Henry Allan Ironside
Schriften von Henry Allan Ironside
Kla 1-5 - Du HERR, bleibst für immer
Kla 3 - Lasst uns unsere Wege erforschen und prüfenKla 3 - Lasst uns unsere Wege erforschen und prüfen
In den 66 Versen dieses Kapitels, die, wie bereits erwähnt, in einem dreifachen alphabetischen Akrostichon angeordnet sind, spricht Jeremia für die Übriggebliebenen, schildert seine und ihre Bedrängnis, bekundet aber einen unerschütterlichen Glauben an die Güte Gottes und ruft alle auf, ihre Wege zu untersuchen und zu prüfen und zu Ihm zurückzukehren. Er trägt die bitteren Leiden seines Volkes auf dem Herzen, wie es auch der Herr Jesus tat, und schildert seine Schmerzen in einer Weise, die eindeutig auf die Äußerung des Geistes Christi hindeutet, der, wie wir in der Einleitung zu Kapitel 1 bemerkt haben, in all ihrer Bedrängnis bedrängt war (Jes 63,9) und alles im Geist mit ihnen durchlebte. Jeremia kann hier fast als ein Vorbild des Herrn Jesus gesehen werden; denn auch auf ihn kann, wie auf keinen anderen Propheten, der Titel Der Mann der Schmerzen angewendet werden. Es sagt:
Ich bin der Mann, der Elend gesehen hat durch die Rute seines Grimmes (3,1).
Und er fährt fort zu berichten, wie er in die Finsternis und nicht ins Licht gebracht wurde: wie Gott sich gegen ihn wandte und seine Hand jeden Tag im Gericht über ihn hielt. Unter der Last des göttlichen Missfallens verließen ihn Kraft und Spannkraft, und seine Gebeine waren wie zerschlagen (V. 2–4). Es ist der Ausdruck eines Menschen, der sich, obwohl er Gott wohlgefällig war, voll und ganz mit den Nöten seines Volkes einsmachte.
Die Verse 5–17 setzen seine Wehklagen angesichts des schrecklichen Unglücks fort, das über sie hereingebrochen war. Umgeben von Bitterkeit und Mühsal, an dunklen Orten wie in den Gräbern der Toten, umzäunt und beschwert mit einer schweren Kette, schrie und schrie er, nur um festzustellen, dass Gott sein Gebet nicht erhörte. Nichts könnte trauriger sein als der düstere Zustand, der sich vor seinem geistigen Auge abspielte. Der HERR hatte ihn offenbar vergessen oder war ihm sogar zum Feind geworden. Er hatte die Wege seines Dieners verschlossen, seine Pfade gekrümmt und war für ihn wie ein lauernder Bär oder ein Löwe, der auf Beute wartet. Der HERR hatte die Pfeile seines Köchers in die Nieren seines Knechtes eindringen lassen, ihn verwüstet und zur Zielscheibe für den Pfeil gemacht. So wurde er zum Gelächter seines ganzen Volkes und zu ihrem Saitenspiel den ganzen Tag. Wie sehr gleicht er darin dem, der zum Saitenspiel der Zecher wurde (Ps 69,13)! Er war voll Bitterkeit und trunken von Wermut, seine Zähne waren zermalmt wie zerbrochene Kieselsteine, und er war niedergedrückt wie Asche. Seine Seele war weit vom Frieden verstoßen, so dass er das Gute vergessen hatte. Es ist ein trauriger Bericht über einen Menschen, der wegen seiner Sünde das Missfallen Gottes zu spüren bekam.
Aber obwohl er gefallen war, wurde er nicht völlig verstoßen. Er sagte allerdings:
Dahin ist meine Lebenskraft und meine Hoffnung auf den HERRN (3,18).
Doch als er sich an die Wermut und die Bitterkeit erinnerte, wurde seine Seele in ihm gedemütigt, und er konnte sagen: „ Dies will ich mir zu Herzen nehmen, darum will ich hoffen“ (V. 19–21). Dementsprechend wird in Vers 22 ein völlig anderer Ton angeschlagen, und ein erhabener Ton freudiger Zuversicht wird bis zu Vers 36 aufrechterhalten. Anstatt sich zu beklagen, dass sein Leid größer war, als er es verdient hatte, rechtfertigte er Gott und erkannte dankbar an, dass die Gerechtigkeit mit Gnade gemildert worden ist.
Es sind die Gütigkeiten des HERRN, dass wir nicht aufgerieben sind; denn seine Erbarmungen sind nicht zu Ende; sie sind alle Morgen neu, deine Treue ist groß (3,22.23).
Wie kostbar ist der Glaube, der in einer solchen Zeit so sprechen kann! Und welcher geprüfte Gläubige kann wahrhaftig etwas anderes sagen? Nur wenn die Seele nicht in der Gegenwart Gottes ist, scheint es, als seien seine Züchtigungen zu hart und zum Teil unverdient gewesen. Kein Gläubiger, der sich selbst beurteilt, hat jemals geleugnet, dass er weit davon entfernt war, den vollen Lohn für seine Taten zu erhalten. Vielmehr scheint es, als würde Gottes Gnade ihn dazu bringen, selbst schweres Versagen zu übersehen und nur teilweise zu korrigieren. „Seine Erbarmungen sind nicht zu Ende.“ Die Rute wird niemals von einem kalten, gleichgültigen Herzen geführt. Er empfindet wie kein anderer für das Volk, das Er auserwählt hat, für die Kinder, die Er liebt. Jeder Morgen ist Zeuge neuer Beweise seiner Güte und Liebe.
In der Betrachtung dieser überaus wertvollen Wahrheiten kann der inspirierte Seher erklären:
Der HERR ist mein Teil, sagt meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen (3,24).
Alles andere mag scheitern, aber Er wird bleiben. Das ist die Zuversicht Habakuks (Kap. 3,17.18) und die beständige Zufriedenheit des Paulus (Phil 4,11). So wird man befähigt, sich im Herrn zu freuen, auch wenn keine andere Quelle der Freude mehr übrig ist. Er wird wie in Psalm 16,5 zum Teil der Seele; dort lesen wir: „Der HERR ist das Teil meines Erbes und meines Bechers.“ Kein Wunder, dass es in Psalm 23,5 heißt: „Mein Becher fließt über.“ Wie könnte es auch anders sein, wenn Er es ist, der ihn füllt?
Gütig ist der HERR gegen die, die auf ihn harren, gegen die Seele, die nach ihm trachtet. Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des HERRN (3,25.26).
Der Grund dafür, dass die hier gelehrten Wahrheiten so wenig beachtet werden, liegt einfach darin, dass das Warten auf Gott heutzutage unter Christen weitgehend eine „verlorene Kunst“ ist. Die Eile und Hast des Zeitalters, die Begierde nach anderen Dingen, mit einem Wort, die Weltlichkeit, die so charakteristisch für die gegenwärtige bedeutsame Zeit in der Geschichte der Versammlung ist, schließt, wie zu befürchten ist, bei einer großen Anzahl derer, die den Namen Jesu als Retter und Herrn bekennen, jede Neigung zum Warten auf Gott aus. Daher ist in praktischer Hinsicht wenig oder gar nichts bekannt von seiner Güte, die empfundene Not zu stillen, und von seiner Fähigkeit, die Seele zum Frieden zu führen, die sein Angesicht sucht.
Es ist vielleicht überflüssig zu sagen, dass Jeremia, als er schrieb:
Es ist gut, dass man still warte auf die Rettung des HERRN (3,26). es nicht um das Seelenheil geht, sondern um die Befreiung von den Mühen und Schwierigkeiten des Weges. Nirgendwo in der Heiligen Schrift wird das ewige Heil der Seele als etwas dargestellt, auf das man in Geduld und Ruhe warten soll. Immer wieder wird das Gegenteil deutlich gesagt. Der Prophet spricht nicht von Erlösung in diesem Sinne. Was das Heil der Seele betrifft, so müssen wir uns an das Neue Testament wenden, insbesondere an das Johannesevangelium und die Briefe des Paulus, des Johannes und des Petrus. Diese beiden Aspekte der Errettung müssen wir klar unterscheiden. Der Herr hat nirgends eine sofortige Befreiung von Kummer und Leid versprochen. Wenn Er in seiner gerechten Regierung zulässt, dass sein Volk in Bedrängnis gerät, ist es gut, dass es sofort sein Angesicht sucht und auf Ihn wartet. Vielleicht ist es nicht sein Wille, jeden Dorn im Fleisch herauszuziehen; aber wenn nicht, wird Er der wartenden Seele die Gnade geben, das zu ertragen, und zwar mit Freude.
Es gibt einen Dienst des Leidens, den alle Gläubigen in größerem oder geringerem Maß lernen müssen. Es heißt:
Es ist gut für einen Mann, dass er das Joch in seiner Jugend trage (3,27).
Das Ergebnis wird sein, dass er ernüchtert und gedemütigt wird, wenn er vor Gott dazu steht, und dass er so den größtmöglichen Segen erfährt. Er mag aufgefordert werden, allein zu sitzen und zu schweigen, seinen Mund in den Staub zu legen und, wie sein Heiland, seine Wange den Raufenden hinzuhalten, aber er kann sicher sein: „Der Herr verstößt nicht auf ewig“ (V. 28–31).
Wie im Fall Judas mag Gott Leid verursachen – tiefes und herzzerreißendes Leid –, aber Er wird sich dennoch über den Gläubigen erbarmen:
... wenn er betrübt hat, erbarmt er sich nach der Menge seiner Gütigkeiten. Denn nicht von Herzen plagt [demütigt, beugt] und betrübt er die Menschenkinder (3,32.33).
Er züchtigt nicht ohne Ziel, sondern damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden (Heb 12). Er ist zu liebevoll, um uns eine unnötige Last aufzubürden: Er ist zu heilig, um einen notwendigen Schlag auszulassen. Ungerechtigkeit kann Er nicht dulden.
Dass man alle Gefangenen der Erde unter seinen Füßen zertritt, das Recht eines Mannes beugt vor dem Angesicht des Höchsten, einem Menschen unrecht tut in seiner Streitsache – sollte der Herr nicht darauf achten (3,34–36).
Alle seine Wege haben dasselbe Ziel. Es ist nur die mangelhafte Sicht des Menschen, die das anders erscheinen lässt. Wenn Er uns endlich bei der Hand nimmt und den ganzen Weg mit uns geht, indem Er das
Licht seiner eigenen Herrlichkeit auf jeden Schritt scheinen lässt, werden wir verstehen, was wir jetzt nicht begreifen können, nämlich wie gerecht und wahrhaftig alle seine Wege waren, als Er uns durch diese Ereignisse führte.
Nichts kann sein Volk angreifen, wenn Er es nicht zulässt, denn:
Wer ist es, der sprach, und es geschah, ohne dass der Herr es geboten hat? (3,37).
Es ist ein einfacher und elementarer Grundsatz, den viele jedoch erst nach vielen Jahren begreifen. Wenn man sich einmal klarmacht, dass Gott unmittelbar mit jeder Einzelheit des Lebens zu tun hat, ist man davon befreit, sich mit den handelnden Instrumenten zu beschäftigen. Das zeigt sich deutlich bei David, als Simei ihn verfluchte. Er lässt nicht zu, dass der eifrige Abisai den Übeltäter anrührt, denn er weiß: „Ja, mag er fluchen! Denn wenn der HERR ihm gesagt hat: Fluche David!, wer darf dann sagen: Warum tust du so?“ (2Sam 16,11). Er kann daher alles in seine Hände legen und darauf vertrauen, dass Er den Fluch in Segen verwandelt. Auch Hiob ist in der ersten Zeit seiner Prüfung ein gutes Beispiel für die Unterwerfung unter den Willen Gottes, und er weigert sich, einen zweiten Grund in Betracht zu ziehen: Er fragt: „Wir sollten das Gute von Gott annehmen, und das Böse sollten wir nicht auch annehmen?“ (Hiob 2,10). Es ist eine wichtige Wahrheit und ein großer Trost für den Gläubigen zu wissen:
Das Böse und das Gute, geht es nicht aus dem Mund des Höchsten hervor? (3,38).
Andererseits lässt Er Böses zu unserer Züchtigung zu und benutzt sogar ‒ wie in dem eben zitierten Fall ‒ Satan als Werkzeug, um seine gnädigen Absichten zu verwirklichen.
Angesichts seiner heiligen und gerechten Regierung stellt Jeremia fest:
Was beklagt sich der lebende Mensch? Über seine Sünden beklage sich der Mann! (3,39).
Sicherlich ist es weitaus angemessener, von Herzen zu sagen:
Prüfen und erforschen wir unsere Wege, und lasst uns zu dem HERRN umkehren (3,40).
Das zeigt, dass die Züchtigung die gewünschte Wirkung hat. „Alle Züchtigung aber scheint für die Gegenwart nicht ein Gegenstand der Freude, sondern der Traurigkeit zu sein; danach aber gibt sie die friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt worden sind“ (Heb 12,11). Das ist nicht unbedingt bei jedem Gläubigen der Fall. An dieser gottgefälligen Einsicht mangelt es so sehr. Es kommen Bedrängnisse, und die Gläubigen brechen unter ihnen zusammen; oder sie werden verachtet, und man nimmt eine stoische, selbstbewusste Haltung ein, die dem Zustand eines Menschen unter Gottes Hand nicht angemessen ist. Bei den meisten von uns, so ist zu befürchten, ist das erste Ziel, der Züchtigung auf irgendeine Weise zu entkommen, abgesehen von jenem Zusammenbruch vor Gott, der dazu führt, dass wir unsere Wege prüfen und erforschen. Genau hier hat Juda so kläglich versagt. Als Gott den König von Babylon wegen ihrer Sünden gegen sie sandte, wandten sie sich an den König von Ägypten, um Hilfe zu bekommen, und das in schlichter Missachtung des Wortes des HERRN. Aber sie mussten auf praktische Weise lernen, wie bitter die Abkehr von Gott ist.
Demütig vor Gott, ohne jede falsche Hoffnung, suchen und prüfen die Übrigen ihre Wege, und das Ziel des Herrn ist erreicht. In ihrer Zerrissenheit rufen sie:
Lasst uns unser Herz samt den Händen erheben zu Gott im Himmel! Wir, wir sind abgefallen und sind widerspenstig gewesen; du hast nicht vergeben. Du hast dich in Zorn gehüllt und hast uns verfolgt; du hast hingemordet ohne Schonung. Du hast dich in eine Wolke gehüllt, so dass kein Gebet hindurchdrang. (3,41–44).
Das ist eine wichtige Lektion. Es ist sinnlos, zu beten, wenn man in der Sünde verharrt. Wer nicht sucht, mit Gott zu wandeln, hat kein Recht, etwas von Ihm zu erwarten. „Vertraue auf den HERRN und tu Gutes, wohne im Land und weide dich an Treue und ergötze dich an dem HERRN: So wird er dir geben die Bitten deines Herzens“ (Ps 37,3.4). „Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, so werdet ihr bitten, um was ihr wollt, und es wird euch geschehen“ (Joh 15,7). Dies ist der Schlüssel zu einem Gebet, das Erhörung findet. Gehorsam gibt Zuversicht. Es ist unmöglich, im Glauben zu bitten, wenn man sich an etwas klammert, das den Heiligen Geist betrübt und den Herrn Jesus Christus entehrt. Wenn das Gebet nicht erhört wird, wenn der Himmel wie Eisen erscheint, ist das ein ernster Hinweis auf einen falschen Seelenzustand und sollte zum Selbstgericht und zur Abkehr von jedem bösen Weg führen.
Weil dies nicht der Fall war, sank Juda sehr tief herab. Sie wurden zum Kehricht und zum Ekel gemacht inmitten der Völker. Alle unsere Feinde haben ihren Mund gegen uns aufgesperrt. Grauen und Grube sind über uns gekommen, Verwüstung und Zertrümmerung (3,45–47).
Es muss ein hartes Herz gewesen sein, das ihr Leid betrachten konnte, ohne tief berührt zu werden. Jeremia sagt:
Mit Wasserbächen rinnt mein Auge wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes. Mein Auge ergießt sich ruhelos, ohne Rast, bis der HERR vom Himmel herniederschaut und dareinsieht. Mein Auge schmerzt mich wegen aller Töchter meiner Stadt (3,48–51).
Es war der Kummer eines Mannes, der sich seiner Tränen nicht schämte, als sein Volk unter der züchtigenden Hand des HERRN stand. Es wäre in der Tat unerträglich gewesen, wenn er das alles ignoriert hätte.
Indem er sich mit den Irrenden identifizierte, fuhr er fort, für ihre Sache einzutreten und Vergeltung für ihre Verfolger zu beschwören. Er war wie ein Vogel, der von den Jägern ohne Grund gejagt wird. Er ignoriert dabei nicht die Gerechtigkeit Gottes, der sein Volk mit dem Gericht heimsucht. Dafür gab es genug Gründe. Aber die Unterdrückung Judas durch Babylon war vom Standpunkt der menschlichen Gerechtigkeit aus gesehen völlig ungerechtfertigt. Ihre Kriege wurden von der Gier nach Herrschaft und der Lust an Macht diktiert. Es kommt oft vor, dass Gott es zulässt, dass Leid über die Seinen als Erziehung kommt, die, was die eigentlichen Schwierigkeiten betrifft, nicht wirklich verdient war. Zum Beispiel kann ein Gläubiger zu Unrecht angeklagt werden und dadurch in große seelische Not kommen, während er sich die ganze Zeit darüber ärgert, dass er die grausame Anschuldigung nicht verdient hat, und er empfindet, dass er schlecht behandelt wird. Aber wenn man das richtig sieht, ist das nur eine Gelegenheit, an den Leiden Christi teilzuhaben. Denn wurde Er nicht „ohne Ursache“ gehasst (Joh 15,25), und erhoben sich nicht falsche Zeugen gegen Ihn? Solche Umstände, so schmerzlich sie auch für Fleisch und Blut sind, sind oft ein notwendiger Teil der Erziehung des Gläubigen. Und wenn wir uns zu der Zeit bewusst sind, dass wir im persönlichen Umgang mit Gott versagt haben, benutzt Er dies als Züchtigung, „damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden“ (Heb 12,10).
Wie einer, der in eine Grube geworfen und dem Tod überlassen wurde, ruft der Überrest den HERRN „aus der tiefsten Grube“ an, und der Glaube kann sagen:
Du hast meine Stimme gehört; verbirg dein Ohr nicht vor meinem Seufzen, meinem Schreien! Du hast dich genaht an dem Tag, als ich dich anrief; du sprachst: Fürchte dich nicht! (3,56.57).
Wie tröstlich ist das! Gott ist schnell bereit, auf den ersten Schrei einer aufgewühlten Seele zu antworten, wenn man mit aufrichtigem Herzen vor Ihn kommt. So feiern die folgenden Verse seine Antwort in der Stunde der Not. Er hat sich für die Sache der Seele seines Bedrängten eingesetzt. Er hat dessen Leben erlöst. Sein Auge hat all das Unrecht gesehen, und voller Vertrauen wird Er angefleht, die Sache zu richten (V. 58.59). Seinem mitfühlenden Ohr wird die Geschichte von der Herzlosigkeit des Feindes erzählt, und Ihm wird der ganze Fall übergeben. Es wird auch die Vergeltung für den Unterdrücker gefordert, was, wie wir bereits gesehen haben, nicht dem Geist der christlichen Haushaltung der Gnade entspricht, sondern dem des Gesetzes, in dem der Grundsatz „Auge um Auge“ vorherrschte (V. 60–66). Für uns, die wir in der Gnadenzeit leben, lautet die Anweisung unseres Herrn: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44), so wie Er, der Herr aller, beten konnte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).
Die Gnade regiert; und da wir durch die Gnade aufgenommen wurden, sind wir dafür verantwortlich, anderen dieselbe Gnade zu erweisen. Aber was wir hier haben, entsprach ganz dem Gesetz, und es wird noch eine passende Sprache im Mund eines anderen Überrestes sein, nämlich in der Zeit der Drangsal Jakobs (Jer 30,7), dessen irdische Befreiung nur durch das Gericht über seine Feinde erfolgen kann.