Behandelter Abschnitt Off 8,1-2
Für mich ist es offensichtlich, dass auf das siebte Siegel eine kurze, aber feierliche Pause folgt, die wiederum eine neue Reihe von göttlichen Gerichten einleitet.46
Und als es das siebte Siegel öffnete, war eine Stille im Himmel, etwa eine halbe Stunde lang. Und ich sah die sieben Engel, die vor Gott stehen; und ihnen wurden sieben Posaunen gegeben (8,1.2).
Nun sind diese Gerichte, die uns unter den Posaunen begegnen, von einem etwas anderen Charakter als das, was wir in den Siegeln gesehen haben. Erstens scheinen die Siegel im Allgemeinen ein größeres Ausmaß zu haben, doch die Schläge waren nicht so heftig. Es ist wahr, dass wir in Kapitel 6,8 eine gewisse Einschränkung (nämlich den vierten Teil) hatten, die in Bezug auf das Ausmaß des Schlages, der dann geschehen sollte, verwendet wurde. Aber in den anderen Beispielen gab es keine solche Einschränkung; während es in den meisten Posaunen der dritte Teil ist, mit einigen kleinen Ausnahmen. Die Posaunen mögen also weniger umfangreich in ihrer Reichweite sein, aber es wird sich nach und nach zeigen, dass sie ein intensiveres Gericht sind als die Siegel.
Außerdem finden wir, dass schon der Name auf einen Unterschied hinweist. Die Posaune stellt einen lauten und feierlichen Aufruf Gottes dar. Es ist Gott, der die Menschen ruft; denn wenn sie seine Gnade verworfen haben, müssen sie diese scharfen Warnungen vor seinem Gericht hören, auch wenn sie es vergessen. Die Siegel hätten nicht so leicht als göttliche Eingriffe angesehen werden können, wenn Gott uns nicht vorher gesagt hätte, dass sie solche in ihrer Art und ihrer Reihenfolge sind. In sich selbst, und besonders in den ersten vier, läuteten sie katastrophale, aber nicht beispiellose Geschehnisse ein. Doch wenn wir zu den Posaunen kommen, ist es nicht so notwendig, zu verkünden, dass sie vom Himmel gesandte Gerichte sind. Ihr Klang oder ihre Aufforderung ist ganz klar und dringend. Sie richten sich viel unmissverständlicher an die Menschen.
Aber es gibt noch einen weiteren bemerkenswerten Unterschied, der eher geistlicher Natur ist. Das Lamm verschwindet unter diesen neuen Ereignissen. Vom Herrn Jesus wird in dieser Hinsicht nicht gesprochen, während diese zerstörerischen Gerichte ihren Lauf nehmen. Das setzt eine große Veränderung voraus und markiert sie auch, und wir müssen uns fragen, was Gott uns daraus schließen lassen will. Wenn der Herr Jesus überhaupt vorgestellt wird, dann in einer anderen Gestalt oder unter einem anderen Gesichtspunkt, und nicht als das Lamm. Es ist nicht das Lamm, das das goldene Räuchergefäß nimmt, sondern ein Engel. Ich leugne nicht, dass auf Christus Bezug genommen wird, aber es ist in seiner engelhaften Verbindung oder zumindest in einer engelhaften Form. Er wird in einer distanzierteren Weise dargestellt, als die Versammlung oder der Christ als solcher Ihn je kennengelernt hat.
In Hebräer 2 finden wir, dass der Heilige Geist die Tatsache begründet, dass Christus den Platz eines Menschen eingenommen hat. „Denn er nimmt sich fürwahr nicht der Engel an“ (V. 16). Die Engel waren nicht der Gegenstand der Berufung Gottes noch seiner Erlösung. Er nahm sich der Nachkommen Abrahams an, und deshalb: „Weil nun die Kinder Blutes und Fleisches teilhaftig sind, hat auch er in gleicher Weise daran teilgenommen“ (V. 14). Er hat sich nicht der Sache der Engel angenommen. Er steht nicht in einer solchen Beziehung zu ihnen. Dennoch spricht, wie mir scheint, nichts dagegen, dass der Herr Jesus in Kapitel 8 als der amtierende Engel am Altar gemeint sein kann und ist; denn Er ist ja das Haupt von allem, das Haupt aller Fürstentümer und Mächte. Warum sollte Er dann hier nicht in erhabener, engelhafter Herrlichkeit gesehen werden?
Die Person, von der gesprochen wird, handelt als Engelspriester. Zweifellos ist es nicht so, dass Er mit den himmlischen Heiligen zu tun hat und dass Er vor Gott für uns dient. Aber dann hat der Herr zu dem Zeitpunkt, zu dem wir in der Prophezeiung kommen, mit seinem Dienst für die Genossen der himmlischen Berufung völlig abgeschlossen, zumindest was die Vorsorge für ihr Versagen betrifft; aber wir erfahren sein Interesse an einer anderen Gruppe von Gläubigen – natürlich an „allen Gläubigen“ –, die auf der Erde sein werden, wenn die Versammlung in den Himmel aufgenommen worden ist.
Hier werden die leidenden Heiligen Gottes weniger vorgestellt als anderswo. Die Gerichte fallen fast ausschließlich auf die Welt, auf Menschen in ihren Umständen und Personen und schließlich auf Menschen in ihrer verantwortlichen Beziehung zu Gott. Äußerlich scheinen die Gläubigen mit ihnen vermischt zu sein. Das erklärt die Abwesenheit des Lammes; denn wo immer es als solches im Buch der Offenbarung erscheint, ist es Christus in seinem Charakter des heiligen und von der Erde verworfenen Leidenden. Daher wird das Lamm in besonderer Weise dort hervorgehoben, wo von Leidenden die Rede ist. Denn es gilt immer das Wort: „Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her“ (Joh 10,4). Nie lenkt Er sie auf einen Weg, den Er nicht vor ihnen im bittersten Leid ausgekostet hat. Hier zieht Er sich gleichsam zurück und ist nur in vergleichsweise entfernter, engelhafter Herrlichkeit zu sehen.
Beachte auch, wie das Kapitel voller Symbole ist, und, von der ersten Posaune an, von welcher äußeren Art. Überall herrscht Geheimnisvolles vor. Es ist nicht Gott, der sein Herz mit Wohlgefallen an denen, die Er liebt, ausbreitet. Wann immer dies das Thema ist, spricht Er sozusagen von Angesicht zu Angesicht. Er ist einfach und deutlich. Ohne dieses Buch zu verlassen, nimm zum Beispiel Kapitel 14. Dort spricht Er von Personen, die allen möglichen Prüfungen ausgesetzt waren oder sein werden, weil sie mit Jesus verbunden waren; und das Erste, was wir auf dem Berg Zion sehen, ist das Lamm, und der Anteil der Bösen folgt auf die deutlichste Weise. So auch in Kapitel 12: „Und sie haben ihn [den Drachen] überwunden um des Blutes des Lammes und um des Wortes ihres Zeugnisses willen, und sie haben ihr Leben nicht geliebt bis zum Tod“ (V. 11). Aber hier haben wir Gottes Handeln mit der Welt und die spärlichste Erwähnung seines eigenen Volkes als besondere Gruppe; und da die Welt keinen Anspruch auf Gott hat, was auch immer seine Barmherzigkeit ihr gegenüber sein mag, da die Welt keine Beziehung zu Ihm hat und nur seine Liebe verachtet, so spricht Gott nur von seinen irdischen Gerichten in immer schrecklicheren Formen. Er beschreibt die Personen nicht so deutlich wie bei anderen Begebenheiten; und so wird, wie ich meine, auch die Person des Herrn Jesus nicht deutlich vorgestellt. Denn hier, wie auch anderswo, finden wir die erstaunlichste Harmonie, die die ganze Schrift beherrscht, wenn man einmal den Schlüssel dazu sieht.
46 So seltsam es auch erscheinen mag, dass eine solch einfache Angelegenheit Anlass zu lang anhaltenden Zweifeln und endlosen Diskussionen gibt, so ist es doch eine Tatsache. Die vielleicht älteste überlieferte Auslegung, die von Victorinus (einem Märtyrer in der Verfolgung des Diokletian), bezieht die halbe Stunde Schweigen auf den Beginn der ewigen Ruhe. Und dies ist immer noch die Quelle der meisten, die die sieben Siegel so verstehen, dass sie den Umriss der Ereignisse in der Vorsehung bis zum zweiten Kommen des Herrn umfassen, außer dass einige das siebte Siegel eher als eine Pause bei seiner Wiederkunft bezeichnen würden. Es ist klar, dass diese Ansicht hauptsächlich auf der Annahme beruht, dass das sechste Siegel den Tag des Herrn einleitet, mit seinen abhängigen Siegel- und Palmenvisionen, die die vollendete Herrlichkeit der Glückseligen darstellen. Niemand kann sich vorstellen, dass das halbstündige Schweigen im Himmel so gesehen worden wäre, wenn nicht das vorhergehende Siegel in ihren Gedanken einen solchen Bezug notwendig gemacht hätte.
Und doch ist es offensichtlich unnatürlich; denn wenn wir die Ruhe, sei sie nun tausendjährig oder ewig, am Ende von Offenbarung 7 vollständig beschrieben hatten, warum brauchte es dann ein neues Siegel, um sie am Anfang von Offenbarung 8 einzuleiten oder fortzusetzen? Und mit welcher Angemessenheit, entweder hinsichtlich der Zeit oder des Charakters, wird es im siebten Siegel vermittelt? Dies hat andere dazu verleitet, die noch seltsamere Idee anzunehmen, dass das sechste Siegel die Abfolge der Ereignisse abschließt und das siebte lediglich eine Trennung zwischen dieser Reihe und der parallelen der Posaunen anzeigt. Und der sehr merkwürdige Umstand ist, dass einige, die diese anomale Anordnung annehmen, sich selbst davon überzeugt haben, dass ihre der einzig perfekte Anhaltspunkt für die Reihenfolge des Buches ist, während sie nichts als hoffnungslose Verwirrung ist.
Damit ich nicht der Ungerechtigkeit bezichtigt werde, möchte ich die
folgende Aussage aus Three Letters on the Prophecies, S. 2‒3,
von J. H. Frere, nachgedruckt 1859, wiedergeben: „Jeder Kommentator, der
bisher über die Apokalypse geschrieben hat, hat den größtmöglichen
chronologischen Fehler begangen, indem er die Erwähnung der
Öffnung des siebten Siegels, die in Offenbarung 8,1 vorkommt,
fälschlicherweise als eine Einleitung der Ereignisse dieses Siegels
verstanden hat: Er hat inmitten der Siegel und damit inmitten der
zeitlichen Ereignisse den ewigen Zustand der verherrlichten Versammlung
eingeschlossen, der durch die Vision der palmentragenden Schar vor dem
Thron im vorhergehenden Kapitel beschrieben wird (Kap. 7,9–17): So dass
bisher noch nicht einmal eine chronologische Anordnung der
Apokalypse vorgeschlagen wurde, da die Ewigkeit so durchgängig zwischen
dem sechsten und siebten Siegel eingeführt wurde. Man wird aber
feststellen, dass die Apokalypse tatsächlich aus diesen chronologischen
Geschichten besteht, nämlich den sieben Siegeln, die in
Es ist offensichtlich, dass diese unerhörte und systematische Unordnung auf den großen primären Irrtum zurückzuführen ist, dass Offenbarung 6,17 eine Prophezeiung des Zorns des Lammes ist, anstatt der vorhergesagte Ausdruck der Befürchtungen der Menschen in dieser frühen Epoche des Gerichts zu sein. Das siebte Siegel wird bedeutungslos gemacht, indem das sechste Siegel praktisch zum siebten gemacht wird, und der Inhalt dieses Siegels und des eingefügten Kapitels 7 wird völlig missverstanden. Ebenso werden die Posaunen missverstanden. Sie schließen nicht mit dem Schwur Christi, ebenso wenig wie die vorangegangene Reihe mit der Vision des ewigen Zustandes endete. Auch das kleine geöffnete Buch schließt nicht mit Harmagedon ab. Wie die Visionen der Versiegelung und der Palmen ist es eine Klammer, die innerhalb der Grenzen der sechsten Posaune offenbart wird, anstatt der siebten Posaune zu folgen. Der Leser wird daher sehen, wie ungeheuer wichtig es ist, dem allzu verbreiteten Irrtum über das sechste Siegel beständig zu widerstehen, und wird verstehen, warum ich das Risiko eingegangen bin, seine Widerlegung zu oft zu wiederholen.↩︎