Behandelter Abschnitt Hes 1,1-3
Einleitung
Von allen prophetischen Büchern ist das Buch Hesekiel am meisten vernachlässigt worden. Viele sind von der wunderbaren Vision des ersten Kapitels abgeschreckt und lesen nicht weiter, weil sie das Buch für zu schwer verständlich halten. So entgeht ihnen der Segen, den sie sonst erhalten würden, wenn sie das gesamte Buch sorgfältig studieren würden, und zwar in Abhängigkeit vom Heiligen Geist als Lehrer, der den Propheten zu diesem Buch inspiriert hat (2Pet 1,21). Doch für den, der das Buch andächtig liest und erforscht, ist es eigentlich nicht weiter schwierig. Wenn er Schrift mit Schrift sorgfältig miteinander vergleicht, können eventuell auftretende Schwierigkeiten überwunden werden. Auf diese Weise kann man sich vor einer eigenwilligen Auslegung bewahren, die nicht mit dem Rest des offenbarten Wortes Gottes harmoniert.
Dr. Andrew Bonar (1810–1892), einer der berühmten schottischen Bibellehrer vergangener Tage, wollte seine Zuhörer zu einem sorgfältigen Studium aller Bibelbücher anregen. Dazu schlug er ihnen vor, sich vorzustellen, in der goldenen Stadt einem wunderbaren Wesen zu begegnen, das sie als den Propheten Hesekiel erkennen würden. Dr. Bonar hörte den Neuankömmling im Paradies gleichsam ausrufen: „Hesekiel, wie froh bin ich, dich zu treffen! Das ist ein wunderbares Vorrecht!“ Daraufhin ließ Dr. Bonar den Propheten antworten: „Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Ich sehe, du kennst meinen Namen. Wie hat dir das Buch gefallen, das ich geschrieben habe?“ Weil der Neuankömmling sich nie ernsthaft mit diesem Teil der Heiligen Schrift auseinandergesetzt hatte, war er um eine Antwort sehr verlegen. Dann wurde das Thema auf eine Weise erläutert, dass in den Köpfen und Herzen seiner Zuhörer der Wunsch geweckt wurde, sich mit diesem bedeutenden Werk gründlich vertraut zu machen.
Hesekiel vertritt in erster Linie den Gedanken, dass Gott regiert. In seinem ganzen Buch betont er, dass Gott über allem steht, seine Pläne umsetzt und seine Beschlüsse ausführt – trotz der Bemühungen Satans, die Absichten Gottes zu vereiteln. Der Teufel ist zwar „der Gott dieser Welt {oder: dieses Zeitlaufs, dieses Zeitalters}“ (2Kor 4,4) und der Fürst dieses gegenwärtigen Weltsystems, aber über allem steht der Thron der ewigen Majestät. Gottes Wege sind nicht zu ergründen, doch Er lenkt die Geschicke Israels und der Völker und „wirkt alles nach dem Rat seines Willens“ (Eph 1,11).
Das Buch lässt sich in vier Teile gliedern:
Teil 1 – Hesekiel 1 bis 24: Prophezeiungen, die sich auf Israel beziehen und angesichts des drohenden Gerichts zur Buße aufrufen, die alle vor dem Fall Jerusalems ausgesprochen wurden
Teil 2 – Hesekiel 25 bis 32: Prophezeiungen, die sich auf sieben Nationen beziehen, mit denen Israel enge Beziehungen hatte oder eine Vorhersehung verbindet
Teil 3 – Hesekiel 33 bis 39: Der moralische Zustand Israels und die Verheißung einer zukünftigen Wiederherstellung zu Gott und zu ihrem Land
Teil 4 – Hesekiel 40 bis 48: ein großartiges endzeitliches Bild der kommenden Herrlichkeit, wenn es wieder einmal von Jerusalem heißen wird: „Der HERR ist hier“ (Hes 48,35).
Hesekiel war priesterlicher Abstammung, wurde aber wahrscheinlich in die Gefangenschaft verschleppt (zur Zeit Jojakins), bevor er sein Amt als Priester antrat. Er war ein Zeitgenosse Daniels, der früher in Gefangenschaft geriet, und zwar während der Regierungszeit Jojakims. Sein Amt erstreckt sich über einen Zeitraum von etwa einundzwanzig Jahren, von 595 bis 574 v.Chr. Über sein frühes Leben wissen wir nichts, und von seinem Leben in der Gefangenschaft sind nur die Ereignisse bekannt, die in seinem Buch geschildert werden. Der Bericht über den Tod seiner Frau ist sehr ergreifend. Sein ganzes Verhalten zeugt von einem Mann, der dem Willen Gottes unterworfen und dennoch entschlossen war, so dass er entschieden für die Wahrheit eintrat und gegen die Ungerechtigkeiten seines Volkes Zeugnis ablegte, egal, wie groß der Widerstand war.
Zwischen diesem Buch und der Offenbarung besteht eine sehr eindeutige und enge Verbindung. Die lebendigen Wesen in Hesekiels Visionen und in der Offenbarung sind eindeutig ein und dasselbe; und die abschließende Vision der wiederhergestellten irdischen Stadt und des Tempels entspricht der des Johannes über die himmlische Stadt, in der kein Tempel zu sehen ist, weil das Ganze ein einziges großes Heiligtum ist, in dem die Erlösten in ungetrübtem Licht in der Gegenwart Gottes und des Lammes wohnen werden. Der aufmerksame Leser, der mit Ehrfurcht und im Vertrauen auf den Heiligen Geist liest, wird noch viele andere Ähnlichkeiten und Gegensätze entdecken.
Das Thema der göttlichen Regierung wird oft von denen aus den Augen verloren, die nicht erkennen, dass Gnade die Regierung nicht aufhebt oder beiseiteschiebt. Gott hat seinen Thron als oberster Herrscher über die Völker nicht geräumt, und für Völker wie für Einzelne gilt immer noch: Was man sät, wird man auch ernten. Dies ist der Hintergrund für eine wahre Geschichtsphilosophie und erklärt vieles, was in unserer Zeit unter den Völkern vor sich geht. Zu all dem gibt uns Hesekiel den Schlüssel.
Kapitel 1
Die Vision des Gotteswagens
Hes 1,1-3: 1 Und es geschah im dreißigsten Jahr, im vierten Monat, am Fünften des Monats, als ich inmitten der Weggeführten am Fluss Kebar war, da öffneten sich die Himmel, und ich sah Gesichte Gottes. 2 Am Fünften des Monats, das war das fünfte Jahr der Wegführung des Königs Jojakin, 3 erging das Wort des HERRN ausdrücklich an Hesekiel, den Sohn Busis, den Priester, im Land der Chaldäer, am Fluss Kebar; und dort kam die Hand des HERRN über ihn.
Das Buch beginnt sehr abrupt mit der Erklärung, dass der Prophet im dreißigsten Jahr Visionen von Gott sah. Die Gelehrten sind sich nicht einig, auf welches dreißigste Jahr sich das Buch bezieht. Einige halten es für das dreißigste Jahr der Dynastie von Nabopolassar, dem Vater von Nebukadnezar, der das Babylonische Reich gründete. Andere halten es für das dreißigste Lebensjahr Hesekiels, das Jahr, in dem er sein Amt als Priester angetreten hätte, wenn die Dinge in Ordnung gewesen wären und er sich im Land Israel aufgehalten hätte. In jedem Fall wird die Tatsache seiner Berufung in das prophetische Amt nicht in Frage gestellt. Nach den ersten Siegen Nebukadnezars und der zweiten Deportation der Gefangenen nach Chaldäa wurde er von Gott dazu berufen, ein Zeuge für Israel und Juda zu sein. Er wohnte unter ihnen am Fluss Kebar. Ihm wurde der Himmel geöffnet und er hatte Visionen von Gott. Zwar besteht eine enge Verbindung zwischen der Prophezeiung Daniels, der über die Zeit der Nationen schrieb, und der Prophezeiung Hesekiels, der sich mit der Regierung Gottes inmitten der oder über die Nationen befasste, doch wurde gerade ihm der Himmel geöffnet. Er konnte gleichsam in den Thronsaal des Allmächtigen blicken und verstehen, wie die Angelegenheiten der Menschen und der Völker von dem regiert wurden, der in Ehrfurcht gebieten und erhabener Majestät auf diesem Thron saß.
Fünf Jahre nach der Wegführung des gottlosen Königs Jojakin und im fünften Monat dieses Jahres wurde Hesekiel in sein hohes Amt als Prophet des HERRN für das Volk in der Gefangenschaft berufen. Er war der Sohn des Busi, eines Priesters, über dessen Werdegang wir aber nichts erfahren. Seine Weihe wird mit den Worten ausgedrückt: „Dort kam die Hand des HERRN über ihn“ (Hes 1,3). Wie segensreich ist es, wenn die Hände des Herrn auf einen Menschen gelegt werden und man auf diese Weise göttlich berufen wird, Gott in einer Welt zu repräsentieren, die sich von Ihm abgewandt hat. Glücklich ist, wer heute in Wahrheit sagen kann:
Christus, der Sohn Gottes, hat mich gesandt durch die mitternächtlichen Länder; mein ist die mächtige Weihe der durchbohrten Hände.1
Ob man nun offiziell von seinen Brüdern oder von einer maßgeblichen Stelle in der Amtskirche empfohlen wird oder nicht, das Wichtigste ist, dass man von Gott für den Dienst in heiligen Dingen bestimmt ist.