Behandelter Abschnitt Rt 1,1-3
Dass das Buch Ruth am passendsten Ort steht, an dem es tatsächlich zu finden ist, muss jeder mit geistlicher Einsicht empfinden. In der Tat ist das für jeden aufmerksamen Leser der Schrift offensichtlich, denn durch äußere Merkmale gehört es eindeutig an den Ort, an dem Gott es uns vorgestellt hat. Was die Zeit dessen betrifft, was uns hier vor Augen geführt wird, so gehört es in die Tage der Richter, wie uns ausdrücklich gesagt wird, und lag somit eindeutig vor der gewaltigen Veränderung, die Gott mit Freuden herbeiführte und zu unserer Belehrung im ersten Buch Samuel aufgezeichnet hat. Nichtsdestoweniger unterscheidet sich sein Charakter deutlich von dem, den wir im Buch der Richter finden, so dass es niemanden zu wundern braucht, dass das, was wir hier finden, in einem eigenen Buch steht.
Es ist wahr, dass es eine alte Überlieferung gibt, das Buch Ruth habe sich früher an das erste Buch Samuel angeschlossen, aber ich bezweifle diese Tatsache sehr, da ich aus inneren Gründen davon überzeugt bin, dass es ein separates Buch bildet, ganz gleich, was dieses Irrlicht sagen mag. Wir können nämlich niemals den Überlieferungen von Menschen vertrauen, auch wenn sie natürlich gelegentlich mit der Wahrheit übereinstimmen mögen. Es gibt nichts Gewisseres, als dass Gott uns die Tendenz gezeigt hat, dass sogar die Apostel selbst versagten, wenn man sich auf die Überlieferung stützte; denn wir wissen von einer Überlieferung, die unter den Jüngern geläufig war, und auch diese nicht vor dem Tod des Herrn, sondern danach. Doch sogar diese, so kurz sie auch war und von mehreren Zeugen gehört wurde, hielten sie nicht unbefleckt. Denn in der Folge ging ein Bericht um, dass der Jünger, den der Herr liebte, nicht sterben würde. Der Herr aber hatte nichts dergleichen gesagt. So eindringlich warnt die Schrift nicht nur vor dem Prinzip, sondern auch vor der Tatsache. Es mag eine gewisse Schwierigkeit an der Oberfläche der ausgesprochenen Worte bestanden haben, nicht nur wegen der ungeheuren Tiefe dessen, was unter der Andeutung des Herrn lag, sondern weil Er es für angebracht hielt, sie in einer Form darzustellen, die sie zum Nachdenken über seine Worte anregte. Aber es scheint offensichtlich, dass Gott uns durch ein solches Beispiel die Wertlosigkeit sogar der primitiven Überlieferung lehrt; wie viel mehr von späteren Schreibern, die fast immer die gröbste Unfähigkeit zeigen, das klare geschriebene Wort Gottes zu verstehen! Zeige eine andere Überlieferung, die einen solchen Charakter hat wie diese. Und doch hat uns die Schrift selbst hier in der auffallendsten Weise die Warnung gegeben, dass wir auf keinen Fall der Überlieferung vertrauen sollen, sondern nur dem, was durch die Inspiration niedergeschrieben ist. Wenn sich nun herausstellt, dass es auch unter den Jüngern so war, so wagen wir gewiss nicht, den Juden zu vertrauen. Der Herr bediente sich ihrer, und wir haben allen Grund, Gott dafür zu danken, dass Er sich um das geschriebene Wort kümmert, obwohl es der Verantwortung des Menschen unterliegt.
Aber während es meiner Meinung nach keinen vernünftigen Zweifel daran geben kann, dass das Buch Ruth dem Buch Richter angemessen folgt, ist es, denke ich, für diejenigen, die ein wenig über die Sache nachdenken, ebenso klar, dass es angemessen ein Buch für sich selbst bildet, und zwar als natürliches und, man könnte sagen, notwendiges Vorspiel zu dem Buch, das folgt. Das heißt, wir haben es hier mit einer völlig anderen Wahrheitslinie zu tun; so sehr, dass es sich leicht als völlig unpassend erweisen könnte, die Geschichte von Ruth mit irgendetwas aus dem Buch der Richter zu verbinden. In der Tat, wenn es in diesem Teil der Schrift einen Gegensatz gibt, der, wie mir scheint, vollständig und klar definiert ist, dann ist es der zwischen dem wirklichen und eigentlichen Anhang des Buches der Richter (Kap. 17‒21) und diesem Buch Ruth, von dem uns Menschen und Traditionen sagen, dass es einst ein weiterer Anhang des Buches der Richter war. Wenn man sie sich so als ein Buch vorstellen kann, so war der eine gewiss der Anhang der schwersten Störungen, der andere der schönen Wege der göttlichen Gnade. Die eine zeigt alle Gesetzlosigkeit, als es nicht einmal einen Richter im Land gab, der sie in irgendetwas beschämen konnte; die andere gehört zu den schönsten Erzählungen echter Frömmigkeit, die Gott selbst uns gegeben hat, und dies nicht bloß in dem großmütigen Mann, der die Rolle des Lösers der Verwandten erfüllt, sondern auch in ihr, die in unaufdringlichem Glauben der Liebe nicht weniger als dem Glauben diente, wo man es am wenigsten erwarten konnte. So begegnet uns die Gnade Gottes im Buch Ruth, sie kleidet sich in ihre anziehendste Form und zeugt umso mehr von ihrer Kraft, wenn wir an die Menschen denken, in denen sie gewirkt hat, zumindest in der Person, deren Namen sie trägt.
Außerdem ist die Geschichte selbst von sehr großer Bedeutung, da sie den Weg nicht nur für David, sondern auch für seinen größeren Sohn bereitet. Dies verbindet sich jedoch keineswegs mit dem Buch der Richter, so bewundernswert es auch ist, wie Gott sie uns gegeben hat. Das Buch ist weder ein Teil des Buches Samuel auf der einen noch des Buches der Richter auf der anderen Seite, obwohl es moralisch eher ein Vorwort zu ersterem als eine Ergänzung zu letzterem ist. Es ist genau das, was Gott daraus gemacht hat, eine höchst passende Beschreibung des Übergangs zwischen den beiden, aber in der Tat ein Buch für sich selbst, dessen gnadenvolle Worte wir mit Freude ein wenig betrachten dürfen.
Was ist es, was wir hier finden? Es ist noch nicht der Tag des Königtums auf dem Thron des Herrn, auch nicht in irgendeiner unvollkommenen Form. Es ist auch nicht das, was wir gesehen haben – das Eingreifen der Gnade, um das Volk von Zeit zu Zeit aus der Unterdrückung zu befreien –, oft in unschönen Formen, was die eingesetzten Männer oder Maßnahmen betrifft. Und ich denke, dass jeder, der den Verlauf des Buches der Richter aufmerksam verfolgt hat, die Wahrheit erkannt haben muss, wenn er darauf hingewiesen wird, dass eine der besonderen Lehren dieses Buches darin besteht, dass, obwohl die göttliche Gnade in Macht wirkte, das menschliche Instrument mit einigen auffälligen Nachteilen behaftet war.
In dem Buch vor uns sehen wir, wie die Gnade so wirkt, dass sie Verheißungen zur Folge hat. Es gab Verderben in Israel; doch eine moabitische Fremde erregt unser Interesse und unsere Wertschätzung in besonderem Maß. Denn vor allem hatte sie Glauben. Es ist kein Nachteil, wo man viel hätte erwarten können, sondern eine moralische Schönheit, wo man nichts erwarten konnte. Gerade zu der Zeit, als selbst die Befreier, die Gott seinem armen Volk gab, an der völligen Schwäche und dem schmerzlichen Versagen teilhatten, die damals in Israel allgemein verbreitet waren, gefiel es Ihm andererseits, seine eigene Barmherzigkeit in einer Moabiterin zu verherrlichen. Zugegeben, sie war eine von denen, die nach dem Gesetz von der Gemeinde des Herrn ausgeschlossen waren (5Mo 23,4). Aber wenn das Gesetz gerecht und gut ist, ist die Gnade besser und das einzige Mittel, um die Schuldigen und Gefallenen vor dem Verderben zu retten. Wenn das Gesetz geeignet ist, den Menschen in seinem sündigen Selbstbewusstsein zu zerbrechen und bloßzustellen, so ist die Gnade Gottes das Geheimnis für die Verlorenen und Elenden, dass sie gesegnet und errettet werden. Dennoch, gerade weil die Gnade zu Gottes Liebe und Herrlichkeit passt, wie wunderbar passt sie zu uns, wenn wir zu Fall gebracht werden, um uns selbst zu misstrauen und ganz auf seinen Sohn zu vertrauen!
In dieser für den Glauben sehr anziehenden Form finden wir die Prinzipien der Gnade im ganzen Buch Ruth so vollständig wie nur möglich vorgestellt, auffallend in Ruth, wenn auch nicht ausschließlich in ihr. Selbst in jener Zeit, die für das Volk voller Sorgen und großer Demütigung war, war Ruth nicht allein. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir die Andeutungen des Wortes Gottes so einengen. Wir müssen Raum für das lassen, was dem Auge oder dem Ohr begegnet; und sicherlich wird der Tag zeigen, welche verborgenen Schönheiten es selbst in den dunkelsten Zeiten gab. Welche Fülle der Freude für unsere Herzen, wenn wir wissen, wie wir erkannt werden! Aber es ist eine Freude, die Hoffnung aufzunehmen und uns der Größe der Gnade jetzt sicher zu sein dürfen. Auch davon finden wir, wenn ich mich nicht sehr täusche, Spuren in der Lektüre des Buches Ruth.
Was ist also das große Ziel und der Gegenstand hier? Was scheint der Geist Gottes sich in diesem kurzen, aber bemerkenswert reizvollen Buch vorzustellen? Der Zustand des Volkes scheint eine große Bedrängnis gewesen zu sein. Es herrschte eine Hungersnot, wo sie am wenigsten zu spüren sein sollte, in dem Land, auf dem Gottes Augen ruhten; eine Hungersnot, die sicherlich nicht hätte sein können, wenn Israel sich nicht zutiefst von Gott entfernt hätte. Aber seine Barmherzigkeit würde sie benutzen, um die Herzen seines Volkes vor Ihm zu üben, sowohl im Selbstgericht, als auch im Blick auf Ihn selbst, dessen Gnade immer über allem Versagen steht. Es ist traurig, dass sie für ihre Sünden eingebracht wurde; aber zum Guten gewendet, wie Gott alles in seiner Gnade zu wenden weiß.
Und es geschah in den Tagen, als die Richter richteten, da entstand eine Hungersnot im Land. Und ein Mann von Bethlehem-Juda zog hin, um sich in den Gebieten von Moab aufzuhalten, er und seine Frau und seine beiden Söhne. Und der Name des Mannes war Elimelech, und der Name seiner Frau Noomi, und die Namen seiner beiden Söhne Machlon und Kiljon, Ephratiter aus Bethlehem-Juda. Und sie kamen in die Gebiete von Moab und blieben dort. Und Elimelech, der Mann Noomis, starb; und sie blieb mit ihren beiden Söhnen übrig (1,1‒3).
Es waren nicht nur Bedrängnisse und Unterdrückungen und Feinde, die die Menschen im Land bedrängten, wie wir sehen, dass dies im Buch der Richter durchweg und ohne Ausnahme der Anlass zur Befreiung war. Das ist hier der erste ausgesprochene Gegensatz zum Buch Ruth. Der Druck ist von solchem Charakter, zumindest von solcher Wirkung, dass dieser Israelit und seine Frau und Söhne außerhalb des Landes des Herrn gefunden werden. Auch der Name des Mannes scheint eindeutig bezeichnend zu sein: Elimelech: Mein Gott ist König. Und doch war er ein Ausgestoßener aus Mangel an Brot! Eine seltsame und schmerzliche Ausnahmesituation, dass es so kam; aber so war es. Wir brauchen uns auch nicht zu wundern, dass auf eine falsche Stellung Elimelechs die Heirat seiner Söhne mit den moabitischen Frauen folgt. Es wird nicht mehr gezeigt, dass Gott in besonderer Weise seinen Platz einnimmt und in der Mitte des Volkes wohnt, sondern es ist ein Ergebnis, das in seinem Volk und Land beklagt wird.
So führt uns Noomi den Zustand Israels vor Augen, der an einem anderen Tag in größerem Maß vorhanden sein wird, aber dann in einer kleinen Zusammenfassung deutlich genug gezeigt wird; das heißt, nicht nur die Feinde, die auf das Volk im Land losgelassen werden, sondern die Israeliten selbst werden durch schiere Not aus dem Land weggeführt. Es kann nicht geleugnet werden, dass dies ein neuer Charakter der Demütigung für Israel war – dass jemand, der besonders und öffentlich mit der Regierung Gottes über sein Volk und sein Land identifiziert wurde, gezwungen sein sollte, es zu verlassen, weil es dort kein Brot zu essen gab. Da Elimelech nun gestorben ist, ist alles Zeugnis, dass sie Gott hatten, um Israel zu regieren, soweit es ihn betraf, verloren. Noomi, die eigentlich eine huldvolle Frau hätte sein sollen, fand Bitterkeit, wie sie uns in ihrer Verlassenheit und Witwenschaft in einem fremden Land wissen lässt. Ein sehr anschauliches Bild für den Zustand, der Israel bald ereilen sollte! Und wie wir wissen, war dies ihr Anteil für mühevolle Jahrhunderte. Zweifellos trugen ihre Könige zu diesem Ergebnis bei; aber hier wird es am eindrucksvollsten vorhergesagt, bevor sie Könige hatten. Zu großen und letztlich gnädigen Zwecken wurde das Prinzip des Königtums erst später eingeführt; aber hier bereitet uns Gott auf das Ergebnis vor, wenn wir nur auf das untreue Volk schauen. Wo war der Glaube, die Gegenwart Gottes in Anspruch zu nehmen?