Behandelter Abschnitt Ri 19,1; 20-21
Aber es folgt eine zweite Geschichte von übermäßiger Grausamkeit in moralischer Hinsicht, die in Richter 19 beginnt, mit Ausdrücken, die ausdrücklich dem Anfang von Richter 18 ähneln: „Und es geschah in jenen Tagen, als kein König in Israel war, dass sich ein levitischer Mann an der äußersten Seite des Gebirges Ephraim aufhielt; und er nahm sich eine Frau, eine Nebenfrau, aus Bethlehem-Juda“ (V. 1). Die Tatsache, die als erstes erwähnt wird, ist, dass Gibea von Benjamin kaum besser war als Sodom oder Gomorra, auf die der Herr Feuer und Schwefel für ihre Unreinheit regnen ließ. Ich brauche mich nicht mit den beklagenswerten Einzelheiten aufzuhalten. Es genügt zu sagen, dass selbst in einem solchen Zustand das unmittelbare Empfinden des allgemeinen Gewissens in Israel (das zwar durch einen schrecklichen Appell an die zwölf Stämme geweckt wurde) nicht anders konnte, als zu antworten: „So etwas ist nicht geschehen oder gesehen worden von dem Tag an, als die Kinder Israel aus dem Land Ägypten heraufgezogen sind, bis auf diesen Tag. Denkt darüber nach, beratet und redet!“ (19,30). So geschah es. „Und alle Kinder Israel zogen aus, und die Gemeinde, von Dan bis Beerseba, und das Land Gilead versammelte sich wie ein Mann vor dem Herrn nach Mizpa“ (20,1).
Man beachte, dass das, was ihre einmütige Verurteilung auslöste, kein Frevel war, der dem Namen Gottes angetan wurde. Wo war das gerechte Entsetzen über den Götzendienst des Micha? Im Gegenteil, dieser wurde hofiert und bis in die Gefangenschaft fortgesetzt. Die Menschen damals wie heute empfinden nichts bei einer Lüge oder einer Verleumdung Gottes; sie sind empfindlich, wenn ihre eigenen Rechte berührt werden. Aber Er weiß sie aus dieser schändlichen Gefühllosigkeit aufzuwecken.
Deshalb findet der zweite Teil des Anhangs (Kap. 19‒21) direkt im Anschluss einen Platz. Und wir sehen, dass bei denen, die sich nicht um den geschändeten Namen des Herrn kümmerten, alle ihre Gefühle zum Vorschein kamen, als den Menschen Unrecht geschah. Aber Gott ergreift Mittel, um sie spüren zu lassen, wohin ein solcher Zustand führt. O, was für eine Gnade ist es doch, dass Gott sich um unseren Weg kümmert! Aber damit wir die Lieblichkeit dieser Fürsorge erfahren, müssen wir uns um Ihn, seinen Namen und seine Herrlichkeit kümmern. Nicht so, als ob Er nicht für die Seinen sorgen könnte; aber unsere Kraft, unser Trost und unser Segen gründen sich auf seinen Namen. Ihm dürfen wir uns anvertrauen, der uns bis zum Ende liebt. Sollten wir uns dann nicht im Herrn freuen? Die wahrhaftigste Befreiung von sich selbst liegt darin, dass alles gerichtet und das Böse für immer weggetan wird. Dann können wir uns in Ihm freuen, und das ist unsere Kraft für jeden Dienst und die Quelle der Anbetung. Es gibt nichts Gutes ohne seinen Namen.
Ach, wie sehr scheint der Gedanke an den Namen des Herrn in dieser Zeit bei den Kindern Israels verlorengegangen zu sein. Ihre stärksten Gefühle galten dem Leviten und seiner Nebenfrau, die durch die Gräueltaten der Männer von Gibea zutiefst verletzt worden waren. Und so lernen wir, was auch immer an menschlicher Zuneigung vorhanden sein mag, mit Sicherheit, wie wenig Glauben der Herr damals im Land Israel fand. So wie der Mensch damals vor ihrem geistigen Auge stand, so war auch ihre Rache gnadenlos bis zum bitteren Ende. Gott war in keinem ihrer Gedanken. Sie verbreiteten die abscheuliche Geschichte im ganzen Land; sie folgten bereitwillig dem Ruf entsprechend ihrem Rat. Das Ergebnis ist: „Und das ganze Volk stand auf wie ein Mann und sprach: Wir wollen nicht gehen, jeder zu seinem Zelt, und nicht einkehren, jeder in sein Haus; sondern dies ist die Sache, die wir jetzt an Gibea tun wollen: Ziehen wir gegen diese Stadt nach dem Los; und nehmen wir zehn Männer von hundert, von allen Stämmen Israels, und hundert von tausend und tausend von zehntausend, um Wegzehrung für das Volk zu holen, damit, wenn sie nach Gibea-Benjamin kommen, man an ihm tue nach all der Schandtat, die es in Israel begangen hat. Und alle Männer von Israel versammelten sich gegen die Stadt, wie ein Mann verbündet. Und die Stämme Israels sandten Männer zu allen Geschlechtern Benjamins und sprachen: Was ist das für Böses, das unter euch geschehen ist! So gebt nun die Männer, die Söhne Belials, heraus, die in Gibea sind, dass wir sie töten und das Böse aus Israel wegschaffen! Aber die Kinder Benjamin wollten nicht auf die Stimme ihrer Brüder, der Kinder Israel, hören; und die Kinder Benjamin versammelten sich aus den Städten nach Gibea, um auszuziehen zum Kampf mit den Kindern Israel“ (20,8–14).
Zweifellos war die Ungerechtigkeit der Männer von Benjamin unermesslich und eine große Schande für Gott oder sogar für Israel. Aber es steht außer Frage, dass das Vorgehen der Männer Israels die Schwierigkeiten tausendfach vergrößerten. Sie handelten rein menschlich. Wo waren ihre Demütigung und ihre Betrübnis vor dem Herrn? Sie entscheiden die Dinge zuerst, und der Fall wird nur ein weiteres Beispiel für die Torheit des Menschen im Umgang mit dem Bösen. Nachdem sie aus ihrem eigenen Kopf heraus entschieden haben, wenden sie sich dann an Gott und bitten Ihn, sie in ihren Bemühungen, Benjamin zu vernichten, zu segnen. Nachdem sie alle Vorbereitungen getroffen hatten, zogen sie „hinauf nach Bethel und befragten Gott und sprachen: Wer von uns soll zuerst hinaufziehen zum Kampf?“ (20,18). Ist das nicht eine ebenso lehrreiche wie auffällige Tatsache? Noch mehr ist das, was folgt; denn Gott versäumt es nicht, mit uns auf unserem eigenen Grund zu handeln. Je nach unserer Torheit kann Er uns sowohl antworten, als auch eine Antwort verweigern. Aber am Ende handelt Er auf seine eigene Weise, die immer das sein wird, was wir kaum erwarten.
Hier musste Gott das Volk zurechtweisen, auch wenn es im Großen und Ganzen moralisch richtig war, bis das Unrecht, das ihr Zustand und ihre Eile mit sich brachten, ausgeräumt war. Im Gericht muss Er Gerechtigkeit walten lassen; aber Er gedenkt der Barmherzigkeit. Es ist ein Beispiel für dasselbe, was wir schon oft in anderen Formen gesehen haben. So gebietet Er den Männern von Juda, zu gehen; aber die Männer von Juda wurden schändlich geschlagen und mussten vor dem Herrn weinen. Dies war zumindest richtig. „Und die Kinder Israel zogen hinauf und weinten vor dem Herrn bis zum Abend; und sie befragten den Herrn und sprachen: Soll ich wieder ausrücken zum Kampf mit den Kindern meines Bruders Benjamin?“ (20,23). Das ist ein weiterer, noch wichtigerer Punkt, der damit verbunden ist. Wenn wir wirklich in Trauer und in Umständen, die nach der Trauer rufen, vor dem Herrn stehen, ist das Herz offen, um für den Übeltäter zu empfinden. Sie waren von Gedanken der Zerstörung gegen Benjamin erfüllt, und die Erinnerung daran, dass er ihr Bruder war, war ihnen vorher nicht einmal in den Sinn gekommen.
Jetzt, niedergeschlagen vor Gott, der ihre Niederlage bewirkt hatte, werden sie dazu gebracht, mit ihrem Bruder Mitleid zu haben, so schuldig er zweifellos auch war. Dennoch wurde dies ihre Beziehung, und die Kinder Israels bekamen von dem Herrn die Antwort: „Zieh hinauf gegen ihn“ (20,23). Trotzdem wurden sie am nächsten Tag geschlagen; denn sie mussten vor dem Herrn gezüchtigt werden, bevor Er sie zum Handeln mit ihrem Bruder gebrauchen konnte. „Und Benjamin zog am zweiten Tag aus Gibea heraus, ihnen entgegen, und sie streckten wiederum unter den Kindern Israel 18.000 Mann zu Boden; diese alle zogen das Schwert. Da zogen alle Kinder Israel und das ganze Volk hinauf und kamen nach Bethel, und sie weinten und blieben dort vor dem Herrn und fasteten an jenem Tag bis zum Abend; und sie opferten Brandopfer und Friedensopfer vor dem Herrn. Und die Kinder Israel befragten den Herrn – denn die Lade des Bundes Gottes war dort in jenen Tagen“ (20,25–27).
Hier ist der Beweis für die Zeit, in der dies alles geschah. Es wurde bereits gesagt, dass es eine frühe Tatsache in der Geschichte der „Richter“ war und nicht chronologisch am Ende des Buches folgte. Der Beweis wird hier sehr deutlich angeführt. Pinehas, das wissen wir, lebte in den Tagen der Wüstenreise, er war der Anführer gegen Midian, bevor Mose starb, und einer derjenigen, die den Jordan überquerten. Und doch ist er noch am Leben, als die tragische Tat geschah, die den Stamm Benjamin in ihren Folgen fast entwurzelt hätte. „Und Pinehas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, stand vor ihr in jenen Tagen – und sprachen: Soll ich wieder ausziehen zum Kampf mit den Kindern meines Bruders Benjamin, oder soll ich aufhören? Und der Herr sprach: Zieht hinauf, denn morgen werde ich ihn in deine Hand geben“ (20,28).
Sie waren endlich auf ihren rechten Platz vor Gott heruntergebracht worden; sie hatten die Schande auf sich genommen; der Herr hatte sie gezüchtigt, und sie hatten es nötig und gerechterweise verdient. Jetzt konnten sie mit dem schuldigen Benjamin handeln. Wir sind nicht in der Lage, mit einem anderen zu handeln, bevor Gott mit dem gehandelt hat, was seinem Namen in uns selbst widerspricht; und so war es, dass die Männer von Benjamin völlig geschlagen und fast ausgerottet wurden.
Das letzte Kapitel des Buches zeigt uns die Mittel und Wege, mit denen ihr Mitgefühl geweckt wurde, um die trostlose Kluft zu überwinden, die das göttliche Gericht in Benjamin und in der Tat in Israel angerichtet hatte.