Behandelter Abschnitt Est 6-7
Das was Mordokai seiner Zeit dem König über seine beiden Kämmerer Bigthana und Teresch berichtet hatte, muß jetzt, nachdem es bis dahin vergessen oder wenigstens unbeachtet geblieben war, wieder ins Gedächtnis kommen. So werden auch die Tränen, die Küsse und die Salbe der liebenden Sünderin in Lk 7 und die entsprechenden Vernachlässigungen des Pharisäers für einen Augenblick stillschweigend übergangen; aber sie kommen alle ans Licht, ehe die Szene schließt. Denn es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werden wird. Gott läßt nichts unbeachtet vorübergehen. Mordokais Tat bleibt nicht auf immer vergessen. Sie kommt zu ihrer vollen Anerkennung, und das sogar angesichts des großen Widersachers, geradeso wie das liebende Tun der Sünderin ausführlich vor den Ohren ihrer Ankläger wiedererzählt wird. (Lk 7,36-50)
Die Nacht nach dem ersten Mahle der Königin Esther verlief schlaflos für Ahasveros. Denn wie Gott Seinen Geliebten den Schlaf gibt, so hält Er zu Zeiten auch die Augen der Menschen für sie offen durch Gedanken des Hauptes auf ihrem Lager. Indem Er Unterweisung gibt durch Gedanken zur Nachtzeit, beschäftigt Er sich mit den Herzen der Menschenkinder. So war es auch hier. Der schlaflose König fordert das Gedächtnisbuch der Chroniken, in welchem die Tat des Mordokai aufgezeichnet war, und liest nun den Bericht über das, was sich einige Jahre vorher zugetragen hatte. Und so wie es wahr ist, daß „der Mensch alles was er hat für sein Leben gibt“, so dünkt auch hier den König bei der unerwartete Entdeckung der Tat des Mordokai, durch welche sein Leben bewahrt worden war, nichts zu hoch oder zu ehrenvoll für seinen Retter.
Doch stehen wir hier einen Augenblick still, um die wunderbare Verkettung der Umstände in dieser Geschichte zu betrachten. Da ist Haupt- und Nebenplan, ein Rad inmitten eines Rades, wie wir es ausgedrückt finden (vgl. Hes 1,16), ein Umstand abhängig vom anderen; und alles und jedes wirkt zusammen, um die wunderbaren Werke Gottes zu vollführen.
Da finden wir in dieser Geschichte das merkwürdige Auftauchen von Jude und Amalekiter nebeneinander. In der Tat, eine seltsame Erscheinung, wie ich es schon früher hervorgehoben habe. Jude und Amalekiter treten auf in dem fernen persischen Reiche, und zwar befinden sich beide in Stellungen der Gunst und Autorität vor dem dortigen Königsthron. Dann begegnen sich Vastis Laune und Esthers Schönheit. Weiter fällt die Tatsache auf, daß Mordokai als Einziger von dem Anschlag gegen das Leben des Königs vernimmt. Dann bestimmt das Los den Tag für die Ermordung der Israeliten, aber so, daß noch elf Monate übrigbleiben, um Pläne zur Reife kommen und Änderungen eintreten zu lassen. Da wird ferner das Herz des Königs bewegt, Esther das goldene Zepter entgegen zu reichen. Ferner sehen wir die Schlaflosigkeit des Ahasveros und seine auf das Gedächtnisbuch der Chroniken gerichteten Gedanken. Und schließlich muß Haman gerade zu diesem besonderen Zeitpunkt den Hof des Palastes betreten.
Welch eine innige Verwebung von Kette und Einschlag zeigt sich in diesem allem! Welch eine Einfädelung von Umständen, und wie geht schließlich aus allem ein so seltenes, farbenprächtiges Gewebe hervor; und doch tritt, wie wir gesehen und bereits gesagt haben, Gott in all der Zeit nicht hervor, ja, Sein Name wird nicht einmal genannt!
Wie gesegnet ist auch dies! Befriedigt durch das Werk Seiner Hand und in den Ratschlüssen Seines Geistes, kann der Herr eine zeitlang verborgen bleiben, ohne an die Öffentlichkeit zu treten oder die Ihm gebührende Verehrung zu empfangen. Wir sind auf unserem Pfade zu etwas Ähnlichem berufen. Wir sollen unser eigenes Werk prüfen, an uns selbst allein Ruhm haben, und nicht an den anderen (Gal 6,4), ohne unsere Geheimnisse auszuplaudern, oder die Blicke unserer Mitbrüder auf uns zu lenken. Es ist wahrlich groß, ungesehen zu wirken, unbeachtet zu dienen. O über die tiefen Ratschlüsse jener Weisheit, die das Ende von Anfang an kennt, und über das wunderbare Wirken jener Hand, welche selbst die Herzen von Königen lenken kann, wie es ihr gefällt!
Eine sprichwörtliche Redensart sagt: Wer kann voraussehen, was ein Tag gebiert? Das sehen wir auch in Hamans Geschichte. Schon ehe das Mahl des zweiten Tages beginnt, stehen Seresch und die Freunde einem ganz anderen Haman gegenüber, als dem, welchen sie nach Beendigung des ersten begrüßt hatten. Haman fällt; und wie fällt er! Wir müssen ein wenig dabei verweilen, um von dem Charakter dieses großen Ereignisses genaue Kenntnis zu nehmen; so wichtig ist es für die Darstellung des Gerichts Gottes.
-
Es wurde der Größe Hamans gestattet, so zuzunehmen und zu wachsen, damit er in der Stunde des höchsten Stolzes, der höchsten Vermessenheit fiele.
Das ist überaus lehrreich; denn so war Gottes Weise von jeher. Den Erbauern des Turmes zu Babel wurde erlaubt, ihr Werk fortzusetzen, bis sie ein Wunder daraus machten. Nebukadnezar wurde Zeit gegeben, seine große Stadt zu vollenden. Das Tier in der Offenbarung wird solange Gedeihen haben, bis die ganze Welt sich hinter ihm her verwundert. So wird auch hier Haman getragen, bis er auf dem Gipfelpunkt seiner Macht angelangt ist. Im Augenblick der stolzesten Erhebung sucht das Gericht Gottes alle diese heim. Auch Herodes, als ein weiteres Beispiel, wurde von Gott geschlagen und starb, als das Volk ihm zurief: „Eines Gottes Stimme, und nicht eines Menschen!“ (vgl. Ps 37,34.36)
-
Haman wird in seiner eigenen Schlinge gefangen. Die Ehrung, die er sich selbst zugedacht hatte, wird Mordokai zuteil, und an den Galgen, den er für Mordokai errichtet hatte, wird er selbst gehängt.
Das enthält ebenfalls eine Belehrung für uns. Denn auch dies war Gottes Weise und wird es fernerhin sein. Daniels Ankläger werden in die Grube geworfen, welche sie für ihn bestimmt hatten; und die Feuerflamme tötete die Männer, welche die Kinder der Gefangenschaft in den feurigen Ofen warfen. Und so finden wir das Schicksal der Widersacher und Abtrünnigen der letzten Tage in der Geschichte dieser Welt vorhergesagt: „Er läßt ihre Ungerechtigkeit auf sie zurückkehren“ (vgl. Ps 7; 9; 10; 35; 57; 141 usw.). Satan selbst, der die Gewalt des Todes hat, wird durch den Tod überwunden. (Heb 2,14)
So wird es dem letzten großen Feinde ergehen. Das Gericht des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht, wie der Blitz, der von Osten ausfährt und bis gen Westen leuchtet. „In einer Stunde“, heißt es von dem Babylon der Offenbarung, „ist ihr Gericht gekommen.“ Die Gerichte über die Welt vor der Flut und über die Städte der Ebene fanden in gleicher Weise statt; sie sind, gleich dem Fall des Agagiters, Vorbilder von einem kommenden Gericht.
Sein Untergang ist ein vollständiger. Dasselbe Schicksal wird den großen Feind und mit ihm diesen gegenwärtigen Zeitlauf treffen.
Die Nachkommen des Verräters werden ausgerottet (vgl. Ps 109), die Kindlein Edoms hingeschmettert an den Felsen (Ps 137), Hamans Söhne sämtlich nach ihm gehängt; sie alle zeigen im Bild den gänzlichen Fall und die Vernichtung alles dessen, was sich jetzt wider Gott erhebt, die Reinigung von allem durch den Besen des göttlichen Gerichts. Der „Mühlstein“ in Offenbarung 18 sagt es uns, und Prophezeiung auf Prophezeiung hat es seit langem angekündigt.
Der Sturz des großen Amalekiters ist in all den Zügen, die bei ihm hervortreten, voll vorbildlicher Bedeutung. Wir leben in einer Zeit der Weltgeschichte, die seine Person besonders bedeutungsvoll und belehrend für uns macht. Täglich können wir beobachten, wie der Herrn die Absichten der Welt immer mehr ihrer Vollendung näher kommen läßt, wie Er ihr erlaubt, alle ihre erstaunlichen Reize zu entfalten und ihr ganzes System zu entwickeln, bis sie schließlich, gleicht dem Turme zu Babel, die strafende Heimsuchung des Himmels auf sich herabzieht. Plötzlich, in einem Augenblick, und völlig wird das Werk des Gerichts vor sich gehen, und dann wird nicht eine Spur – wie herrlich ist es, das sagen zu können! – von der Welt des Menschen übrigbleiben. Ihr Stolz und ihre Zügellosigkeit, mit allen ihren bösen Früchten, werden dahin sein, und eine Welt, die passend ist für die Gegenwart des Herrn der Herrlichkeit, wird in strahlendem Glanze dastehen.