf, ihren Mann herbeizuholen. Schien das nicht unerklärlich seltsam zu sein? Aber es war, wie wir wissen, ein Strahl des reinsten Lichtes, der von der Quelle des Lichtes selbst ausging. Ähnlich ist es hier. Die Bitte Esthers war wirklich seltsam. Aber sie war, wie wir gleich sehen werden, nichts Geringeres als ein Zeugnis von der vollkommenen Weisheit des Geistes, der diese Frau erleuchtete und leitete. Es war der Weg, um den großen Widersacher zur vollen Ausreifung seines Abfalls zu bringen, zur Erreichung jenes mächtigen Höhepunktes von Stolz und Selbstbefriedigung, von welchem ihn herabzustürzen die Hand Gottes von Anfang an Vorbereitungen getroffen hatte. Esther handelte unter der Leitung des Geistes in ähnlicher Weise mit Haman, wie die Hand Gottes einst mit dem Pharao in Ägypten gehandelt hatte. Das Gefäß des Zornes bereitet sich wieder selbst zum Gericht zu (vgl. Röm 9,22), und es muß von einer Höhe herabgestürzt werden, zu welcher seine eigenen Lüste und der Gott dieser Welt es hinaufgetrieben haben. Esther wird in Gottes Hand das Werkzeug, welches ihm Gelegenheit gibt, seinen Abfall voll zu machen. Sie zeigt sich hier in wunderbarer Weise in das Geheimnis aller dieser Dinge eingeweiht. Auch am zweiten Tage bittet sie Haman und den König zum Mahle, nur diese beiden miteinander. Damit war die schwindelnde Höhe erreicht, von welcher der Abtrünnige fallen sollte.
Er kann alles dieses nicht ertragen. Es ist zu viel für ihn. Sein Herz ist überladen; befriedigter Stolz hat es bis zum Überlaufen gesättigt. Er kann sich nicht bezwingen. Gerade seine Verderbtheit treibt ihn auf dem Wege der Natur weiter. Aber so ist es stets. Es war naturgemäß, daß er alle seine Herrlichkeiten seinem Weibe und seinen Freuden kundtat. Fleisch und Blut vermögen so etwas zu schätzen, und der Stolz muß so viele Schmeichler und Verehrer um sich haben wie nur möglich. Zugleich verlangt er aber auch seine Opfer. Da Mordokai sich immer noch weigert Haman die Ehre zu erweisen, die er verlangt, wird ein fünfzig Ellen hoher Galgen aufgerichtet, an den er gehängt werden soll.