Behandelter Abschnitt Esra 9,1-3
Zersetzung durch Vermischung
Es gibt vielleicht keine größere Prüfung, der sich ein Mensch stellen muss, als durch Gnade eine Stellung zu vertreten, die er aus dem Wort Gottes als biblisch erkannt hat, und dann unsanft mit der Erkenntnis konfrontiert zu werden, dass die Menschen, die vor ihm dieselbe Stellung vertraten, nicht das sind, was er in ihnen zu finden gehofft hatte. Ja, dass sie sogar weniger geistlich, weniger hingebungsvoll, weniger eifrig für Gott sind als einige, die er in Systemen zurückgelassen hat, in denen quasi Dunkelheit herrschte. Dann muss man in der Tat von der Wahrheit fest ergriffen sein oder man ist geneigt, ganz überwältigt und völlig entmutigt zu werden. Manch eine labile Seele ist durch eine solche Prüfung völlig aus den Angeln gehoben worden. Solche Menschen kehren in ihrer Verzweiflung oft zu der unbiblischen Stellung zurück, die sie aufgegeben haben, und verbreiten ein schlechtes Zeugnis über das Land, wodurch sie andere davon abhalten, dem Licht zu folgen, das ihnen geschenkt ist. Einige, die zu große Gewissensbisse haben, um das, was sie zerstört haben, wiederaufzubauen, werden zu dem, was man geistliche Freigeister nennen könnte – und manchmal leider auch geistliche Ismaeliten, die ihre Hand gegen jeden Menschen und die Hand eines jeden Menschen gegen sie richten; sie kritisieren, suchen nach Fehlern, sind ruhelos und unglücklich, beschäftigen sich mit dem Bösen, beklagen die Zustände der Zeit, beklagen die Untreue aller und jedes Einzelnen, außer bei sich selbst, und verfallen so in einen Geist des Pharisäertums, der niemand nützt und für alle, mit denen sie in Berührung kommen, ein Hindernis darstellt.
All dies resultiert aus der Beschäftigung mit Personen statt mit Christus. Man nimmt an, dass Menschen, die in einer besonderen Gunst stehen und mit besonderer Erkenntnis gesegnet sind, persönlich verlässlicher sein müssten als die Allgemeinheit der Christen und dass das Fleisch in ihnen weniger wirksam wäre als in anderen. Oft hört man von Menschen, die „zu bestimmten Brüdern kommen“ oder sich dieser oder jener Gemeinschaft von Gläubigen „anschließen“. All das führt unweigerlich zu einer Katastrophe.
Allein zu Christus sind wir berufen, um hinaus „außerhalb des Lagers zu gehen und seine Schmach zu tragen“ (Heb 13,13). Er, gepriesen sei Gott, enttäuscht uns nie. Wenn das Auge auf Ihn gerichtet ist, wenn das Herz mit Ihm beschäftigt ist, wenn Er als das einzige Zentrum erkannt wird – dann kann es, wie auch immer der geistliche Zustand der Gläubigen sein mag, keine dauerhafte Enttäuschung geben, denn Christus bleibt.
Wenn ich sehe, dass es der Schrift entspricht, mich mit anderen Gläubigen zum Namen des Herrn Jesus zu versammeln, weil ich weiß, dass da „ein Leib und ein Geist“ ist, dann kann das Verhalten derer, die bereits so versammelt sind, die Wahrheit nicht einen Augenblick lang ändern. Vielmehr bedarf es einer Seelenübung meinerseits, damit ich ihnen eine Hilfe sein kann, indem ich sie zu neuer Hingabe und erneuertem Eifer im Selbstgericht aufrüttle.
Es ist viel einfacher, beiseitezutreten und auf den niedrigen Zustand der anderen hinzuweisen – sich sogar ganz aus ihrer Gesellschaft zurückzuziehen –, als einem Esra nachzueifern, der durch seine persönliche Treue die ganze Gesellschaft auf eine höhere Ebene hob. Es gibt weniger Ärger, weniger Verlegenheit, weniger Besorgnis, wenn man sich einfach abwendet und die anderen so weitermachen lässt, wie sie wollen; aber weder wird dadurch Gott verherrlicht noch werden fehlgeleitete Gläubige wiederhergestellt.
Die Stellung, sich in Einfachheit als Glieder des einen Leibes zum Namen des Herrn zu versammeln, ist keine, in der es keine Schwierigkeiten gibt, ganz im Gegenteil. Aber es ist ein Ort, an dem alle Schwierigkeiten beseitigt und jede Schwierigkeit allein durch das Wort Gottes gelöst werden kann; und das kann man von keiner Sekte in der Christenheit sagen. Dort verlässt man sich auf menschlichen Einfallsreichtum, auf von Menschen gemachte Vorschriften, auf fleischliche Gesetze und Verordnungen, um die Dinge in Ordnung zu halten und Streitigkeiten zu schlichten. Diejenigen aber, die sich im Glauben von all dem abwenden und sich allein auf Christus als Mittelpunkt und auf das Wort allein als Führer und Richtschnur berufen, finden das Wort völlig ausreichend, wenn man nur seinen Grundsätzen gehorcht. Von all dem liefern uns das vorliegende und das nachfolgende Kapitel eine höchst anschauliche Illustration.
Verse 1-3
Nach dem ersten Ausbruch von Lob und Anbetung kam für Esra das böse Erwachen, von dem ich oben gesprochen habe. Man kann sich die furchtbare Enttäuschung und den schmerzlichen Kummer vorstellen, die er empfand, als ihm die traurige Situation, die sich unter den abgesonderten Juden entwickelt hatte, offenbart wurde. Keine Beschreibung kann uns das lebendiger vor Augen führen als seine eigenen Worte.
Esra 9,1-3: 1 Und als dies ausgerichtet war, traten die Obersten zu mir und sprachen: Das Volk Israel und die Priester und die Leviten haben sich nicht von den Völkern der Länder, nach deren Gräueln, abgesondert, nämlich von den Kanaanitern, den Hethitern, den Perisitern, den Jebusitern, den Ammonitern, den Moabitern, den Ägyptern und den Amoritern; 2 denn sie haben von ihren Töchtern für sich und für ihre Söhne genommen, und so hat sich der heilige Same mit den Völkern der Länder vermischt; und die Hand der Obersten und der Vorsteher ist in dieser Treulosigkeit die erste gewesen. 3 Und als ich diese Sache hörte, zerriss ich mein Gewand und mein Oberkleid und raufte mir Haare meines Hauptes und meines Bartes aus und saß betäubt da.
Ergebener und treuer Verwalter Gottes! Wie sehr wird unser Herz von seinem bitteren Kummer bewegt, wenn er auf diese Weise den niedrigen Zustand des Volkes erkennt, das sich an dem einzig richtigen Ort befand. Könnte man sich wundern, wenn er sich schweren Herzens von ihnen allen abgewandt und in erhabener Abgeschiedenheit des Geistes versucht hätte, allein mit Gott weiterzugehen und jede Hoffnung auf ein gemeinsames Zeugnis aufgegeben hätte?
Doch das tut er nicht. Aus Treue zu Gott kann er nicht auf seine Stellung verzichten, denn er liebt das Volk des HERRN zu sehr, um es aufzugeben.
Eine Sache ist zunächst ermutigend. Zwar „war die Hand der Obersten und der Vorsteher in dieser Treulosigkeit die erste“ (Esra 9,2), aber es gab auch Fürsten, die offensichtlich nicht der Meinung der anderen waren, sondern „die vor den Worten des Gottes Israels zitterten wegen der Treulosigkeit der Weggeführten“ (Esra 9,4). Allein die Tatsache, dass diese Männer Esra aufsuchten, um ihm den tatsächlichen Stand der Dinge zu schildern, war ein Beweis für ihren Wunsch, den anderen zu helfen und sie zu befreien.
Es ist in der Tat bedauerlich, wenn unter den äußerlich Abgesonderten Verbindungen entstehen und aufrechterhalten werden, die die Unversehrtheit dieser Trennung leugnen. Und es ist unsagbar traurig, wenn gerade die Führer darin versagen und so die Einfältigen zur Abkehr von Gott ermutigen. Mehr als einmal haben wir gesehen, wie Menschen, die kein geistliches Joch mit Ungläubigen dulden würden, sich dennoch mit der Welt in Geschäften, sogar in Ehen und auf ähnliche Weise verbanden. Das ist ähnlich wie hier bei Esra.
Körperlich war das Volk aus Babylon ausgezogen, aber der Geist Babylons beherrschte es noch immer. Das führte dazu, dass es sich mit den unbeschnittenen Völkern des Landes vermischte. Der gleiche böse Grundsatz wirkt häufig in umgekehrter Weise. Oft sehen wir, dass diejenigen, die angeblich die Sünde des Sektierertums verurteilt und die menschlichen Systeme verlassen haben, dennoch einen ebenso sektiererischen Geist zeigen, als sie sich versammelten, wie nur jemand es hätte tun können, der für den starrsten Denominationalismus1 eintritt. Von Luther wird erzählt, dass er anfangs viel Zeit damit verbracht habe, katholische Gläubige anzuprangern, bis er erkannte, dass „jeder Mensch einen größeren Papst in seinem Herzen hat, als jemals auf dem päpstlichen Stuhl saß“. Dies ist die Frucht der Gesetzlichkeit; während das, was wir in unserem Kapitel haben, eher eine unheilige Lizenz ist: nämlich „die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung zu verkehren“ (Jud 1,4) – ein völliger Missbrauch dieser Gnade.
Esra zeigte alle Anzeichen tiefster seelischer Verzweiflung und setzte sich in bitterem Entsetzen nieder. Dass solche Dinge in Babylon üblich waren, hätte ihn nicht erstaunt. Dass sie unter denen geduldet wurden, die an dem Ort versammelt waren, an dem der HERR seinen Namen wohnen ließ, machte ihn sprachlos.