Behandelter Abschnitt Ruth 1,1-2
Einleitung
Ein besonderer Charme haftet der Geschichte Ruths an und macht dieses kurze Buch der Bibel selbst für gelegentliche Leser besonders attraktiv. Es ist eine Liebesgeschichte früherer Tage, in der Leid und Freude, Versagen und Hingabe, Leben und Tod miteinander vermischt sind und doch letztendlich zu dem Tag der Hochzeit und der Geburt des Erben hinführen. Der Schauplatz der Geschichte ist erholsam für den Geist, denn wir werden mitgenommen in ländliche Szenen und finden uns selbst in der Gesellschaft von Schnittern und Ährenlesern wieder.
Für den Christen, der diese heiligen Seiten mit Christus vor seinem Herzen liest, hat die Geschichte von Ruth allerdings eine tiefere und reichhaltigere Bedeutung, weil er darin, wie „in allen Schriften“, das erkennt, „was ihn betraf“ (Lk 24,27).
Historisch betrachtet, stellt das Buch Ruth wichtige Glieder im Stammbaum des Herrn Jesus dem Fleisch nach vor. Das Buch schließt mit einem kurzen Geschlechtsregister mit zehn Namen und endet mit David, dem König. Im ersten Kapitel des Neuen Testaments haben diese zehn Namen einen Ehrenplatz im Geschlechtsregister des Königs der Könige, mit dem Unterschied, dass der Geist Gottes in Verbindung mit diesen zehn Namen vier Frauen einführt, von denen eine Ruth die Moabiterin ist. Es ist bedeutsam, dass mit jeder dieser Frauen eine Geschichte des Versagens und der Schande verbunden ist, was einmal mehr deutlich macht, dass, „wo die Sünde überströmend geworden ist, die Gnade noch überreichlicher geworden ist“ (Röm 5,20).
Historisch gesehen ist das Buch Ruth also ein Dokument der Gnade Gottes, die, dreizehn Jahrhunderte bevor der König kam, die Linie bewahrte, durch die er kommen sollte. Und damit triumphierte sie über alles Versagen des Volkes und wird überreichlich, indem sie eine moabitische Fremde in die Linie des Königs hineinbringt.
Es war eine Zeit des Versagens und der Schwachheit im Volk Gottes, und doch wird deutlich, dass Gott, der sich durch all das Versagen nicht beirren ließ, seinen Weg verfolgte und seinen Vorsatz, seinen König einzusetzen, ausführte. Ja, noch mehr: Gott benutzte die Umstände dieser Zeit und sogar das Versagen des Volkes, um seine Absichten zustande zu bringen. Wer hätte gedacht, dass eine Hungersnot in Bethlehem irgendetwas mit der Geburt des Königs in Bethlehem dreizehn Jahrhunderte später zu tun hat? Doch es war so. Die Hungersnot war ein Glied in der Kette der Umstände, die Ruth die Moabiterin, in die Linie des Königs hineinbrachte.
Für uns, die wir in Tagen noch größeren Versagens und Schwachheit im Volk Gottes leben, ist es tröstlich für das Herz und beruhigend für den Geist, zu wissen, dass Gott, trotz allen Versagens des Menschen unter Verantwortung, zu allen Zeiten in Christus seine Absichten ausführt und ausgeführt hat zur Verherrlichung Christi und zum irdischen oder himmlischen Segen für sein Volk. Keine Macht des Feindes, keine Feindschaft der Welt, kein Versagen seines Volkes kann Gott daran hindern, seine Segensabsichten zu ihrer herrlichen Erfüllung zu bringen. Wie in der Geschichte Ruths alles der Vorbereitung des Tages der Hochzeit dient, so dient in Israel alles der Vorbereitung auf die Einsetzung ihrer Beziehung mit Christus, und so ist auch die Kirche auf dem Weg zu dem großen Tag der Hochzeit des Lammes.
Lehrmäßig stellt uns das Buch Ruth die Erfüllung aller Verheißungen Gottes in Verbindung mit Israel auf der Grundlage souveräner Gnade vor, nachdem das Volk jeden Anspruch auf Segen auf der Grundlage seiner Verantwortung verloren hat. Damit steht es im auffälligen Gegensatz zu dem vorhergehenden Buch. Das Buch der Richter stellt uns das ständig zunehmende Versagen des Menschen vor, das, trotz Gottes Eingreifen und Hilfe, in düsterster Finsternis und moralischer Entartung endet. Das Buch Ruth zeigt das Handeln der Gnade Gottes, das, trotz des Versagens des Menschen, in Freude und Segen endet.
Neben der historischen und lehrmäßigen Bedeutung ist das Buch Ruth jedoch auch voll von moralischen und geistlichen Belehrungen, durch die wir etwas von den treuen und gnädigen Wegen Gottes mit einer Seele kennen lernen, z. B. dass er uns aus der Finsternis unserer Herzen heraus in das Licht seiner Bestimmung für uns in Christus bringt oder dass wir seine wiederherstellende Gnade erfahren, wenn wir uns von ihm entfernt haben. Wenn wir ein wenig über diese bewegende Geschichte nachdenken wollen, dann hauptsächlich im Hinblick auf diese moralischen Belehrungen.
Ruth 1
Der traurige Zustand des Volkes Gottes
„Der Herr tut die Augen der Blinden auf, der Herr richtet die Niedergebeugten auf . . . der Herr bewahrt die Fremden, die Waise und die Witwe hält er aufrecht“ ( Ps 146,8-9). „Und es geschah in den Tagen, als die Richter richteten, da entstand eine Hungersnot im Land. Und ein Mann von Bethlehem-Juda zog hin, um sich in den Gebieten von Moab aufzuhalten, er und seine Frau und seine beiden Söhne“ (1,1).
Im ersten Vers des Buches Ruth lernen wir, dass es davon handelt, was in den Tagen geschah, „als die Richter richteten“. Im letzten Vers des vorhergehenden Buches lernen wir, dass die Tage der Richter von zwei Dingen gekennzeichnet waren (Ri 21,25):
Erstens war in diesen Tagen kein König in Israel.
Zweitens tat jeder, was recht war in seinen Augen.
Der Zustand eines Landes, das keinen König mehr hat, und damit eines Volkes, das kein leitendes Oberhaupt oder keine regierende Autorität mehr hat, ist in der Tat ernst. Wo das der Fall ist, wird die Folge sein, dass jeder tut, was recht ist in seinen Augen. Das Ende davon ist, dass gar nichts Rechtes mehr getan wird.
Der Verlust des Königtums beinhaltet das Aufkommen der Demokratie und führt letztlich zur Regierung des Eigenwillens, zur Ablehnung jeder Autorität und zur Nachsicht gegenüber jeder Art von Zügellosigkeit. In einen solchen Zustand war das Volk Gottes in den Tagen der Richter verfallen. In vielen Bereichen spiegelt dieser niedrige Zustand den Zustand in der Welt unserer Tage und unter dem bekennenden Volk Gottes unserer Tage wider.
Dieselben Prinzipien sind am Werk und produzieren dieselben Ergebnisse. Der Eigenwille des Menschen, der keine Beherrschung duldet, lehnt zunehmend Autorität ab. Das Königtum verliert an Bedeutung gegenüber dem Willen des Volkes; jeder versucht, das zu tun, was recht ist in seinen Augen. Demokratie schwächt Autorität in jedem Bereich des Lebens. Das Volk will anstelle des Königs und seiner Repräsentanten regieren: Menschen wollen anstelle von Herrschern und Kinder anstelle von Eltern regieren. Im Ergebnis wird das ganze weltliche System demoralisiert und endet in Ruin und Chaos.
Die gleichen Prinzipien, die in dieser Welt Durcheinander anrichten, sind auch im Volk Gottes am Werk, mit den gleichen traurigen Ergebnissen. Darum sehen wir es auch zertrennt und zerstreut, und noch immer geht das Werk der Zerstörung weiter. Die Ausübung des Eigenwillens schließt die Autorität des Herrn und die Leitung des Hauptes aus. Wie die Welt, so tut auch die Masse der Christenheit, was recht ist in ihren Augen. Diese Prinzipien waren schon zur Zeit des Apostels Paulus am Werk, denn er musste die Gläubigen warnen, dass sie in Gefahr standen, nicht mehr an dem Haupt festzuhalten, und musste mit Sorge feststellen, dass alle das Ihre suchen, nicht das, was Jesu Christi ist (Phil 2,21).
In dem Augenblick, in dem wir aufhören, mit allen unseren Bedürfnissen zu Christus, dem erhöhten Haupt seines Leibes, der Versammlung, zu kommen; in dem Moment, in dem wir aufhören, unter der Führung des Herrn und der Leitung des Geistes zu handeln, werden wir anfangen, das zu tun, was recht ist in unseren Augen. Vielleicht tun wir in den Augen der Welt nichts moralisch gesehen Falsches, wir sind vielleicht sogar sehr aktiv und völlig aufrichtig. Aber wenn in unserer Aktivität die Ansprüche des Herrn und die Leitung des Hauptes ignoriert werden, ist es einfach unser Eigenwille, der uns das tun lässt, was in unseren Augen recht ist.
Das traurige Ergebnis des niedrigen Zustandes Israels zeigt uns der erste Vers dieses ersten Kapitels. Es entstand eine Hungersnot im Land. In dem Land, das der Ort des Überflusses hätte sein sollen, das von Milch und Honig fließt, gab es nicht genug, um den Bedarf des Volkes Gottes zu befriedigen.
Das gleiche Übel hat in der Christenheit ein ähnliches Ergebnis gebracht. Christen, die nicht mehr an dem Haupt festhielten und dem Herrn nicht mehr den Platz der Autorität einräumten, haben das getan, was sie in ihren Augen als das Beste ansahen, und so zahllose Sekten gebildet, in denen das Volk Gottes aus Mangel an geistlicher Nahrung verhungert. Das Haus Gottes, das ein Ort des Überflusses hätte sein sollen, ist in den Händen der Menschen zu einem Ort der Hungersnot geworden.
Elimelech – der Weg eines Abtrünnigen
„Und der Name des Mannes war Elimelech, und der Name seiner Frau Noomi, und die Namen seiner beiden Söhne Machlon und Kiljon, Ephratiter aus Bethlehem-Juda. Und sie kamen in die Gebiete von Moab und blieben dort“ (1,2).
Die Zeit der Hungersnot wird zu einer Zeit der Prüfung für den einzelnen Gläubigen. Die Hungersnot testet unseren Glauben. Elimelech befand sich im Land der Bestimmung für Israel. Die Stiftshütte war da, die Priester waren da, der Altar war da, aber in den Regierungswegen Gottes mit seinem Volk war auch die Hungersnot da und das war die Prüfung für Elimelech. Würde er Gott in der Hungersnot vertrauen und trotz der Hungersnot auf dem von Gott bestimmten Weg bleiben? Dieser Mann aus Bethlehem war der Prüfung nicht gewachsen. Er war bereit, in Zeiten des Überflusses in dem von Gott bestimmten Land und in Absonderung von den umliegenden Völkern zu wohnen, aber unter dem Druck der Hungersnot verlässt er das Land.
So waren auch in der Geschichte der Kirche viele damit zufrieden, mit dem Volk Gottes und dem Zeugnis des Herrn verbunden zu sein, solange alle Gläubigen ein Herz und eine Seele waren und solange „große Kraft“ und „große Gnade“ auf allen war (Apg 4,33). Aber als die bekennende Christenheit anfing, zu tun, was in ihren Augen recht war, als alle um das Ihre besorgt waren und Paulus im Gefängnis und das Evangelium in Bedrängnis war, da setzte wirkliche Hungersnot ein. Und mit der Hungersnot kam die Prüfungszeit, und in der Prüfung brach der Glaube von vielen zusammen, denn Paulus musste sagen, dass alle „das Ihre [suchen], nicht das, was Jesu Christi ist“ (Phil 2,21), und weiter, „dass alle, die in Asien sind, sich von mir abgewandt haben“ (2Tim 1,15).
Auch wir können der Prüfung der Hungersnot in unserer Zeit nicht entfliehen. Gott hat in seiner Gnade erneut viele erleuchtet, was die Grundlagen des Zusammenkommens seines Volkes betrifft, und viele, die durch den Dienst des Wortes angezogen waren, haben den Weg der Absonderung glücklich akzeptiert. Aber wenn die Prüfung kommt, wenn die Zahl klein ist, wenn die äußere Schwachheit offensichtlich ist und es nur wenig Dienst gibt, dann finden sie den Platz zu eng für sich, die Schwachheit zu anstrengend, den Kampf zu hart. Unter dem Druck der Umstände verlassen sie den Ort und verirren sich an einen Platz ihrer eigenen Wahl, in der Hoffnung, dort den Prüfungen entkommen zu können und Ruhe vom Kampf zu finden.
So war es auch bei Elimelech. Es ist bezeichnend, dass sein Name „Mein Gott ist König“ bedeutet. Vielleicht waren seine Eltern fromme Leute, die erkannt hatten, dass kein König in Israel war und dass Gott ihrem Sohn König sein sollte. Aber wie oft entsprechen wir unseren Namen nicht. Als die Prüfung kam, versäumte es Elimelech, seinem König Gehorsam zu leisten. Wenn Gott König ist, kann Er in Tagen der Hungersnot genauso aufrechterhalten wie in Tagen des Überflusses. Aber Elimelechs Glaube reichte nicht an das Bekenntnis seines Namens heran und war deshalb dem Druck der Umstände nicht gewachsen. So geschieht es, dass er den Weg des Abtrünnigen wählt, und nicht nur das, auch andere werden durch seinen Mangel an Glauben abgezogen. Seine Frau und seine Söhne folgen ihm naturgemäß.
Nachdem er das Land des Herrn verlassen hat, zieht er an einen Ort seiner Wahl. Noch schlimmer: Nachdem er im Land Moab angekommen war, blieb er dort. Es ist leichter, an einem falschen Ort zu verharren, als an einem richtigen Ort zu bleiben. Der Ort, den er wählt, ist bezeichnend. Die Länder, die das verheißene Land umgeben, verkörpern zweifellos die Welt in verschiedenen Formen. Ägypten repräsentiert die Welt mit ihren Schätzen des Reichtums und Vergnügungen der Sünde und darüber hinaus die Fessel Satans, die das Streben nach Vergnügen immer mit sich bringen wird. Babylon stellt die Welt in ihrer religiösen Verdorbenheit vor. Auch Moab repräsentiert eine besondere Eigenschaft der Welt. Die geistliche Bedeutung zeigt uns der Prophet Jeremia, wenn er sagt: „Sorglos war Moab von seiner Jugend an, und still lag es auf seinen Hefen und wurde nicht ausgeleert von Fass zu Fass“ (Jer 48,11).
Moab steht für ein Leben der Sorglosigkeit, in dem man nach Entspannung von aller Unruhe sucht und wo wenig Bewegung ist, wo das Leben ohne viel Veränderung so dahinplätschert. Um mit den Worten des Propheten zu sprechen: Es wird dort nicht von Fass zu Fass ausgeleert.