Behandelter Abschnitt Ri 16
„Und Simson ging nach Gaza, und er sah dort eine Hure“ (V. 1); doch hier finden wir, obwohl er tiefer gefallen ist als je zuvor, eine Kraft, die sich unter diesen bedauernswerten Umständen entfaltet. „Und sie umstellten ihn und lauerten ihm die ganze Nacht im Stadttor auf; und sie verhielten sich die ganze Nacht still und sprachen: Bis der Morgen hell wird, dann wollen wir ihn erschlagen. Und Simson blieb bis Mitternacht liegen. Um Mitternacht aber stand er auf und ergriff die Flügel des Stadttores und die beiden Pfosten und riss sie samt dem Riegel heraus und legte sie auf seine Schultern; und er trug sie auf den Gipfel des Berges, der gegen Hebron hin liegt“ (V. 2.3). Der Mann zog also im Vertrauen auf seine Stärke aus und tat dem äußeren Anschein nach Dinge, nur um den Feind spüren zu lassen, was er tun konnte, mit so wenig Verantwortung gegenüber Gott, wie man es bei einem, der Ihn fürchtete, wohl hätte finden können.
Aber wieder: „Und es geschah danach, da liebte er eine Frau im Tal Sorek, ihr Name war Delila“ (V. 4). Und hier haben wir es nicht nur mit der Wiederholung des alten Vergehens zu tun, und zwar in der gröbsten Form der fleischlichen Verderbnis, sondern auch mit einer Verliebtheit, die so außergewöhnlich ist wie seine Erniedrigung. Dies wird in der Tat deutlich die Moral der Geschichte. Delila verkauft sich an die Fürsten der Philister, um den Kämpfer Israels zu verstricken, der nun von seinen Begierden betört ist; sonst hätten ihm die verschiedenen Versuche, ihn zu ergreifen, die Augen für ihre Arglist und ihre mörderische Bosheit öffnen müssen. Aber der Lohn der Übertreter ist hart, und der Schuldige gerät immer wieder in den Bann der fremden Frau. Das ist die blendende Macht der Sünde; denn war er unwissend über ihre Abscheulichkeit oder über seine eigene Gefahr? Aber die Krise kam; und wir sehen, dass er endlich, bedrängt durch die Mühen der Hure, das Geheimnis des Herrn verrät. An seinen ungeschorenen Flechten seines Haares hing seine unbesiegbare Macht durch göttlichen Willen. Es gab nur eine Sache, die wirklich wichtig war: Gehorsam. Ach, er fiel, wie Adam am Anfang und seitdem alle, bis auf einen – Christus. Aber wie vollkommen stand Er, obwohl Er versucht wurde, wie niemand jemals versucht wurde oder werden konnte außer Ihm selbst! Wissen wir, was für eine Sache der Gehorsam in Gottes Augen ist, auch wenn er auf die einfachste Weise gezeigt wird? Es ist die Vollkommenheit des Geschöpfes, die Gott seinen Platz gibt und dem Menschen den seinen; es ist der niedrigste und zugleich der moralisch höchste Platz für jemanden hier auf der Erde, wie für die Engel oben. Bei Simson, der in einem scheinbar kleinen Zeichen, aber einem Zeichen der völligen Unterwerfung unter Gott geprüft wurde, und dies in Trennung von allen anderen, war es Gehorsam; nicht so in unserem Fall, wo wir den höchsten Schatz in irdenen Gefäßen haben, aber Gehorsam in allem, und dies geformt und geführt durch den Geist nach dem geschriebenen Wort, jetzt in das vollste Licht gesetzt, weil in der Person und den Wegen und dem Werk und der Herrlichkeit Christi gesehen. Es ist kein bloßes äußeres Zeichen für uns, die wir den Herrn Jesus kennen. Aber das Geheimnis des Herrn in unserem Fall beinhaltet das, was für Gott und Menschen am kostbarsten ist. Wir sind geheiligt sowohl durch das Wort des Vaters als auch durch Christus, der in der Höhe verherrlicht ist. Auch sind wir geheiligt durch den Geist zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu und sind aufgerufen, zu gehorchen (1Pet 1,2), wie die Frau ihrem Mann. Darin liegen also die allerhöchsten und tiefsten Vorrechte, die Gott den Menschen auf der Erde mitteilen konnte.
Bei Simson war es, wie wir sehen, ganz anders. Sein Geheimnis war es, sein Haar unbeschnitten zu halten, mit aller Kraft, die damit verbunden war. Aber wenn es seine verborgene Kraft war, so diente sie auch als Prüfung; und nun besaß der Feind sie, offenbart einer Hure, die sie für Silber aus seinem törichten Herzen gerungen hatte. Was auch immer sein niedriger Zustand durch die unkontrollierte tierische Natur gewesen sein mochte, was auch immer seine Vergehen vorher gewesen sein mochten, solange er sein Geheimnis vor Gott bewahrte, verließ ihn niemals die Kraft Gottes, wie groß auch immer die Belastung sein mochte. Der Herr jedenfalls war – das konnte nicht anders sein – dem Geheimnis treu. Aber nun, wie wir wissen, hat diejenige, die er zur Teilhaberin an seiner Sünde gemacht hatte, es ihm abgerungen, damit sie es an die Philister verkaufen konnte.
Auf das Äußerste erniedrigt, wird Simson für sie sowohl ihr Spott als auch ihr Sklave. Aber Gott war im Begriff, sich selbst und seine eigenen Wege zu verherrlichen. „Und es geschah, als ihr Herz fröhlich war, da sprachen sie: Ruft Simson, dass er vor uns spiele. Und sie riefen Simson aus dem Gefängnis, und er spielte vor ihnen; und sie stellten ihn zwischen die Säulen. Und Simson sprach zu dem Knaben, der ihn bei der Hand hielt: Lass mich, damit ich die Säulen betaste, auf denen das Haus ruht, und mich dagegen lehne. Das Haus war aber voll von Männern und Frauen, und alle Fürsten der Philister waren dort; und auf dem Dach waren etwa 3.000 Männer und Frauen, die zusahen, wie Simson spielte. Und Simson rief zu dem Herrn und sprach: Herr, Herr, gedenke doch meiner und stärke mich doch nur diesmal, o Gott, damit ich an den Philistern eine einmalige Rache nehme für meine beiden Augen!“ (V. 25–28). Wieder sehen wir den Mann, und sein Charakter in seiner Schwäche steht vor uns, selbst in diesem feierlichen Augenblick.
Ich bin weit davon entfernt, daran zu zweifeln, dass Gott in ihm gewirkt hat, den Er zum Kämpfer seines Volkes gemacht hatte. Niemand soll bezweifeln, dass Simson im Gefängnis war oder dass er seine Augen umsonst verloren hat. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er ohne sie moralisch klarer sah, als er mit ihnen in irgendeiner Weise gesehen hätte. Er hatte in vergangenen Zeiten viel zu oft einen erbärmlichen Gebrauch von seinen Augen gemacht; und selbst jetzt, trotz des Werkes Gottes in seiner Seele, gab es nichts Schwerwiegenderes, nichts Tieferes, nichts, worüber man mehr klagen konnte als über den Verlust dieser beiden Augen? Es war Simson, der für sich selbst fühlte, aber nicht ohne Mitleid mit dem Herrn; denn es gab einen über Simson, der hörte. Und das ist der große Punkt für uns, mit dem wir rechnen können und sollen. Vergessen wir nicht, dass wir in Simson eine Natur sehen, die von allem befreit ist, was wir beklagen, und wer es nicht glaubt, mag leben, um es zu beweisen, besonders wenn er ein Gläubiger ist, der sich selbst besser kennen sollte; während derjenige, der es in seine Seele aufnimmt, dadurch befähigt wird, sich selbst durch den Geist vor Gott zu richten.
Aber mit was für einem Gott haben wir es zu tun, wie Simson mit Ihm zu tun hatte! Und wie verherrlichte Er sich in jener Stunde der höchsten Betrübnis und seiner tiefen Qual, als er vor jenen unbeschnittenen Hassern Israels zur Schau gestellt wurde, und der Zeuge, wie sie liebend gern hofften, des Triumphes ihres Götzen über den Herrn. Simson fand es leichter, für seinen Namen zu sterben, als so im Land der Philister zu leben. Aber Gott behielt sich große Dinge für seinen Tod vor. Welch ein Bild, aber auch welch ein Gegensatz zu seinem Tod, der bis zu diesem letzten Punkt nur seine absolute Hingabe an den Willen Gottes verfolgte, ihn nicht nur tat, sondern bis zum Äußersten erduldete und so durch seinen Tod auf gerechte Weise das sicherte, was kein lebendiger Gehorsam hätte bewirken können!
Dennoch habe ich wenig Zweifel, dass, obwohl die Sterbestunde Simsons Gott mehr Ehre brachte als sein ganzes Leben, ihre Art und Weise in sich selbst eine Züchtigung war; und auch darin mag man eine Darstellung des Zustandes erkennen, in den Israel gekommen war, ähnlich dem, was im Leben und in der Person Simsons bemerkt wurde. Denn was kann demütigender sein, als dass der eigene Tod wichtiger ist als das eigene Leben? Soweit waren die Dinge gekommen (ein unrühmlicher Punkt für die Betroffenen), dass das Beste für Israel und Juda, das Beste für Gottes Ehre und für Simson selbst war, dass er sterben sollte. „Und Simson umfasste die beiden Mittelsäulen, auf denen das Haus ruhte, die eine mit seiner Rechten und die andere mit seiner Linken, und er stemmte sich dagegen. Und Simson sprach: Meine Seele sterbe mit den Philistern! Und er beugte sich mit aller Kraft; da fiel das Haus auf die Fürsten und auf alles Volk, das darin war; und die Toten, die er in seinem Tod tötete, waren mehr als die, die er in seinem Leben getötet hatte. Und seine Brüder und das ganze Haus seines Vaters kamen herab und hoben ihn auf; und sie gingen hinauf und begruben ihn zwischen Zorha und Eschtaol, im Grab Manoahs, seines Vaters. Er hatte aber Israel zwanzig Jahre gerichtet“ (V. 29–31).