Schriften von Henry Allan Ironside
Kla 1-5 - Du HERR, bleibst für immer
Kla 2 - Der Tag des Zorns des HERRNKla 2 - Der Tag des Zorns des HERRN
In Kapitel 2 geht es um die Stadt Jerusalem in einem ganz besonderen Sinn. Diese Stadt, die einst als Wohnsitz des großen Königs berühmt war, war nun ein Trümmerhaufen aus geschwärzten Ruinen. Es wird durchweg anerkannt, dass nicht ein äußerer Feind aus eigenem Antrieb handelte, sondern der HERR selbst, der so lange inmitten der Stadt gewohnt hatte, gab sie der Zerstörung preis.
Das macht der erste Vers bereits deutlich:
Wie umwölkt der Herr in seinem Zorn die Tochter Zion! Er hat die Herrlichkeit Israels vom Himmel zur Erde geworfen und hat des Schemels seiner Füße nicht gedacht am Tag seines Zorns (2,1).
Es war ein trauriger Gedanke, dass die Stadt, die einst „die Heilige Stadt“ genannt wurde, so verkommen und abtrünnig geworden war, dass der HERR sie nicht mehr ertragen konnte. Es fällt jedoch auf, dass die Herrlichkeit Israels vom Himmel zur Erde (nicht zum Hades) geworfen wird, wie im Fall des bevorrechtigten Kapernaums (Mt 11,23). Dort hatte der Herr Jesus viele mächtige Taten vollbracht und ein Zeugnis abgelegt, das alles übertraf, was das alte Jerusalem zu hören bekam. Aber Er und seine Worte waren völlig abgelehnt worden. Deshalb sollte Kapernaum, das „bis zum Himmel erhöht worden“ war, „zum Hades ... hinabgestoßen werden“.
Ihre Zeit war für immer vorbei. So war es nicht mit Jerusalem. Die Stadt wurde „zur Erde geworfen“ und wie eine Stadt der Nationen behandelt. Von den Heiden zertreten, ist sie dennoch dazu bestimmt, einen Platz der Herrlichkeit einzunehmen, wie sie ihn in der Vergangenheit nicht kannte. Sie muss durch Widrigkeiten gezüchtigt werden, aber sie ist nicht auf ewig verlassen. In seinem Zorn über den Götzendienst hatte der HERR alle Wohnstätten Jakobs vernichtet (V. 2a), ohne sich ihrer zu erbarmen, weil ihr Herz so verhärtet war.
Er hatte „in seinem Grimm niedergerissen die Festung der Tochter Juda“ (V. 2b), sie zu Boden gestürzt und das Königtum und die Fürsten entweiht. Das alles geschah wegen ihrer Sünde. Er liebte sie aufrichtig, konnte aber nicht zulassen, dass sie in einem so furchtbaren moralischen Zustand in Frieden leben konnte. Deshalb hatte Er „in seiner Zornglut“ jedes Horn Israels abgeschlagen und seine Rechte vor dem Feind zurückgezogen (V. 2.3).
Dreimal wird in den Versen 4 und 5 gesagt, dass Er so gehandelt hat, als wäre Er ihr Feind: Erstens lesen wir: „Seinen Bogen hat er gespannt“. Zweitens: „Hat mit seiner Rechten sich hingestellt wie ein Gegner“, und drittens: „Der HERR ist wie ein Feind geworden.“ Aber es ist gut, die einschränkenden Ausdrücke „wie“ und „als“ zu beachten. Ein Feind war Er nie, obwohl ihr Verhalten Ihn zwang, so zu handeln, als ob Er es wäre. Wie viele Christen haben Ihn auf ähnliche Weise kennengelernt! Wie oft schien Er ein Feind zu sein! Aber der Glaube blickt über alles hinaus, was das Auge sehen kann, und weiß, dass Er in seiner Liebe und Zärtlichkeit unverändert ist. Es ist die Sünde in seinen Kindern, die in die Gemeinschaft eingedrungen ist, an der Er sie gern teilhaben lassen wollte. Er ist „zu rein von Augen, um Böses zu sehen“ (Hab 1,13). Er wird zwar nie einen seiner Erlösten aufgeben, aber Er wird auch nicht dulden, dass einer von ihnen einen leichtfertigen Lebenswandel führt und eine ungezügelte Zunge hat, nur weil Er sie gerettet hat. Das Gegenteil ist der Fall, denn „wen der HERR liebt, den züchtigt er; er geißelt aber jeden Sohn, den er aufnimmt“ (Heb 12,6). Das war die Lektion, die der Überrest Judas lernen musste, so bitter sie auch gewesen sein muss.
In Vers 6 heißt es: „Und er hat sein Gehege zerwühlt“. In Psalm 80 finden wir denselben Vergleich. Israel wird mit einem Weinstock verglichen, der aus Ägypten herausgeführt und in ein Land gepflanzt wurde, aus dem die Heiden vertrieben worden waren. Eingehegt und gepflegt vom göttlichen Gärtner, hätte es für sich selbst Früchte tragen sollen, aber wir kennen sein Urteil (Jes 5,1-7): „Aber er brachte schlechte Beeren“. Deshalb lässt Er es zu, dass es von den Heiden überrannt wird, wie wir in Psalm 80,13-17 lesen: „Warum hast du seine Mauern niedergerissen, so dass ihn alle berupfen, die auf dem Weg vorübergehen? Es zerwühlt ihn der Eber aus dem Wald, und das Wild des Feldes weidet ihn ab. Gott der Heerscharen, kehre doch wieder! Schau vom Himmel und sieh, und nimm dich dieses Weinstocks an und des Setzlings, den deine Rechte gepflanzt hatte, und des Reises, das du dir gestärkt hattest! Er ist mit Feuer verbrannt, er ist abgeschnitten; vor dem Schelten deines Angesichts kommen sie um.“ Es ist derselbe Gedanke, der hier zum Ausdruck gebracht wird: Die Einfriedung, die früher den Garten des HERRN von den Heiden ringsum abgetrennt hatte, wurde vom HERRN selbst niedergerissen und „die Versammlungsstätten“ (Ps 74,8) verbrannt, so dass die feierlichen Feste und Sabbate in Zion aufhören mussten.
Seinen Altar hatte Er verworfen und sein Heiligtum verabscheut, indem Er zuließ, dass Unreine es verunreinigten, weil sein Volk untreu war. Die Mauern der Stadt mit ihren Toren und Riegeln waren dem Erdboden gleichgemacht; der König und die Fürsten waren unter den Heiden gefangen; das Gesetz selbst, das so lange verachtet worden war, gab es nicht mehr, und die Propheten, denen man jahrelang das Ohr verschlossen hatte, hatten keine Vision vom HERRN mehr. Die Ältesten Zions waren in Sacktuch gehüllt und saßen auf der Erde, Staub auf ihren Häuptern, in sprachlosem Kummer, als sie die Verwüstungen von allen Seiten sahen (V. 7–10). Es war ein völliges und überwältigendes Verderben, das der HERR herbeigeführt hatte, weil sie sein Wort missachtet hatten und auf den Wegen der Heiden wandelten.
In tiefen Tönen des Wehklagens weint Jeremia:
Durch Tränen vergehen meine Augen, meine Eingeweide wallen, meine Leber hat sich zur Erde ergossen: wegen der Zertrümmerung der Tochter meines Volkes, weil Kind und Säugling auf den Straßen der Stadt verschmachten. Zu ihren Müttern sagen sie: „Wo ist Korn und Wein?“, während sie wie tödlich Verwundete hinschmachten auf den Straßen der Stadt, indem ihre Seele sich in den Busen ihrer Mütter ergießt (2,11.12).
Nur in der Gemeinschaft mit Gott findet sein Volk Frieden und Überfluss. Wenn es sich von Ihm entfernt, sind Unruhe und Hunger die Folge. Ist das nicht der Grund, warum es heute in den Versammlungen der Heiligen Gottes so viele ohnmächtige Säuglinge und ohnmächtige Kinder gibt? Sicherlich ist es an der Zeit, unsere Wege zu überdenken und sich wieder dem HERRN zuzuwenden. Etwas ist grundlegend falsch, wenn die Versammlung der Gläubigen keine Kinderstube ist, in der Säuglinge in Christus die nötige Nahrung und Hilfe für ihre Auferbauung und Festigung in den Dingen Gottes erhalten. Wenn dies nicht der Fall ist, deutet das auf einen gefallenen Zustand und ein gefallenes Zeugnis hin.
Zion war wie von den Wogen des Meeres überflutet worden, so dass es menschlich gesprochen keine Heilung ihrer Brüche gab (V. 13). Ihre Propheten hatten eitle und törichte Dinge für sie gesehen (wie im Fall von Hananja, der in Jeremia 28 erwähnt wird), die beruhigende Dinge prophezeiten, aber ihre Ungerechtigkeit nicht aufdeckten. Wahren Frieden konnte es nicht geben, solange die Sünde nicht verurteilt war (V. 14). So wurde Jerusalem zum Spielball der Vorübergehenden, die spöttisch fragten: „Ist das die Stadt, von der man sprach: Der Schönheit Vollendung, eine Freude der ganzen Erde?“ (V. 15). Diese beiden Titel werden in den Psalmen auf sie angewandt: der erste in Psalm 50,2, der zweite in Psalm 48,3.
Ihre Feinde freuten sich über ihren Untergang und rühmten sich, sie „verschlungen“ zu haben. Das hatten sie schon lange gewollt und schrieben es nun ihrer eigenen Stärke zu, da sie nichts von dem Streit des HERRN mit ihr wussten (V. 16). Es war nicht die Macht ihrer Waffen, die sie dazu gebracht hatte, über sie zu triumphieren. Ihr missachteter HERR hatte nur getan, was Er angekündigt hatte; Er hatte sein Wort erfüllt, das Er in den Tagen Moses gegeben hatte (V. 17). Deshalb wendet sich der Überrest an Ihn, schreit in der Bitterkeit seiner Seele zu Ihm und gönnt sich weder Tag noch Nacht Ruhe, sondern erhebt unaufhörlich die Hände zu Ihm für das Leben seiner ohnmächtigen Kinder (V. 18.19). Das war so, wie es sein sollte, und sprach für eine Umkehr des Herzens zu ihrem Gott. Die letzten drei Verse (V. 20–22) bilden ein Gebet und schildern ihre bedauernswerte Lage „am Tag des Zorns des HERRN“. Er hatte gesagt: „... und rufe mich an am Tag der Bedrängnis: Ich will dich erretten, und du wirst mich verherrlichen!“ (Ps 50,15). Deshalb wenden sie sich an Ihn, beklagen ihr Elend, das Ergebnis ihrer eigenen bösen Taten, und bitten um seine Gunst. Sie werden noch erfahren, dass sein Ohr nicht taub und sein Auge nicht blind für ihr Elend ist.