Einleitung
Von dem Propheten, mit dessen Buch wir uns nun beschäftigen, kennen wir nur wenige Umstände, keine außer den spärlichen persönlichen Angaben, die er im Verlauf seiner Prophezeiungen macht, die mit ihnen verbunden sind und ihren Charakter ausdrücken. Wir erfahren, dass er ein Priester war, ein Sohn Busis; auch von seiner Frau und ihrem plötzlichen Tod, einem Zeichen für Israel; und von seinem Wohnsitz in Tel-Abib am Kebar im Land der Chaldäer. Er spricht von Daniel, seinem Zeitgenossen, der zu seiner Zeit berühmt war für seine Gerechtigkeit, wie Noah und Hiob.1
Aber es gibt keine Schriften in der Bibel, die charakteristischer sind, und keine, die mehr Bilder für das letzte Buch des Neuen Testaments liefern, die breiteste und tiefste aller Prophezeiungen. Hesekiel und Jeremia zusammen mit Daniel sind die Propheten der Zeit der Gefangenschaft, nicht ohne Berührungspunkte und die sichersten Elemente des Mitempfindens, aber so unterschiedlich in ihrem Ton und Stil und ihren Zielen, wie sie in ihrem äußeren Los waren, und in den Umständen, die Gott benutzte, um ihren Vorhersagen Form zu geben. Es war die Aufgabe Jeremias, mit den Armen im Land zurückgelassen zu werden, und danach mit denen weggeführt zu werden, die treulos nach Ägypten geflohen waren, um dort eine Sicherheit zu finden, die sie in der Unterwerfung unter ihren babylonischen Herrn hätten genießen können; und so weinte und seufzte er bis zuletzt mit dem geliebten, aber unwürdigen Überrest. Daniel wurde im dritten Jahr Jojakims gefangengenommen, als Nebukadnezar die feierliche Warnung an Hiskia bestätigte (Jes 39,7); obwohl Gott sich in Babylon nicht ohne Zeugnis ließ und zeigte, wo die Weisheit und sein Geheimnis allein lagen, sogar als er die heidnischen Reiche aufgerichtet und sein Volk zu Lo-Ammi gemacht hatte. Hesekiel war einer von denen, die in der darauffolgenden Regierungszeit2 Jojakins, des Sohnes Jojakims, in die Gefangenschaft geführt wurden, als der König von Babel alle Besseren aus dem Land hinwegfegte, und unseren Propheten unter den übrigen. Es blieb nur noch eine Stufe tiefer, die verhängnisvolle Herrschaft Zedekias, dass der Zorn des Herrn sie alle aus seiner Gegenwart vertreiben konnte, wegen mannigfacher Provokation und unheilbarer Rebellion. In Anbetracht dieser Zeit, obwohl er auch die Zeiten der Nationen überspringt, von denen Daniel handelt, und reichlich auf die Wiederherstellung Israels am Ende eingeht, prophezeite Hesekiel unter den Gefangenen in Chaldäa.
Die heilige Energie, der entrüstete Eifer für Gott und die moralische Autorität des Propheten bei der Zurechtweisung Israels sind deutlich zu sehen. Wie im majestätischen Wagen der Herrlichkeit des Herrn, den er mit der unwiderstehlichen Kraft seiner Räder unten und Flügel oben beschreibt, vom Geist geführt, schmeichelt er dem Volk nirgends, sondern erteilt selbst in der Gefangenschaft die strengste Zurechtweisung der noch nicht bereuten Sünden, die Israel so tief hinabsinken ließen. Auf der Rolle, die vor ihm ausgebreitet wurde und die er aß, standen innen und außen Klagen und Jammer und Wehe geschrieben; und der Prophet sollte dem rebellischen Volk alle Worte des Herrn mit seiner Stirn sagen, die wie ein Diamant gemacht war, härter als Feuerstein. Er, und nur er, außer Daniel, wird den Titel Menschensohn tragen, ausgenommen natürlich der Meister, aber der niedrigste aller Diener, dessen es war, sich jeden Titel der Schande, des Leidens und der Verwerfung anzueignen, bis der Tag kommt, an dem auch sie mit Ihm in Herrlichkeit offenbart werden.
Diejenigen, die sich mit dem äußeren Rahmen der Wahrheit beschäftigen, haben nicht versäumt, den starken Sinn für Reines und Unreines, für levitische Heiligkeit, für Tempelgeräte, für Feste und Priester und Opfer zu bemerken, der für jemanden aus der Familie der Priester so natürlich ist. Natürlich sind diese Merkmale offensichtlich und unbestreitbar; aber weit entfernt von einer starren Nachahmung des Pentateuch werden wir feststellen, dass Gott sein Recht geltend macht, an jenem Tag zu ändern, wegzulassen oder hinzuzufügen, wenn sein Mitprophet Jeremia ausdrücklich erklärt, dass der Herr einen neuen Bund mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda schließen wird, „nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand fasste, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen, diesen meinen Bund, den sie gebrochen haben; und doch hatte ich mich mit ihnen vermählt, spricht der Herr. Sondern dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schließen werde nach jenen Tagen, spricht der Herr: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben; und ich werde ihr Gott, und sie werden mein Volk sein. Und sie werden nicht mehr jeder seinen Nächsten und jeder seinen Bruder lehren und sprechen: ,Erkennt den Herrn!‘, denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht der Herr. Denn ich werde ihre Schuld vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken“ (Jer 31,31-34).
Zweifellos gilt dies inzwischen für die Christen, denn das Blut des neuen Bundes ist bereits vergossen und gehört uns durch den Glauben; aber es wird an jenem Tag durch göttliche Barmherzigkeit auf Israel und Juda als solche angewandt werden, wie die folgenden Verse von Jeremia sehr deutlich zeigen (V. 35–40).
Vergeblich argumentieren also die Rabbiner mit der Unveränderlichkeit des von Mose gegebenen Gesetzes: ihre eigenen Propheten widerlegen sie. Und so bekennt der berühmte D. Kimchi in seinem Kommentar zu unserem Propheten, wie auch Albo und Nachmanides gegen den absoluten Anspruch der Unveränderlichkeit. In der Tat widerlegt Albo ausdrücklich den gegenteiligen Gebrauch, den Maimonides von 5. Moe 12,22 macht, indem er zeigt, dass die eigentliche Bedeutung der Warnung Moses darin besteht, die Israeliten davon abzuhalten, sich willkürlich oder aus Eigenwillen anzumaßen, dem Gesetz etwas hinzuzufügen oder von ihm wegzunehmen.3 Keineswegs wollte Mose die Autorität eines Propheten in Abrede stellen, dies zu tun, besonders im Hinblick auf die gewaltige Veränderung, die durch die Gegenwart eines regierenden Messias und des neuen Bundes eingeführt werden sollte. Hesekiel sagt einige auffallend charakteristische Veränderungen voraus, wenn Israel wiederhergestellt wird und die Herrschaft Gottes wieder in Kraft ist, deren Einzelheiten im Lauf des Buches erscheinen werden.
Einige haben sich über die Unklarheit unseres Propheten beschwert. Aber es gibt wirklich keinen gerechten Grund, obwohl die Beschwerde mindestens so alt ist wie Hieronymus, der das Buch als „ein Labyrinth der Geheimnisse Gottes“ bezeichnet. Die angebliche Dunkelheit ist vor allem zwei Dingen geschuldet. Erstens: Wie könnte ein solches Thema wie die Darstellung der göttlichen Regierung einfach sein? Das muss, wenn es überhaupt geschieht, eine ungeheure Höhe, Tiefe und Breite umfassen; und wenn ein Symbol verwendet wird, muss es einen Umfang erfordern, der für die gewöhnlichen Anforderungen des Geschöpfes völlig untypisch ist. Zweitens hat die Masse der Menschen in der Christenheit seit Origenes das lasterhafte System der „spirituellen Alchemie“, wie Hooker es nennt, angenommen, das versucht, die jüdischen Hoffnungen in die Vorhersagen der eigentlichen christlichen Segnungen zu verwandeln. Kein Wunder, dass solche Menschen einen trüben Nebel über seinen Bildern finden. Wendet man seine Visionen richtig an, so wird man sie im Allgemeinen als bemerkenswert deutlich und voller Kraft finden. Es ist absurd, anzunehmen, dass Einzelheiten, die so minutiös und umständlich sind, nur literarisches Beiwerk sind.
Die Struktur des Buches ist offensichtlich. Die erste Hälfte besteht aus Prophezeiungen in strenger chronologischer Reihenfolge vor der endgültigen Zerstörung Jerusalems, als Zedekia die gerechte Strafe für seine Rebellion und seinen Meineid auf sich zog (Hes 1-34). Hesekiel zeigt unter herrlichen Symbolen, gefolgt von den deutlichsten Anklagen der Sünde, die Hoffnungslosigkeit jedes Versuchs, das babylonische Joch abzuschütteln, den Zedekia über Ägypten unternommen hatte. Aber nein; es war der Herr, der Jerusalem richtete, Er, der zwischen den Cherubim wohnte, auch wenn Er Nebukadnezar einsetzen konnte. Moralisch konnte es nicht anders sein. Der Untergang der Stadt, des Tempels, des Königs und des Volkes wird in dieser ersten Hälfte gezeigt. Der zweite Teil beginnt mit einer Art eingefügter Überleitung, in der er sieben Gerichtsobjekte unter den Völkern anprangert, die das Land umgeben oder in der Nähe sind, wobei er die Zeit vernachlässigt, in der diese Lasten überbracht wurden, und sie in moralischer Einheit gruppiert (Hes 25-32); danach kehrt der Prophet deutlich zu Israel zurück, eröffnet den individuellen Grund, auf dem Gott von nun an mit ihnen verfahren würde (Hes 32), prangert zuerst die schuldigen Hirten oder Fürsten an (Hes 34), und dann den Hass des Berges Seir (Hes 35), verspricht dann zuerst die moralische (Hes 36) und dann die gemeinschaftliche Wiederherstellung ganz Israels (Hes 37), den Sturz Gogs und all seiner Heere (Hes 38 und 39), und schließlich die Rückkehr der Herrlichkeit Gottes mit dem wiederhergestellten Heiligtum, dem Opferdienst und der Priesterschaft im Land, das nun wirklich heilig ist, sowie die Neuordnung der zwölfstämmigen Nationalität unter dem Fürsten; denn der Name der Stadt wird von jenem Tag an Jahwe-Schamma sein (Hes 40-48). Ob im Gericht oder im friedlichen Segen, es ist der Tag des Herrn für die Erde, keineswegs die vorausgesagte Glückseligkeit des Christentums, wie die Allegoristen lehren. Solche Lehren, ob der Kirchenväter oder puritanisch, sind irreführend und eine Täuschung. Diese Extreme treffen sich in dem gemeinsamen Irrtum, der Christus und der Versammlung die Antwort auf seine himmlische Herrlichkeit raubt, die der Heilige Geist jetzt hier auf der Erde wiederherstellen soll und die noch mehr, ja vollkommen genossen werden soll, wenn der Herr gekommen sein wird, um unsere Leiber zur Gleichförmigkeit seines Leibes verwandeln wird, um uns mit Ihm in der himmlischen Herrlichkeit jenes Tages erscheinen zu lassen.
Es ist bloße Unwissenheit und böswilliger Unglaube, dies als Judaismus zu bezeichnen. Denn davon kann keine Rede sein, wenn wir von den Zukunftsaussichten Israels nach den Propheten sprechen. Judaisieren bedeutet in Wirklichkeit, jüdische Elemente mit dem Evangelium zu vermischen und sie den Christen jetzt aufzuerlegen. Aber der eigentliche Punkt der Wahrheit, auf der man besteht, ist, dass die Christen, entrückt und verherrlicht mit Christus, dann von der Erde verschwunden sein werden. Folglich ist es das kommende Zeitalter und eine andere Berufung, wenn Israel in seinen eigenen Ölbaum eingepfropft werden wird (Röm 11). Die buchstäbliche Erfüllung ihrer Visionen zu erwarten, ist daher einfach der Glaube an die Propheten, nicht judaisierend, sondern vielmehr ein Hauptschutz dagegen. Denn wir werden so umso mehr davon abgehalten, ihre Hoffnungen mit den unseren zu vermischen, weil wir erwarten, dass sie sich für Israel erfüllen werden. Die Rückkehr aus Babylon entsprach in keiner Weise den abschließenden Prophezeiungen; aber das beweist nicht die Unvollkommenheit der Voraussagen Hesekiels, sondern dass seine herrlichen Voraussagen noch erfüllt werden müssen. Das „ganze Israel“ bleibt noch zu erfüllen, wenn der Erlöser nach Zion kommt. Hesekiel 20,33 steht damit vollkommen im Einklang; denn Jeremia und alle Propheten lehren das Gericht der Abtrünnigen und Rebellen. Henderson hat also nicht Recht, wenn er sagt, dass die Unterschiede zwischen dem alten Tempel und dem von Hesekiel beschriebenen nicht wesentlich sind. Sie beweisen im Gegenteil, dass wir entweder die Inspiration des Propheten aufgeben oder behaupten müssen, dass er eine noch zukünftige Rückkehr mit einem neuen Tempel und einem veränderten Opferdienst, einer neuen Aufteilung des Landes unter den zwölf Stämmen, die wiederhergestellt und gesegnet sind, nachdem ihre letzten Feinde durch göttliche Gerichte vernichtet wurden, voraussagt. Niemand nimmt an, dass er aufhörte, ein Mensch zu sein, als er ein Prophet wurde; aber wir sind verpflichtet zu glauben, dass er inspiriert war, so dass seine Schriften uns Gottes Wort geben würden, und daher keine Mischung von Irrtum.
Kapitel 1
Die Umstände, unter denen Hesekiel berufen wurde zu prophezeien, waren neu und seltsam. Es war nicht in Juda, auch nicht in Israel, sondern unter den Gefangenen am Fluss Kebar. Daher gefiel es dem Herrn, sein Wort an ihn mit besonders anschaulichen Zeichen zu begleiten. Nur von ihm heißt es im Alten Testament, dass die Himmel sich öffneten und er Gesichte Gottes sah (V. 1). Aber das Öffnen der Himmel geschah zum Gericht über Israels Missetat, noch nicht zum Ausdruck der Freude des Vaters über den Sohn Gottes auf der Erde, noch weniger für den Christen zum Anblick des Sohnes des Menschen im Himmel.
Auch das fünfte Jahr der Gefangenschaft des Königs Jojakin ist nicht ohne besonderen Grund. Die im Land Zurückgebliebenen hatten reichlich Zeit, ihre vergeblichen Hoffnungen sowie ihre Aufsässigkeit und ihren Götzendienst zu bereuen. Sie hatten die Warnung ihrer Brüder aus dem Land entfernt: Hatten sie sie zu Herzen genommen? Zedekia „tat, was böse war in den Augen des Herrn, seines Gottes. Er demütigte sich nicht vor dem Propheten Jeremia, als er nach dem Befehl des Herrn redete. Und auch empörte er sich gegen den König Nebukadnezar, der ihn bei Gott hatte schwören lassen. Und er verhärtete seinen Nacken und verstockte sein Herz, so dass er nicht umkehrte zu dem Herrn, dem Gott Israels. Auch alle Obersten der Priester und das Volk häuften die Treulosigkeiten, nach allen Gräueln der Nationen, und verunreinigten das Haus des Herrn, das er in Jerusalem geheiligt hatte. Und der Herr, der Gott ihrer Väter, sandte zu ihnen durch seine Boten, früh sich aufmachend und sendend; denn er erbarmte sich seines Volkes und seiner Wohnung. Aber sie verspotteten die Boten Gottes und verachteten seine Worte und verhöhnten seine Propheten, bis der Grimm des Herrn gegen sein Volk stieg, dass keine Heilung mehr war“ (2Chr 36,12‒16).
1 Die Überlieferungen der Juden, dass Hesekiel ein Diener Jeremias oder sein Sohn war (der Busi mit J. identifiziert), scheinen unglaubwürdig zu sein. Sogar Josephus macht ihn zu jung, als er in Gefangenschaft war, denn im fünften Jahr beginnt er zu prophezeien.↩︎
2 Das dreißigste Jahr (Hes 1,1) hat die Gelehrten sehr verwirrt. Aber es scheint klar zu sein, dass der Ausgangspunkt die Ära von Nabopolassar, dem Vater von Nebukadnezar, ist, der König von Babylon wurde, 625 v. Chr., ungefähr zu dem Zeitpunkt, als Hilkija das Buch des Gesetzes im Tempel fand, das so segensreich für Josia und die Gerechten in Juda war. Auf letzteres wird in der chaldäischen Paraphrase von Jonathan ben Uzziel Bezug genommen.↩︎
3 Siehe besonders Sepher Ikkarim, S. iii. c. 16.↩︎