Einleitung
Jesaja prophezeite in Juda sowohl vor als auch während der Regierung des gottesfürchtigen Königs Hiskia, unter dessen Einfluss die Verhältnisse sich äußerlich zu bessern schienen. Doch hatte der Prophet das unter der Oberfläche verborgene Verderben bloßzulegen. In unseren Bibeln folgt seinem Buch das Buch Jeremia. Dieser Prophet wurde von Gott erweckt, um für Ihn in den letzten traurigen Tagen der Geschichte Judas zu reden, als sich die Entwicklung ohne Hoffnung auf Besserung verschlechterte und die Gerichtsschläge durch Nebukadnezar einsetzten.
Früher hatten die sieben Nationen Kanaans das Land bewohnt und schreckliche Sünden betrieben, so dass Gott durch Israel an ihnen Gericht übte und Josua befahl, sie zu vertilgen. Jetzt musste Jeremia ausrufen: „Entsetzliches und Schauderhaftes ist im Lande geschehen: Die Propheten weissagen falsch, und die Priester herrschen unter ihrer Leitung, und mein Volk liebt es so. Was werdet ihr aber tun am Ende von dem allen?“ Was Gott durch den babylonischen König „am Ende“ tat, das sah und erlebte Jeremia zu seiner großen Trauer. Uns mag eine Ahnung von der Tiefe seines Schmerzes aufgehen, wenn wir das Buch der Klagelieder lesen, das seiner ausführlichen Prophezeiung folgt.
Das Buch Hesekiels schließt sich an, der in den Tagen Jojakins unter vielen anderen in die Gefangenschaft geführt wurde, einige Jahre bevor der letzte Gerichtsschlag auf Zedekia fiel, von dem Jeremia geweissagt hatte. Im Land seiner Gefangenschaft schaute er in einer Vision die Herrlichkeit der Gegenwart Gottes, die sich aber von dem Tempel und der Stadt entfernte, und wenn Gott nicht mehr in ihr weilte, war alles verloren.
Doch ein jeder dieser drei Propheten prophezeite ein künftiges Eingreifen Gottes auf eine völlig neue Art. Jesaja sagte Dinge voraus, die absolut neu sein würden; er sprach sogar von einem „neuen Himmel und einer neuen Erde“; er kündigte eine zweifache Ankunft des Messias an, erstens als demütiger Knecht, der um der Sünde willen leiden würde, dann als der mächtige Arm des HERRN, der in Macht solche retten würde, die Er zuvor durch Sein Blut erlöst hatte.
Jeremia folgte und sagte voraus, dass die Erneuerung kommen würde, jedoch nicht gegründet auf den alten Gesetzesbund, sondern auf einen neuen Gnadenbund. Man möge die Verse Jeremia 31,31-34 lesen und beachten, wie es wieder und wieder heißt „Ich werde“ und nicht „Wenn ihr … werdet“ (2Mo 19,8). Bei diesem neuen Bund wird Gott nach Seinen eigenen Gedanken und Absichten in Gnade handeln, auf der Grundlage des Werkes Christi, wie Jesaja es entfaltet hat.
Hesekiel vervollständigt den prophetischen Umriss, der durch die drei Hauptpropheten gegeben wird. In Kapitel 36 spricht er im Voraus von der Neugeburt, die ein Überrest aus Israel erfahren wird, bevor sie in die Segnungen des Tausendjährigen Reiches eingehen, und im nächsten Kapitel spricht er davon, wie sie geistlicherweise lebendig gemacht werden und in eine neue Ordnung des Lebens eintreten.
Damit kommen wir zu Daniel, der von Gott gerade um die Zeit erweckt wurde, als „die Zeiten der Nationen“ (Lk 21,24) mit Nebukadnezar begannen. Er war von Gott befähigt, uns einen prophetischen Überblick über den Lauf dieser Zeiten zu geben, während deren der Messias „abgeschnitten“ werden würde. Deshalb sind dem Volk Trübsale bestimmt, jedoch mit der Hoffnung einer Errettung am Ende.
Nach einem einführenden Kapitel, das von der mutigen Haltung Daniels und seiner drei Genossen erzählt und auch von der Art, wie Gott sie dafür ehrte, besteht die Prophezeiung Daniels ganz einfach aus zwei Teilen. Von dem Zeitpunkt ab, wo die Chaldäer „zu dem König auf Aramäisch sprachen“ (Dan 2,4) wird bis zum Ende von Kapitel 7 diese Sprache der Heiden gebraucht, und erst mit Kapitel 8 wird Hebräisch wieder aufgenommen. So sind die historischen Einzelheiten und die Prophezeiungen, die sich auf die heidnischen Mächte beziehen, in heidnischer Sprache abgefasst. Dann werden in den fünf Kapiteln, die das Buch abschließen, dem Daniel Ereignisse offenbart, die hauptsächlich sein Volk angehen, obgleich auch auf Einzelheiten hinsichtlich der Nationen Bezug genommen wird.
Kapitel 1
Dreimal zogen Nebukadnezar und seine Knechte wider Jerusalem herauf, und diesen Angriffen unterlagen nacheinander die drei Könige Jojakim, Jojakin und Zedekia. Schon bei der ersten Gelegenheit wurden Daniel und seine drei Freunde zusammen mit einer Anzahl junger Männer von königlicher oder fürstlicher Abstammung gefangen weggeführt. Ihnen traute man außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten zu – als den an Weisheit und Verstand Besten der Nation. Der schlaue babylonische König suchte seine Machtstellung dadurch zu befestigen, dass er die klügsten Männer der eroberten Völker für sich in einem Heer von Zauberkundigen arbeiten ließ – Leuten, die mit dämonischen Mächten verkehrten und denen er Anleitung für ihre okkulten Praktiken gab.
So sollten Daniel und seine Freunde sich einem Ausbildungskurs unterziehen, der ihnen „Kenntnisse“ und „Weisheit“ vermitteln würde. Solche „Weisheit“ hatte zweifellos mit jenen „vorwitzigen Künsten“ zu tun, die in Apostelgeschichte 19,19 erwähnt werden und später auch in Ephesus praktiziert wurden. Wenn der große babylonische Monarch die Zahl der Leute vermehren konnte, die ihm übernatürliche Weisheit und Beratung verschaffen könnten, dann vermochte er dadurch seine Macht weiter zu erhöhen.
Deshalb wurde für sie in Essen und Trinken eine besondere Kur von der Tafel des Königs verordnet: das Beste des Landes, und zweifellos von einer Art, die mit götzendienerischen Riten in Verbindung stand. Und ferner hatten sie, veranlasst durch den Obersten der Kämmerer, ihren ursprünglichen Namen aufzugeben. Sie unterstanden einem neuen Besitzer, und das Zeichen dafür waren neue Namen, die ihren Ursprung und ihre Bedeutung vom Götzendienst her hatten. In einer solchen Stellung befanden sich nun Daniel und seine drei Freunde.
Indem wir zu Daniel 1,8 kommen, verhalten unsere Gedanken bei den Worten: „Aber Daniel nahm sich in seinem Herzen vor, sich … nicht zu verunreinigen.“ Wahrlich, ein denkwürdiger Entschluss! Hätte er ihn nicht gefasst, dann hätte kein Buch Daniel in unseren Bibeln seinen Platz gefunden. Beachte zuerst einmal, dass der Geist Gottes in dem Bericht seinen heidnischen Namen verleugnet und seinen ursprünglichen Namen benutzt, der „Gott ist Richter“ bedeutet. Offensichtlich lebte dieser Mann in dem Licht seines Namens, und so bemerken wir an zweiter Stelle, dass er den Vorsatz nicht im Kopf fasste, dem Sitz der Intelligenz, sondern vielmehr in seinem Herzen, dem Sitz der Zuneigung, die sich auf den Gott, dem er diente, richtete. Solcher Art ist ein Vorsatz, der feststeht und nicht wankt.
Beachte dann drittens, dass er entschlossen war, Verunreinigung zu meiden. Materiell gesehen, war die Speise ohne jeden Zweifel rein. Er dachte somit an eine geistliche Verunreinigung, da Babylon von Anfang an eine Brutstätte des Götzendienstes war. Seine drei Freunde werden in Vers 8 nicht erwähnt, doch wenn wir in Daniel 3,18 nachsehen, entdecken wir, dass sie in Gesinnung und Absicht völlig eins mit Daniel waren.
Lasst uns doch die Lektion, die uns hier begegnet, sehr ernst zu Herzen nehmen. Das Geheimnis von Daniels außergewöhnlicher Kraft war seine entschiedene Absonderung von der ihn umgebenden bösen Welt. Er kannte ihre verunreinigende Macht, und er wies sie ab. Etwa fünf Jahrhunderte nach ihm wurde ihr wahrer Charakter in dem Kreuz Christi völlig und endgültig bloßgestellt, wie der Herr es selbst sagte: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt“ (Joh 12,31). Wir leben jetzt im Licht dieser Tatsache, und wir wissen, dass sie von Satan als dem „Gott dieser Welt“ (2Kor 4,4) beherrscht wird. Deshalb ist eine entschlossene Trennung von der Welt ebenso notwendig für uns, wie sie für Daniel war.
Doch war er nicht nur fest in seinem Vorsatz, er verhielt sich auch weise und demütig dabei, als er die Sache bekannt gab. Gott hatte schon seinethalben gehandelt, indem er ihm die Gunst des Obersten der Kämmerer zuwandte und auch die Melzars, seines Untergebenen. Daniel vermied jede anmaßende oder hochmütige Sprache, vielmehr brachte er seinen Wunsch in der Form einer Bitte vor, dass er und seine Freunde einfache Kost für zehn Tage testweise bekommen möchten, um danach eine Entscheidung zu treffen. Gott war mit ihnen und fügte es, dass sie von der sonst unvermeidlichen Verunreinigung verschont blieben.
Von dieser Begebenheit lasst uns wieder lernen. Absonderung von Verunreinigung ist immer Gottes Pfad für seine Heiligen, aber wenn sie ihn gehen, hängt viel von dem Geist ab, in dem sie diese Absonderung auf sich nehmen. Tun sie es auf eine barsche, überhebliche Art statt in sanfter und demütiger Weise, dann hat ein Zeugnis für andere seine Kraft verloren. Wenn unser Geist etwa spürbar wird im Sinn der Worte „Bleibe für dich, komm mir nicht zu nah, ich bin heiliger als du“, dann ist er von dem Geist der Pharisäer in den Tagen des Herrn und wir würden das Böse unterstützen, von dem getrennt zu sein wir bekennen. Daniel und seine Freunde waren auf Absonderung bedacht und hielten sie aufrecht, aber in dem rechten Geist.
Infolgedessen war Gott mit ihnen, und das auf eine wahrlich bemerkenswerte Weise. Nicht nur waren sie im Aussehen besser und völliger an Fleisch, sondern sie übertrafen an Kenntnis, Geschicklichkeit, Gelehrsamkeit und Weisheit alle die anderen, die ihr Teil von der Tafel des Königs bekamen. Und was Daniel anging, so wurde ihm eine übernatürliche Befähigung in der Deutung von Visionen und Träumen verliehen, durch die Gott in jenen Tagen oft seine Absichten kundtat.
Bei der Prüfung vor Nebukadnezar war das Urteil klar. Die Wahrsager und Astrologen waren
Männer, die mit den Mächten der Finsternis verkehrten, um ein Wissen zu erlangen, das über die geistigen Kräfte gewöhnlicher Menschen hinausging, aber diese vier Männer waren von Gott belehrt und jenen „zehnmal“ überlegen. Darin liegt nichts Überraschendes. Dieselbe Sache begegnet uns in der Tat noch ausdrücklicher in 1. Korinther 2, wo wir lesen, dass die Fürsten dieses Zeitlaufs die Weisheit Gottes nicht erkannt haben, und zwar in vollem Maß, denn sonst „würden sie wohl den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben“. Wohingegen der einfachste Gläubige, in dem der Geist Gottes wohnt und der sich von diesem Geist leiten lässt, „alle Dinge“ beurteilt oder unterscheidet.
Bevor wir Kapitel 1 verlassen, möchten wir noch anmerken, dass die Frage von durch Götzendienst verunreinigten Speisen unter den frühen Christen in Korinth sehr akut war. Sie empfingen darüber Anweisungen des Apostels Paulus in seinem ersten Brief an sie (1Kor 8; 10,25-31). Fleisch, das auf dem Markt gekauft war oder im Haus einer befreundeten Familie angeboten wurde, konnten sie essen, ohne Fragen nach der Herkunft zu stellen. Aber wenn man sie ausdrücklich darauf hinwies, dass es Fleisch von Götzenopfern sei, dann sollten sie es nicht essen. So hielten sich die ersten Christen rein von götzendienerischen Berührungen, genau so wie es Daniel und seine Freunde taten.