Behandelter Abschnitt 1Joh 4,17-21
Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe. Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.
Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat? Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe.
Der zuletzt behandelte Abschnitt stellte, was den Charakter seines Themas betrifft, vielleicht größere Anforderungen an unser Verständnis. Doch haben jetzt wir Gelegenheit, das, was den vorigen Abschnitt mit den vor uns liegenden Versen verbindet, unter Fortlassung der mancherlei Einzelheiten zu betrachten und einfach und in großen Zügen darzulegen. Wer könnte daran zweifeln, dass es die Absicht des göttlichen Verfassers war, die Aufmerksamkeit jedes Gläubigen auf ein Thema zu lenken und ihn damit zu fesseln, das sie gewöhnlich für zu erhaben und daher für praktisch unerreichbar halten?
Da er Bestandteil eines Briefes ist, der an keine Einzelperson, sondern mehr als andere Briefe unmittelbar an alle Kinder Gottes gerichtet ist, sollten wir, sollte nicht jeder von uns diesem Gegenstand darum die höchste Beachtung schenken? Gewiss werden wir feststellen, dass der wahre Glaube an Christus jeden wahren Gläubigen, kraft des neuen Lebens und des innewohnenden Geistes Gottes, dazu berechtigt, diese Segnungen erneut in der Gegenwart Gottes zu betrachten und zu erwägen. Dabei dürfen wir damit rechnen, dass Er uns in seiner Liebe nicht nur ein erweitertes geistliches Verständnis geben, sondern uns auch dazu verhelfen wird, die Vorrechte, die Er vor uns stellt, uns anzueignen und uns ihrer zu erfreuen. Viele von uns werden gelegentlich schon die wertvolle Erfahrung gemacht haben, dass die eine oder andere Schriftstelle unter der Anleitung des Geistes ihre reichhaltigen Schätze zum Vorschein brachte, obwohl unsere Augen bis dahin wenig oder nichts von dieser Schönheit entdeckt hatten. In dem vorliegenden Abschnitt sollten wir umso mehr nach diesen verborgenen Schätzen suchen, da sie besonders dazu angetan sind, unsere Gemeinschaft mit Gott zu erweitern und zu vertiefen.
In den ersten sechs Versen von 1. Johannes 4 fanden wir den zweifachen Prüfstein der Wahrheit gegenüber den falschen Propheten, nämlich Jesus, im Fleisch gekommen, und die apostolische Offenbarung, das heißt das Neue Testament. Danach stellte der Apostel in der für ihn charakteristischen Weise den großen Gegenstand der Liebe mit dem gleichen Nachdruck vor, wie es der Apostel Paulus in 1. Korinther 13 getan hat. Kinder Gottes sollen einander lieben, weil die Liebe aus Gott ist; jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wir sehen sogleich, dass Johannes die Liebe als mit der großen Wahrheit des ewigen Lebens in Christus untrennbar verbunden betrachtet und somit mit der neuen Beziehung zu Gott selbst und seiner Erkenntnis auf der Grundlage geistlichen Verständnisses.
Es handelt sich für den Gläubigen auf der Erde daher um einen Bereich, der sowohl die menschliche Erkenntnis als auch die natürlichen Zuneigungen übersteigt. Er erstreckt sich auf die Mitgläubigen, die sich auf der Erde befinden, und zwar auf einer Grundlage, die nicht nur übernatürlich, sondern göttlich ist und uns, wie wir sehen werden, in direkte Verbindung mit Gott und seiner Gegenwart führt. Alles, was damit in Zusammenhang steht, betrifft jeden Gläubigen unmittelbar, führt ihn aber nicht dazu, eine erhöhte Stellung einzunehmen und als ein einsamer Stern zu leuchten, sondern in die innige Beziehung, die sich aus dem Bleiben Gottes in ihm und seinem Bleiben in Gott ergibt. Er wird begehren, nicht nur im Licht, sondern auch in der Liebe Gottes zu wandeln, die ja Gottes Natur und zugleich die Quelle der neuen Natur des Gläubigen ist.
Solche Gedanken könnten allerdings im Gläubigen subjektive Empfindungen hervorrufen und ihn zur Überheblichkeit verleiten, da sie in der Tat sowohl wahr als auch außerordentlich erhaben sind. Der nächste Schritt in unserem Abschnitt führt daher vom Gläubigen weg und stellt ihm völlig objektiv das Handeln Gottes ohne irgendein Mitwirken des Gläubigen vor. „Hierin ist die Liebe Gottes in uns [in unserem Fall] offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht, dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (V. 9.10).
Jeder „Ersatz“ für Christus wäre völlig unzureichend gewesen. Wir brauchten die unendliche Wirklichkeit der Liebe Gottes in Christus; zunächst, damit wir, die wir tot waren, durch Ihn Leben hätten, und dann, damit Er für uns, die wir schuldig und unrein waren, stellvertretend zur Sünde gemacht würde. Die Liebe, die solche außerordentlichen Wirkungen hervorbringen konnte, war einzig und allein in Ihm, nicht in uns, zu finden. Wir sind daher nur Jünger des Herrn Jesus geworden, nicht etwa des Thomas von Kempen oder anderer Mystiker. Es ist der ausdrückliche Zweck, die Wahrheit auf das zu gründen, was Gott für uns gewesen ist, und nicht auf das, was wir für Ihn sind oder zu sein begehren.
Nachdem der Apostel diese Tatsache bewundernswert klar vorgestellt hat, weist er nun darauf hin, dass wir, wenn Gott uns so geliebt hat, auch einander lieben sollen. Wir lieben Gott und können auch gar nicht anders, als Ihn lieben, wenn wir an seine unermessliche Liebe in Christus zu uns glauben. Wir sollten aber auch die gleicherweise lieben, die Er liebt, da wir alle seine Kinder sind. Dann folgt die bemerkenswerte Aussage, die wir sehr ähnlich auch in Johannes 1,12 finden, wo sie sich auf den Sohn bezieht, während sie in 1. Johannes 4,12 mit den Kindern Gottes in Verbindung steht. Christus hat den unsichtbaren Gott auf vollkommene Weise offenbart; wie vermag unsere gegenseitige Liebe nun dasselbe zu tun? Indem wir so lieben, wie wir es gesehen haben, denn dann „bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet“. Ohne Leben in Christus zu haben, war dieses unmöglich. Wir benötigten aber mehr als das, und das wurde uns auch gegeben, nämlich „von seinem Geist“ (V. 13). Es ist derselbe Geist, der einst herniederkam und auf Christus kraft seiner persönlichen und inneren Vollkommenheit blieb, der nun auch, aufgrund des Werkes des Herrn am Kreuz für uns, in uns bleibt. Dadurch ist es möglich, dass wir in Gott bleiben, so wie Er in uns bleibt, und dass wir um dieses gegenseitige Bleiben wissen. Diese Tatsache allein bewahrt uns davor, höher von uns selbst zu denken als es sich zu denken gebührt. Durch die Gnade haben wir freien Zugang zu einem vertrauten Verkehr mit Gott in umfassendster Weise.
Obwohl in Vers 12 gesagt wurde, dass das Sehen Gottes die Fähigkeiten der menschlichen Natur übersteigt, so lesen wir jetzt in Vers 14 von einem Betrachten Gottes, das durch die Augenzeugen bestätigt werden konnte: „Und wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt.“
Sie gaben damit nicht Zeugnis von einer Vision oder äußeren Schau, sondern von einer Verwirklichung im Glauben durch die Kraft des Heiligen Geistes. Darum folgt auf das Bekenntnis, dass Jesus der Sohn Gottes“ ist, als nächster Schritt die Segnung: „in ihm bleibt Gott und er in Gott“ (V. 15). Gott handelt in seiner Gnade in dieser Reihenfolge mit uns. Dies wird in offensichtlicher Weise in Vers 16 bestätigt, wo sich der Apostel wieder mit allen übrigen Gläubigen einsmacht, indem er hinzufügt: „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat.“ Denn wer wollte diese Worte, die von der Gemeinschaft der Gläubigen mit Gott reden, allein auf den Kreis der Apostel beschränken? Die Gemeinschaft gründet sich auf das neue Leben und das vollbrachte Sühnungswerk. Sie wird durch den Geist aber als Folge weitergeführt, so dass wir als Kinder Gottes an seiner Freude und Liebe teilhaben: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“
In dieser Reihenfolge macht der Gläubige geistliche Erfahrungen und gewinnt geistliche Kraft. Jeder Bestandteil dieser Segnungen ist eine Wirklichkeit für den Umgang des Gläubigen mit Gott, und jede Einzelheit wird hier an ihrer richtigen Stelle erwähnt. Welch eine Ermutigung für den einfältigen Gläubigen; aber welche Zurechtweisung für den, der sich solcher göttlichen Gunst und Freude gegenüber gleichgültig verhält oder sie vernachlässigt! Wie bemerkenswert ist es auch, dass nichts an Träume oder übernatürliche Visionen erinnert, aber auch nichts dazu dient, den Gläubigen in den Augen der anderen oder in seinen eigenen Augen zu erhöhen!
Es mag uns unmöglich erscheinen, der so reich vor uns entfalteten Gnade noch irgendetwas hinzufügen zu können, das sie noch überbieten könnte. Erstens haben wir die Quelle all dieser Segnung in der Liebe Gottes gefunden, indem Er den Wert des Lebens und Sterbens Christi auf uns übertrug, als wir noch tot in Sünden waren. Zweitens haben wir gesehen, dass die göttliche Liebe in uns untereinander ebenso gewiss wirksam ist, wie wir aus Gott geboren sind und Ihn kennen. Dabei bleibt der Heilige Geist in uns, um uns zu befestigen und zu beleben, indem Er uns in Gott erhält und uns die Ergebnisse dieses Bleibens in geistlicher Kraft genießen lässt. Es wird mit äußerster Sorgfalt hervorgehoben, dass jeder Gläubige ein Anrecht auf diese Gnade hat; allerdings müssen wir uns in Gemeinschaft mit Gott befinden, damit sich diese Gnade auswirken kann.
In Vers 17 wird uns aber eine weitere Segnung vorgestellt, gewissermaßen eine Krönung der vorgenannten Vorrechte: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe“. Damit wird dem Gläubigen ein neuer, wichtiger Zugang zu den göttlichen Segnungen eröffnet. Es handelt sich um die göttliche Liebe, aber in diesem Fall nicht nur um ihre Offenbarung zu unseren Gunsten, als wir völlig wertlos und zu allem Guten unfähig waren. Es geht auch nicht darum, dass seine Liebe in uns, den Kindern Gottes, gegenseitige Liebe bewirkt. Es ist auch nicht in erster Linie an das Seufzen des Heiligen Geistes gedacht, der mit uns, den erlösten Gläubigen in unerlösten Leibern, seufzt inmitten der ganzen Schöpfung, die sich nach der Befreiung sehnt, die ihr bei der Offenbarung des Herrn Jesus in Macht und Herrlichkeit zuteilwerden wird (Röm 8). Johannes sprach davon, dass der Geist hier und jetzt in den Kindern Gottes in der Kraft göttlicher Liebe wirkt und ihnen den Genuss der Gegenwart Gottes kostbar macht. Das war die in uns vollendete Liebe (V. 12).
In Vers 17 spricht der Apostel jedoch von einer noch vortrefflicheren Gunst, nämlich, dass die Liebe mit uns vollendet worden ist, damit wir Freimütigkeit haben am Tag des Gerichts. Diese „Freimütigkeit“ ist über jeden Gedanken erhaben, der Gläubige könnte noch in das Gericht kommen, das heißt in das ewige Gericht, das gerechte Gericht, das jeden Schuldigen und Unerlösten treffen wird. Das göttliche Gericht, das dem Herrn Jesus zur Ausübung übergeben ist, wird von jedem verborgenen Gedanken und jedem Wort ebenso Kenntnis nehmen, wie von allen Handlungen des Leibes. Welcher Mensch könnte in ein solches Gericht kommen, ohne schuldig gesprochen und verdammt zu werden?
Bereits im Alten Testament, das im Vergleich zum Neuen Testament nur wenig Licht auf das Gericht der Toten wirft, hören wir den Psalmisten sagen: „Und geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht! Denn vor dir ist kein Lebendiger gerecht“ (Ps 143,2). Das zeigt uns, dass sogar kein „Knecht Gottes“ (d. h. ein Gläubiger), geschweige denn ein sorgloser Sünder, ja, dass kein Lebender im Gericht des Herrn gerechtfertigt werden kann. Denn das Gericht kann weder Tatsachen ignorieren noch Sünden entschuldigen, und kein sterblicher Mensch hat je ein sündloses Leben gelebt. Wie könnte ein sündiger Mensch gerechtfertigt oder errettet werden?
Als unser Herr auf der Erde war, ging Er in vollkommen einfachen und klaren Worten auf dieses für den Menschen so furchtbare Problem ein (vgl. Joh 5). Er spricht von sich selbst als dem fleischgewordenen Sohn Gottes, der Gewalt hat, jedem, der an Ihn glaubt, Leben zu geben, und der auch Gewalt hat, über alle Gottlosen, die Ihn verwerfen und verachten, das Gericht auszuführen. Dem Gläubigen schenkt Er Leben, den Ungläubigen wird Er ins Gericht bringen. Die Worte, die den Weg der Erlösung völlig klar erkennen lassen, finden wir in Vers 24: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen.“ Das Wort „Gericht“ in diesem Vers ist in anderen Übersetzungen schon fälschlicherweise mit „Verdammnis“ wiedergegeben worden. Damit sollte es der in der Christenheit verbreiteten irrigen Vorstellung angepasst werden, dass es ein allgemeines Gericht sowohl der Gläubigen als auch der Sünder geben wird. Durch den Ausdruck „Gericht“, der allein den wahren Sinn wiedergibt, wird dieser Irrtum ausgeschlossen. Der Herr kündigt somit an dieser Stelle an: Jeder, der sein Wort hört (damit sind weder die Zehn Gebote noch etwas Ähnliches gemeint), und dem glaubt, der den Heiland gesandt hat (denn es ist wesentlich, dass wir die große Gabe seiner Liebe anerkennen), hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist vom Tod ins Leben übergegangen.
Der Gläubige muss niemals, wie der Ungläubige, wegen seiner Schuld vor Gericht gestellt werden. Wenn wir den Worten des Herrn glauben, dann wissen wir, dass er bereits aus dem Tod ins Leben übergegangen ist; indem er Christus angenommen hat, hat er ewiges Leben empfangen. Christus wird dadurch verherrlicht. Da aber der Ungläubige Ihn und sein Wort verunehrt und nicht glaubt, dass Gott in seiner Liebe Christus gesandt hat, muss er zum Gericht („Verdammnis“ ist nicht der richtige Ausdruck) auferweckt werden, während der Gläubige die Auferstehung des Lebens erlangt, die in Vers 24 der Auferstehung zum Gericht klar gegenübergestellt wird.
Jedoch wird der Gläubige nach seiner Auferstehung dem Herrn Jesus gegenüber Rechenschaft ablegen müssen über alles, was er in seinem Leib getan hat; er wird dann aber bereits droben eingeführt sein. Das hat nichts mit dem Gericht zu tun, aus dem der Gläubige nach den Worten des Herrn herausgenommen ist. Das Gericht über unsere Sünden hat der Herr Jesus am Kreuz getragen; damit ist diese Frage durch Gnade geordnet. Der Gläubige wird aber vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden (nicht gerichtet werden), damit er erkennt, wie auch er erkannt worden ist. Er wird dann von der Größe der Gnade Gottes, die sich in seiner Errettung gezeigt hat, überwältigt sein.
Eine weitere Stelle, die sich mit diesem Punkt befasst, finden wir in Hebräer 9,27.28. Dort wird das Los des natürlichen Menschen, Tod und Gericht, dem gegenübergestellt, was Christus dem Gläubigen erworben hat. An die Stelle seines Todes ist der Tod Christi getreten, der durch sein Opfer alle seine Sünden weggetan hat; anstelle des Gerichts erwartet er nun die Erscheinung Christi ohne Sünde (d. h. ohne Beziehung zur Sünde) zur Errettung. Für die, die auf sein zweites Kommen warten, ist somit an die Stelle des Gerichts die Errettung getreten.
Der Gläubige braucht nur das festzuhalten, was die Schrift grundsätzlich über die Rechtfertigung aus Glauben sagt, um zu erkennen, dass die Vorstellung eines gemeinsamen Gerichts der Sünder und der Gläubigen mit dem Evangelium ebenso unvereinbar ist wie der Gedanke, dass die Gläubigen durch ein tatsächliches Gericht gehen müssen. Soviel mir bekannt ist, hat kein einziger der Kirchenväter, geschweige ein Konzil in seinen Beschlüssen, diese biblische Wahrheit klar erkannt und festgehalten. Keines der sogenannten Glaubensbekenntnisse bezeugt diese Wahrheit über Christus. Es ist klar, dass diese falsche Vorstellung zu Widersprüchen führen muss.
Niemand kann leugnen, dass der Herr zur Aufnahme der Gläubigen, das heißt der Versammlung in ihrer Gesamtheit sowie der Gläubigen des Alten Testaments wiederkommen wird. Er wird sie mit sich in der Luft vereinigen und sie in das Vaterhaus einführen. Die Vorstellung eines allgemeinen Gerichts (das sich auf das Scheiden der Guten von den Bösen aus den Nationen durch den Herrn in Matthäus 25,31-46 stützt), führt zu der verwirrenden Annahme, dass die durch Gott Gerechtfertigten, nachdem sie bereits im verherrlichten Zustand sind, von ihrem Heiland im Gericht geprüft werden müssten, ob sie nicht letzten Endes doch verlorengehen müssten. Diese Alternative wird zweifellos von jedem gesunden Gläubigen zurückgewiesen. Man zieht den Stachel aus dieser furchtbaren Behauptung heraus, indem man sagt, dass dieses Gericht nicht mehr bedeute, als dass die Gläubigen für gerettet erklärt würden. Merken sie nicht, dass sie damit den von ihnen vorgebrachten Gedanken eines Gerichts auch der Gläubigen wirkungslos machen? Die Vertreter dieser Ansicht täten gut daran, die Schriften zu untersuchen, ob sie nicht bei richtiger Auslegung mit der vollmächtigen Aussage des Herrn übereinstimmen, dass der Gläubige nicht in das Gericht kommt und dass das Gericht nur für den Menschen ohne Christus, für den Schuldigen und Verlorenen, bestimmt ist.
Die Lehre von dem allgemeinen Gericht steht in direktem Widerspruch zum Wort Gottes, das, wie der Herr selbst sagt, diejenigen richten wird, die jetzt seine Worte nicht angenommen haben. Diese Lehre wurde auch in dem bekannten Kanon des Vincent von Lerins verfochten und ist im Bekenntnis der katholischen Kirche in Ost und West enthalten, verbreitet aber überall nur geistliche Finsternis. Sie beraubt ihre Anhänger des Trostes, auf den sie durch Christus und sein Werk mittels des Glaubens Anspruch haben. Sie dient dazu, den Vater ebenso wie den Sohn zu verunehren; denn es ist Gottes Wille, dass der Gläubige sich der Gnade völlig gewiss sein und die Früchte seiner Liebe, sowohl ewiges Leben wie Erlösung, genießen soll. Diese irrige Ansicht lässt außer Acht, dass der Herr die Seinen, die jetzt noch in einer verworrenen Welt leben, durch die Auferstehung und Entrückung in herrlicher Weise zu sich absondern und in die Herrlichkeit des Himmels einführen wird.
Der Apostel Johannes stellt diese überragende Gunst Gottes nicht auf dem Boden oder im Charakter der Gerechtigkeit dar, wie der Apostel Paulus, der in 2. Korinther 5,21 sagt: „Den, der Sünde nicht kannte, hat er [Gott] für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.“ Niemals wird der Richter den Wert der göttlichen Gerechtigkeit, die Er selbst für uns zustandegebracht hat, einer Prüfung unterziehen. Er wird alle die richten, die sich eine eigene Gerechtigkeit anmaßen, denn sie besteht nur aus Lüge und Betrug. Ebenso wird Er alle richten, die Ihn im Gegensatz dazu in leichtfertiger Weise durch Ungerechtigkeit verachtet und ihre eigene Befriedigung unter Herausforderung Gottes gesucht haben. Er wird ein noch ärgeres Gericht über die Ungerechtigkeit der Menschen bringen, wenn sie die Wahrheit in Ungerechtigkeit auch noch so festgehalten haben, wie dies in der Namenchristenheit und in gewissem Maß im Judentum der Fall ist. Doch die in Christus Jesus Erfundenen, denen Er Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung geworden ist, wird Er niemals von dem eisigen Hauch des Gerichts im Himmel treffen lassen, nachdem Er ihre Herzen durch seinen Geist mit der Wärme seiner Gnade erfüllt hat.
Es ist ein ebenso ungeheuerlicher wie unbegründeter Gedanke, dass der Richter an jenem Tag die Tatsache, dass Er selbst unsere Gerechtigkeit ist, in Frage stellen sollte. Diese Behauptung wird durch den gesamten vorausgehenden Text widerlegt. Die erste Hälfte von 2. Korintherbrief 5 führt den Nachweis, dass die Kraft des Auferstehungslebens in Christus den Gläubigen von den beiden großen Schrecknissen des natürlichen Menschen, vom Tod und vom Gericht, errettet hat. „Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln. Denn in diesem freilich seufzen wir und sehnen uns, mit unserer Behausung, die aus dem Himmel ist, überkleidet zu werden; sofern wir allerdings, wenn wir auch bekleidet sind, nicht für nackt befunden werden. Denn wir freilich, die in der Hütte sind, seufzen beschwert, weil wir nicht entkleidet, sondern überkleidet werden möchten, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben. Der uns aber eben dafür zubereitet hat, ist Gott, der uns das Unterpfand des Geistes gegeben hat. So sind wir nun allezeit guten Mutes und wissen, dass wir, während wir einheimisch in dem Leib sind, von dem Herrn ausheimisch sind (denn wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen); wir sind aber guten Mutes und möchten lieber ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn sein. Deshalb beeifern wir uns auch, ob einheimisch oder ausheimisch, ihm wohlgefällig zu sein. Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses“ (2Kor 5,1-10).
In diesem Abschnitt geht es dem großen Apostel um das Bewusstsein des Gläubigen, dass ihm jede Furcht vor Tod und Gericht genommen ist, da Gott uns in dieselbe Stellung wie Christus versetzt hat, damit Er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei, die zur Gleichförmigkeit mit seinem herrlichen Bild gebracht sind. Durch sein Werk hat Er dem Tod seinen Schrecken genommen, der die ganze Menschheit beherrscht. Da wir noch einen unerlösten Leib an uns tragen, seufzen wir beschwert; und das umso mehr, wenn auch in Gott ergebener Weise, als wir selbst mit Ihm versöhnt sind und die damit verbundenen Segnungen bereits besitzen. Wir verlangen danach, mit dem verwandelten Leib überkleidet zu werden. Doch sind wir allezeit gutes Mutes, indem wir erkennen, dass abzuscheiden und bei Christus zu sein weitaus besser ist (wie Paulus den Philippern schreibt), als ausheimisch von dem Herrn zu sein, und wir daher auch selber lieber einheimisch bei dem Herrn sein möchten.
Das Gericht, das Christus ausführen wird, versetzt uns nicht in Angst, so ernst es zweifellos auch sein wird; denn Er hat unser Gericht auf dem Kreuz bereits getragen. Gott nimmt uns hier schon manchmal durch Krankheit und auf andere Weise beiseite und gibt uns Gelegenheit, losgelöst von der Inanspruchnahme durch Arbeit und Beschäftigung, unseren Zustand und Wandel zu Überdenken. Er untersucht unsere Wunden und schaut in die verborgensten Winkel unseres Herzens. Er führt uns dazu, auszurufen: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Weg!“ (Ps 139,23.24).
Ein solches Selbstgericht ist außerordentlich heilsam. Wir würden viel Segens verlustig gehen, wenn wir es nicht ausübten. Was der Gläubige aber jetzt im Selbstgericht ausübt, ist nur ein Teil dessen, was sich in vollem Umfang vor dem Richterstuhl des Christus abspielen wird. Dem Offenbarwerden vor Ihm entgehen zu können hieße, den damit verbundenen großen Segen zu verlieren. Dem Apostel liegt es fern, uns in Unruhe zu versetzen oder uns mutlos zu machen. Er spricht lediglich davon, wie wir in tiefem Mitgefühl für unsere nicht erretteten Mitmenschen beschwert sind und daher getrieben werden, sie zu überreden, dass sie sich von der Verstocktheit ihrer Herzen zum Herrn bekehren: „Da wir nun den Schrecken des Herrn kennen, so überreden wir die Menschen“ (2Kor 5,11a). Sie empfanden diesen Schrecken für die Ungläubigen, nicht für sich selbst oder wegen ihrer eigenen Annahme bei Gott. Denn er sagt weiter: „Gott aber sind wir offenbar geworden; ich hoffe aber, auch in eurem Gewissen offenbar geworden zu sein“ (2Kor 11b).
Die Gnade hat uns dahin geführt, jetzt schon mit aller Bereitwilligkeit das Licht Gottes in Christus in uns hineinleuchten zu lassen. Dieses Hineinleuchten kann zwar behindert werden; vor dem Richterstuhl wird unser Offenbarwerden aber vollkommen sein. Wir werden dann im verherrlichten Zustand befähigt sein, ohne falsche Scham, mit ungetrübtem Auge seine ganze Herrlichkeit anzuschauen, obwohl sie zu unserer großen Demütigung gereichen wird. Doch welche Ehre wird sie für den Gott aller Gnade und für den Sohn bedeuten, dem allein jeder Gläubige diese Segnung verdankt, sowie für den Heiligen Geist, dessen ständige, wirksame Kraft diese Segnungen jedem Gläubigen in seinem Leben vermittelte.
Wir brauchen jedoch nicht nach weiterer Beweisführung zu suchen, denn Vers 17 zerstört gänzlich die abwegige, jahrhundertealte Vorstellung von einem allgemeinen Gericht. Dieser Irrtum hat nicht nur das Zeugnis der Wahrheit geschädigt, sondern auch manchen Gottesfürchtigen durch mangelnde Erkenntnis der Wahrheit beschwert. „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts.“
Erwägt diese Worte, die ihr euch der „Lehre der Kirche“ rühmt und nie auf den Gedanken gekommen seid, dass ihr damit „zu einem anderen Evangelium umwendet, das kein anderes ist“ (Gal 1,6,7). Der Apostel verurteilt damit das gleiche Lehrsystem, das das Kreuz als einen Götzen verehrt, aber nie die göttliche Belehrung erfasst hat, dass der gekreuzigte Christus sie vom Menschen mit all seinen eitlen Traditionen, Philosophien, Wissenschaft und so weiter befreit hat, lauter Dinge, die sich gegen die Bibel und das Erlösungswerk Christi erheben. Gottes Liebe zu den Sündern wurde darin offenbart, dass Er uns das Leben Christi als unseren Besitz gegeben und dass sein Tod unsere Sünden gesühnt hat. Dadurch konnte die Liebe in uns, den Geheiligten, durch die Wirksamkeit seines Geistes vollendet werden.
Doch selbst das genügte nicht, unseren Gott hinsichtlich der Ehre seines Sohnes zu befriedigen. Die Liebe ist „mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben am Tag des Gerichts“. Ich höre die Frage: „Können solche Zusagen wirklich in der Bibel stehen, und dürfen sie so verstanden werden, wie sie niedergeschrieben sind?“ Es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn solche Gedanken auch bei euch aufsteigen, ohne dass ihr wagen würdet, euren Unglauben bezüglich Gottes Wort zum Ausdruck zu bringen.
Doch es fehlt den Worten nichts an Deutlichkeit, mit denen der Apostel uns versichert, dass die Liebe mit uns vollendet ist, so dass wir nicht mit Zittern und Zweifeln, sondern mit Freimütigkeit dem Tage des Gerichts entgegensehen können. Diese Freimütigkeit auf irgendetwas anderes zu gründen als allein auf das Werk Christi, käme einer Lästerung gleich. In Christus bedeutet sie den Triumph göttlicher Liebe. Es ist die gleiche Liebe, die den verlorenen Sohn mit „dem besten Kleid“ versah, als er sich in Lumpen befand. Es war nicht das Kleid der Unschuld, das Adam trug. Die Liebe bekleidet uns mit dem Hochzeitskleid, zur Ehre des Königssohnes. Wir haben Christus angezogen, den gestorbenen und auferstandenen Christus, der für den Glauben alle Fragen der Sünden und der Sünde geordnet hat. Lasst euch fragen, die ihr euch an den abgestandenen, unreinen Wassern der Traditionen übervoll getrunken habt: Warum hört ihr nicht auf die Stimme des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und nehmt von dem Wasser des Lebens umsonst? Christus hat Gott in seinem Tod wie auch durch den Gehorsam seines Lebens auf der Erde so völlig verherrlicht, dass Er jedem die Furcht vor dem Tod und dem Tag des Gerichts nehmen kann, sogar euch, die ihr diese Furcht so erfolgreich den hungernden Menschen eingeflößt habt, die zu euch um Nahrung aufblicken und doch nicht gesättigt werden. Es handelt sich um Worte Gottes, die wir alle erwägen sollten. „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts.“ Diese Liebe hat ihre Quelle in Gott durch den Sohn, und wir sehen ihre Absicht für seine Kinder im Blick auf jenen Tag. Welcher Gegensatz zu dem trübseligen Klagelied „Dies Irae“ (d. h. der Tag des Zorns), das von manchen als christliche Dichtung bewundert wird! Das ist kein „geistliches Lied“ für die Gläubigen, denn Gottes Liebe ist bemüht, alle Furcht aus ihren Herzen zu verbannen.
Doch der Gedanke wird noch weiter ausgeführt. Johannes zeigt uns den Grund dieser Gnade Gottes und erhöht damit noch ihren Wert: „dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt“. Hätte Gott uns diese Wahrheit nicht offenbart, so könnte man diese Aussage für die schrecklichste Anmaßung halten, die je von einem Menschen ausgesprochen oder niedergeschrieben wurde. Wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, dass die volle Bedeutung dieser Schriftstelle an den theologischen Hochschulen höchst wahrscheinlich überhaupt nicht erfasst und deshalb niemand durch diese erstaunliche Wahrheit aufgeschreckt worden ist. Denn der Apostel erklärt, dass, wie Christus ist, auch wir, die Gläubigen, sind in dieser Welt. Er sagt das in Übereinstimmung mit der gesamten Lehre dieses Briefes: „Das, was wahr ist in ihm und in euch“ (2,8). Christus ist gestorben und auferstanden und trägt nun viel Frucht, die Ihm gleichgestaltet ist. Natürlich ist unser altes Ich noch vorhanden, doch es ist wahr geworden, was der Herr in Johannes 14,20 sagt: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin, und ihr in mir und ich in euch.“ Dieser „Tag“ besteht schon seit Pfingsten und dauert bis zum heutigen Tag an. Es war vor diesem Tage nicht „wahr“ und wird es auch nicht im kommenden Zeitalter sein, aber es ist jetzt wahr in den Gläubigen der Gnadenzeit.
Dieser Wahrheit entsprechend sind unsere Stellung und unser Vorbild nicht mehr in dem ersten Adam zu finden, sondern in dem zweiten Menschen, dem letzten Adam. Er ist das Haupt, nie wird es ein anderes geben. Der Sohn des Menschen hat Gott selbst im Blick auf die Sünde verherrlicht, sein Tod bedeutete die einzige Möglichkeit der Errettung, denn in Ihm wurde die Sünde völlig gerichtet, zur Verherrlichung Gottes. Und Gott hat den Sohn des Menschen durch die Auferweckung und Aufnahme in den Himmel verherrlicht; Er verherrlicht Ihn im Himmel, verherrlicht Ihn in sich selbst, wie es bei niemand anders gewesen ist noch sein könnte. Gott wartet nicht darauf, den Sohn auf dem Thron Davids in Zion oder als den König über die ganze Erde zu krönen. Noch am Auferstehungstag sandte der Herr „seinen Brüdern“ die Botschaft: „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Gott nimmt uns in unserer neuen Natur aus dem gefallenen Adam heraus und versetzt uns in den auferstandenen Christus. Daher, „wie er ist, sind auch wir in dieser Welt“.
Beachten wir es wohl: Es heißt nicht, wie Er war! Die Lehre der Kirche über diesen Punkt ist völlig falsch. Die Fleischwerdung Christi ist eine gesegnete Wahrheit und für den Glauben von entscheidender Bedeutung. Aber sie bedeutet nicht unsere Vereinigung mit Ihm; das entspricht nicht der Lehre des Christentums. Solange Christus hier lebte, blieb Er allein; als Gestorbener bringt Er viel Frucht. Eine Vereinigung mit Ihm war erst möglich, nachdem Er für uns und unsere Sünden gestorben war. Erst als Auferstandener, der das Gericht Gottes über unsere Sünden getragen hatte, konnte Er sagen: „zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (Joh 20,17). Der Vorhang wurde erst bei seinem Tod zerrissen; vorher hatten Priester, Opfer und irdisches Heiligtum noch von Gottes Seite ihre Berechtigung. Aber sein Tod war auch unser Tod, und durch seine Auferstehung haben wir teil an seinem Leben in Kraft.
Dann begann das Christentum seinen Lauf, der Heilige Geist kam hernieder, um die zu versiegeln, die durch das Blut des Herrn reingewaschen waren. „Wie er ist, auch wir sind in dieser Welt.“ Unsere Stellung „in dieser Welt“ ist nun in Christus; jede Stellung vor Gott, die nicht in Ihm ist, müssen wir verwerfen. Könnte man annehmen, dass jemand in dieser Weise belehrt ist und sich je mit den Täuschungen des Papsttums oder den verschiedenartigen Kompromissen innerhalb der protestantischen Benennungen zufriedengeben könnte? Haben wir nun eine gesegnete christliche Stellung auf unerschütterlicher Basis oder nicht? Eine höhere Stellung kann es nicht geben, und sie ist uns geschenkt, jedem wahren Gläubigen „in dieser Welt“. Es bleibt uns nur übrig, Gott in Bezug auf unsere Stellung zu glauben und uns von Ihm Gnade zu erbitten, diese Wahrheit zu lieben und auszuleben. Christus muss unser ein und alles sein.
Die nun folgenden Verse zeigen die gewaltige Bedeutung dessen, was wir im nächsten Vers gefunden haben: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus“ (V. 17.18). Wie reden die Worte Gottes doch zu unseren Herzen! Es geht hier nicht um Gefühle, sondern um den Gott, der Licht und Liebe ist und der seine Kinder von allen Zweifeln befreien will, damit sie sich seiner Segnungen in aller Einfalt und Gewissheit erfreuen können. Die Furcht, von der hier die Rede ist, ist mit der Liebe unvereinbar. Denken wir dabei an den weitverbreiteten Irrtum, dass Gott seine Kinder in das Gericht bringen wird, die Auserwählten aber unbeschadet daraus hervorgehen werden! Welche quälende Furcht eine solche Lehre in gottesfürchtigen Menschen hervorrufen mag, wer kann das ermessen? Der Lichtstrahl des Trostes ist für sie hinter dem undurchdringlichen Geheimnis verborgen, wer zu den Auserwählten gehört. In Wirklichkeit leuchtet aber das wahre Licht in Christus mit hellem, stetigem Schein für alle, die durch Ihn zu Gott kommen. Ich zweifle ebenso wenig wie die Calvinisten daran, dass alle, die zu Ihm kommen, auserwählt sind. Doch die calvinistische Lehrweise ist geeignet, jemanden auf einem Riff der Hoffnungslosigkeit stranden zu lassen, wogegen die christliche Wahrheit die schmachtende Seele stets auf Ihn hinweist, der sich dem Sünder als Retter offenbart und dem Gläubigen durch den Glauben an seine Person Ruhe verschafft.
Betrachten wir einen Christen, der sich mit dieser Frage abquält. Was kann seine wahren Zuneigungen mehr behindern und ersticken, als die Furcht vor dem unvermeidlichen Gericht am Ende seines Erdenlebens? Kann man jemand freimütig und von Herzen lieben, wenn man befürchten muss, von Ihm vielleicht in die Hölle geworfen zu werden? „Furcht ist nicht in der Liebe“, sagt der Apostel. „In meiner Liebe ist aber Furcht“, sagt der einfältige Gläubige und denkt dabei an manches eigene Versagen, manche schwerwiegenden Dinge, die ihm im Blick auf jenen Tag Qualen bereiten. In dieser Bestürzung, die ihn ab und zu befällt, erblickt er zwar genug in Christus, um eine „schwache Hoffnung“ in seinem Herzen zu bewahren. Doch ist er sicher, dass sie niemals zu dem Bekenntnis ausreicht, Freimütigkeit zu haben am Tag des Gerichts. Im Gegenteil, er scheut sich davor, an den Gerichtstag zu denken, der für ihn mit so viel Schrecken verbunden ist. Ich stelle diesen Fall genau so dar, wie ich ihn kennengelernt habe, um alle, die ähnlich denken, davon zu überzeugen, dass ihre Überlegungen mit der offenbarten Wahrheit Gottes gänzlich unvereinbar sind. Wer dies bestreiten sollte, dem sei versichert, dass er seine Stellung damit nicht verbessert, sondern sich durch die zweifelnde Vorstellung in Gefahr bringt, die Schrift stehe mit sich selbst im Widerspruch oder die Wahrheit, die ihm hier solche Schwierigkeiten bereitet, werde durch andere Schriftstellen abgeschwächt oder aufgehoben. Es ist jedoch der Irrtum, den er in sich aufgenommen hat, der im Widerspruch zu der betrachteten Schriftstelle steht; denn diese soll ja gerade die Furcht wegnehmen und nicht hervorrufen.
Christus allein, der göttliche Zeuge und Garant der vollkommenen Liebe Gottes, kann alle deine Furcht beseitigen! Dies ist auch das unveränderliche Ziel des Wirkens des Heiligen Geistes; Er leitet in alle Wahrheit, und zwar indem Er Christus verherrlicht, denn Er empfängt von dem seinen und verkündet es uns. Er mag uns indirekt dadurch helfen, dass Er uns Dinge fortnimmt, damit wir vor Gott gedemütigt und gebeugt werden. Aber auch dadurch will Er uns nur mit dem Herrn beschäftigen, durch den die Gnade und die Wahrheit gekommen sind und der in seiner Person alles in allem erfüllt.
Es besteht noch eine andere Gefahr für die, die noch nicht von der Furcht befreit sind. Sie stützen sich auf die Taufe oder nehmen zum Abendmahl ihre Zuflucht, um die Furcht dadurch zu übertönen. Doch die Schrift gibt uns keinerlei Anweisung zu solch einer Selbsttäuschung. Im Gegenteil warnte der Apostel die Korinther in seinem ersten Brief, als sich viele von ihnen in einem schlechten und gefährlichen Zustand befanden, vor jedem Missbrauch des Abendmahls. In Kapitel 1,14, dankt er Gott, dass er außer Krispus und Gajus niemand von ihnen getauft habe, damit nicht jemand sagen könne, er habe auf seinen eigenen Namen getauft. Er hatte auch das Haus des Stephanus getauft; sonst wusste er nicht, ob er noch jemand anderes getauft habe. „Denn“, so sagt er, „Christus hat mich nicht ausgesandt, zu taufen, sondern das Evangelium zu verkündigen“ (1Kor 1,17). Wie käme er dazu, so etwas zu schreiben, wenn die Taufe das Mittel wäre, ewiges Leben zu erlangen? Christus hatte ihn im Gegenteil nicht gesandt, um zu taufen; er überließ es anderen, an den „vielen“ Korinthern, die „hörten, glaubten und getauft wurden“, in jener Stadt diese Handlung durchzuführen (Apg 18,8). In 1. Korinther 4,15 schreibt er den Korinthern: „denn in Christus Jesus habe ich euch gezeugt durch das Evangelium.“ Das Evangelium, das Wort der Wahrheit, war und ist das Mittel, aus Gott geboren zu werden, und nicht die Taufe, so wertvoll diese auch an ihrem Platz ist.
In 1. Korinther 10 geht der Apostel noch weiter. Er warnt dort die Korinther und damit alle seither lebenden Christen davor, dem Vorbild Israels nachzueifern. Denn obwohl sie alle durch das Meer hindurchgegangen und alle auf Moses in der Wolke und im Meer getauft waren und alle dieselbe geistliche Speise gegessen und denselben geistlichen Trank getrunken hatten, so hatte doch Gott an den meisten von ihnen kein Wohlgefallen, denn sie wurden in der Wüste hingestreckt. „Diese Dinge aber sind als Vorbilder für uns geschehen, damit wir nicht nach bösen Dingen begehren, wie auch jene begehrten“ (1Kor 10,6).
Und was das Abendmahl betrifft, so haben selbst aufrechte und urteilsfähige Katholiken, wie zum Beispiel Kardinal Cajetan, die irrige Anwendung von Johannes 6,53-56 auf das Mahl des Herrn verworfen. Diese Stelle spricht zu uns von Christus selbst in seinem Tod als dem Gegenstand unseres Glaubens, so wie das lebendige Brot auf Ihn als den hinweist, der vor seinem Tod Fleisch geworden ist. Wendet man diese Stelle auf das Abendmahl an, so begeht man einen doppelten Fehler. Einerseits würde das bedeuten, dass man das ewige Leben nur durch das Abendmahl empfangen kann; andererseits hieße es, dass jeder Teilnehmer am Abendmahl ewiges Leben hat. Beides wären jedoch verwerfliche Unwahrheiten. Wird die Stelle jedoch auf Christus in seinem Leben und seinem Sterben angewandt, so sind beides wertvolle Wahrheiten. So erweist sich das Wort Gottes allen Argumentationen der Menschen als überlegen. Für den Gläubigen ist Christus alles.
Gott versichert durch sein Wort allen Gläubigen seine Liebe. Er macht seine Liebe darin kund, dass Christus im Fleisch kam, dass Er den Sühnungstod erlitt und dass Er jetzt in der Herrlichkeit ist, wobei als Krönung die Versicherung gegeben wird, dass „wie er ist, auch wir sind in dieser Welt“. Hier wird uns seine Gnade und Wahrheit vorgestellt, und da Christus voller Gnade und Wahrheit war, empfängt jeder, der Ihn annimmt, von seiner Fülle. Das gilt für jeden Gläubigen. Das gilt auch für dich, lieber zweifelnder, furchtsamer Freund! Glaubst du als ein armer, schuldiger Sünder an Ihn? Glaubst du daran, dass Gott in seiner unermesslichen Liebe Jesus, seinen Sohn, dahingab? Lass die trügerische Hoffnung fahren, dass irgendetwas Gutes in dir Gott befriedigen könnte. Stütze dich auf Gottes Autorität und Gnade und nimm Ihn an, der nicht nur für Gott, sondern auch für dich alles gutgemacht hat; Gott hat Ihn als die Sühnung für Sünden herabgesandt. Wenn du dann die Frohe Botschaft Gottes angenommen hast und alles vor Ihm erwägst, darfst du sagen: „Durch die Gnade glaube ich, dass ich Leben und Frieden besitze und sein Kind geworden bin!“ Dann weißt auch du, dass du auserwählt bist. Jeder andere Weg, diese Gewissheit zu erlangen, wäre menschlich und gefährlich, ungewiss und böse, ein Betrug des Teufels, der ins Verderben führt.
Christus ist die Wahrheit, nur Er gibt die Gewissheit über die Erwählung. Wenn du an Ihn glaubst und Ihn bekennst, darfst du ohne jede Spur von Zweifel sagen: „Gott hat mich auserwählt! Sonst wäre ich mir selbst und meinem Einwänden überlassen geblieben und hätte nie den göttlich gewirkten Glauben erlangt.“ So treibt die vollkommene Liebe die Furcht aus und schenkt dir durch den Glauben Frieden mit Gott anstatt der Strafe und der Qual, mit denen dein Geist sich beschäftigt hatte.
Es ist daher durchaus verständlich, dass es heißt: „Wer sich aber fürchtet, in nicht vollendet in der Liebe“ (V. 18b). Solange du dir der Liebe Gottes nicht gewiss bist, kannst du Ihn nicht wirklich lieben. Glaubst du aber an die Wirklichkeit seiner Liebe, in der Er seinen Sohn für die Gottlosen, für seine Feinde, dahingab, kommt Er dir dann nicht hilfreich entgegen? Denke noch einmal an die Sünderin in Lukas 7 und an den gewalttätigen Räuber am Kreuz in Lukas 23! Warum werden wohl diese extremen Fälle mitgeteilt, wenn nicht, weil Gott dich damit ermutigen will? Andernfalls wären sie wohl mit Stillschweigen übergangen worden. Sie wurden aber ausdrücklich niedergeschrieben, um zweifelnden Männern und Frauen zu helfen, denen es vielleicht schwerer fällt, an die Liebe Gottes zu glauben, als dem am tiefsten gefallenen Sünder.
Verzage auch nicht, wenn du zu der Feststellung kommst, dass du Gott nicht liebst. Darum geht es jetzt nicht in erster Linie. Gott weist auf Christus und seinen Tod hin, den Er für die Sünden erlitt; ist das nicht der beste Beweis, den Er nur geben konnte, für seine Liebe zu dir und zu mir? Wenn du deine Einwände fahren lässt und dich diesen überwältigenden Beweis annimmst, um dich von seiner Liebe überzeugen zu lassen, dann wirst du ganz gewiss lieben, wenn du es auch nur zögernd zugibst. Andere werden die Wandlung bei dir wahrnehmen. Wenn du auf dem Sühnopfer Christi für deine Sünden ruhst, dann wird dein Herz sich Gott öffnen, der dich durch das Blut Christi von jeder Befleckung reinigt. Dann wirst du freudig ausrufen: „Ich habe Ihn gefunden!“ und bald erkennen, dass Er es war, der dich gefunden hat.
Komm zu Ihm gerade so, wie du bist, damit Er allein die Ehre hat! Und wenn Gott mich mit einer so gewaltigen Liebe geliebt hat, als nichts in mir dieser Liebe würdig war, als mein ganzes Wesen und Leben voller Sünde war, sollte Er dann aufhören, mich zu lieben, nachdem ich sein Kind geworden bin, durch den Glauben an Christus die Sohnschaft empfangen habe und durch den Heiligen Geist „Abba, Vater“ rufen darf? Sicherlich nicht! Sogar mein irdischer Vater würde mich nicht verstoßen, auch wenn ich abirrte, gedankenlos und töricht handelte. Gott aber beurteilt als mein Vater mein Verhalten als sein Kind und züchtigt mich, wenn dies notwendig ist. Das ist das Ergebnis seiner immerwährenden, treuen Liebe, solange ich mich in der Wüste befinde.
Ein gewaltiger Trost liegt auch für uns als Kinder Gottes in der Gewissheit, dass wir mit all unseren Sorgen, Bedürfnissen und Befürchtungen, mit allem, dessen wir uns zu schämen haben, freimütig und ohne jedes Zögern zu Ihm kommen dürfen. Wir dürfen alle unsere Sorgen auf Ihn werfen, denn Er ist besorgt für uns und hat uns lieb. Achte aber darauf, dass Satan kein Misstrauen Ihm gegenüber in dein Herz säen kann! Jedes Misstrauen beruht auf einer Lüge, die dich schädigen und Ihn nur verunehren soll. Denke in einer solchen Versuchung an Christus und an seine Liebe zu dir, und die finsteren Gedanken werden weichen. Wenn ich mich vor Ihm noch fürchte, dann bin ich nicht vollendet in der Liebe; und je mehr ich mich habe betrügen lassen, desto nötiger ist es, Ihm alles zu bekennen im Vertrauen auf seine Liebe.
Was liegt nun der ganzen Sache zugrunde? Der Apostel fasst es in wenigen Worten zusammen: „Wir lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat“ (V. 19). So kurz diese Aussage auch ist (wenn wir den besten Manuskripten folgen), so ist sie doch eine göttliche Quelle für unsere Ruhe als Gläubige. Mir scheint, dass das Empfinden des natürlichen Menschen mehr dazu geneigt hätte, das Wort „Ihn“ einzusetzen als es fortzulassen. Sollte im Originaltext „Wir lieben ihn“ gestanden haben, dann wäre es für jeden Abschreiber, selbst für einen Namenchristen, eine sehr gewagte Handlung gewesen, das Wort „Ihn“ wegzustreichen. Ist aber die Fortlassung korrekt – und dafür liegen von der Textforschung her hinreichende Gründe vor –, dann ist es leicht verständlich, dass ein Schreiber in guter Absicht es wagte, das Wort „Ihn“ einzufügen, weil ihn der Satz ohne die Erwähnung des Gegenstandes der Liebe nicht befriedigte. Es entspricht jedenfalls durchaus der Wahrheit, dass Er der Gegenstand unserer Liebe ist.
Im Ganzen gesehen halte ich die verkürzte Lesart für zutreffend; sie ist sowohl in sich selbst eindrucksvoll und gewinnt eher durch das Fehlen eines ausdrücklichen Gegenstandes der Liebe, der den Sinn des Verses begrenzen und nicht erweitern würde. In der jetzigen Lesart besagt er, dass wir lieben (und zwar sowohl Gott wie auch seine Kinder), „weil er uns zuerst geliebt hat“. Christus ist die Quelle der göttlichen Liebe in uns, ohne Rücksicht darauf, wohin oder an wen sie sich richtet.
Die Liebe ist keineswegs aus uns hervorgekommen, denn sie stammt aus Gott. Wir meinen in unserem Unglauben, dass sie zunächst in uns entstehen müsste, um dadurch seine Liebe hervorzurufen. Doch es ist keineswegs so. Wir waren tot in Sünden, und die Liebe war nicht in uns und konnte daher auch nicht von uns ausgehen. Die göttliche Reihenfolge unserer Beziehungen zur Liebe und zu Gott lautet: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Zu unserer Beschämung müssen wir bekennen, dass dies die Wahrheit ist; wir bekennen es aber freudig als die Wahrheit, zu seiner Verherrlichung und zu unserem ewigen Segen. Der Geist hat durch das Wort unsere Herzen für den Sohn geöffnet, den der Vater sandte, um uns durch seinen Opfertod Leben und Heil zu schenken. Nun sind wir ein Geist mit dem verherrlichten Herrn, dürfen so sein wie Er ist in dieser Welt, dürfen fortan in der Liebe bleiben und damit in Gott, und Gott in uns.
In Vers 20 wird uns das letzte in der Reihe der falschen Bekenntnisse genannt. Wie in Kapitel 2, ist auch hier jeder persönlich angesprochen: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat?“ Eine solche Behauptung und Verhaltensweise entsprechen nicht der Wirklichkeit, und der Apostel zögert nicht, eine solche Person als Lügner zu bezeichnen. Unsere Gefühle einem Bruder gegenüber sind der Prüfstein für die Echtheit oder Falschheit unseres Bekenntnisses Gott gegenüber. Es handelt sich dabei um eine alltägliche und praktische Überprüfung unseres Bekenntnisses. Mein Bruder, der das Leben in Christus besitzt und durch sein Blut von seinen Sünden gewaschen ist, steht vielleicht vor meiner Tür. Gestatte ich meinem Herzen unter irgendeinem Vorwand, Hassgefühle gegen ihn zu hegen, während ich davon rede, den unsichtbaren Gott zu lieben? Dann hat Satan meine Augen verblendet, und ich handle in Unaufrichtigkeit. Wäre lebendiger Glaube in mir vorhanden, dann würde das neue Leben wirksam werden und die Liebe Gottes in mir hervorrufen.
Der Heilige Geist Gottes wohnt nicht vergeblich im Gläubigen. Wenn mein Herz seine Gegenwart im Bruder für nichts achtet, ist das wohl ein klarer Beweis, dass Er in meinem Herzen nicht gegenwärtig ist, um die Freude an der gegenseitigen Gemeinschaft durch den Sohn hervorzurufen, in dem uns alle Segnungen geschenkt sind. Wenn die Bezeichnung Lügner schon unter den Menschen als äußerst anstößig betrachtet wird, was ist sie dann im Mund eines Apostels und im Zusammenhang mit den ewigen Dingen Gottes? So hat der allein weise Gott vorgesorgt, dass seine Kinder nicht betrogen werden. Je kostbarer die durch göttliche Gnade inspirierte Wahrheit über die Liebe ist, umso wichtiger ist es auch, dass wir nicht durch Unwahres getäuscht werden. Es gehört zu den Regierungswegen Gottes, seine Kinder hier auf der Erde durch mancherlei Übungen zu prüfen. Ist die Liebe aus Gott in uns, so vertrauen wir Gott und bleiben in der Liebe, ohne Rücksicht darauf, ob andere es tun. Wir haben dann die bleibende Kraft des Geistes in uns, der die Gegenwart Gottes in uns zur lebendigen Wirklichkeit macht, so dass wir in allen Umständen ruhig und ergeben bleiben können.
In Vers 21 wird uns mit der gleichen Sorgfalt, die wir schon bei früheren Gelegenheiten festgestellt haben, nahegelegt, bezüglich der Liebe zum Bruder gehorsam zu sein. Was erfordert wohl so viel Demut wie der Gehorsam? Was wirkt dem Stolz, der Eitelkeit, den Leidenschaften und der Leichtfertigkeit mehr entgegen als Gehorsam? Welchen Mut und welche Festigkeit empfängt aber selbst ein zaghafter Gläubiger durch das Bewusstsein, im Gehorsam zu Gott zu stehen! Daher ist der Gehorsam so wichtig, wenn es gilt, einen Bruder zu lieben, der vielleicht wegen eines geringfügigen Fehlers als unerwünschte Person angesehen wird.
Unser Gott überlässt uns nicht unserem eigenen Gutdünken und unserer Klugheit. Wir sind zum Gehorsam geheiligt, und zwar zum Gehorsam Christi in seiner Liebe als Sohn zum Vater, nicht zum Gehorsam der Juden, die durch das Gesetz fern von Gott standen. Gott erwartet von jedem, der Ihn liebt, dass er auch seinen Bruder liebt. Wenn Gott selbst unseren Bruder liebt, müssen dann nicht auch wir, du und ich, ihn lieben? Der Gedanke, dem Willen Gottes diesbezüglich zu widerstehen, ist äußerst beschämend für uns. Hören wir also auf sein Wort! Gott hat seinen Willen in ein bestimmtes Gebot gekleidet, so dass ich, sollte ich widerstreben, den Stachel in mir fühle, Gott zu widerstreiten. Und das umso mehr, da Er sich als der Gott aller Gnade offenbart.
Können wir angesichts eines so klaren Befehls widerstreben, nachdem uns die Wahrheit und die kostbare Liebe vorgestellt worden sind? Sollten wir uns nicht vielmehr verurteilen wegen dessen, was wir sind und wie wir wandeln? Handeln wir nicht aus purem Eigenwillen gegen den Gott und Vater unseres Herrn? Der Bruder mag mir durch seine Verhaltensweise oder seine Worte nicht gefallen. Es kann aber auch sein, dass meine Einschätzung völlig verkehrt ist und der Fehler eher bei mir liegt als bei ihm. Wenn ich Einwendungen gegen Gottes klares Gebot vorbringe, wie kann ich mir dann überhaupt in anderen Dingen trauen? Ist das nicht eine Auflehnung? Und bedenken wir, gegen wen sie gerichtet ist!
Es ist ein Teil der moralischen Herrlichkeit Christi, dass Er bei allem, was an Ihn herantrat, bei jeder Schwierigkeit, im Gehorsam wandelte. Schon vor Beginn seines öffentlichen Dienstes lebte Er im Gehorsam, unterwarf sich Ihm und schlug durch ihn den Feind in jeder der drei großen Versuchungen. „Es steht geschrieben!“ – „Es steht geschrieben!“ war seine Antwort, die seine völlige Unterwerfung unter den Vater bewies. Wenn Satan es wagte, Schriftstellen zu zitieren, die sich auf Ihn selbst bezogen, dann argumentierte Er nicht, sondern entgegnete: „Wiederum steht geschrieben!“ Er zweifelte keineswegs an der Fürsorge des Herrn, noch an seinem Befehl an die Engel. Doch der Herr war nicht auf der Erde, um Satans Befehle auszuführen, und Er weigerte sich, Gott zu versuchen, als zweifelte Er an seinem Wort. Den gleichen unerschütterlichen Gehorsam finden wir auch am Ende seines öffentlichen Dienstes: „Denn ich habe nicht aus mir selbst geredet, sondern der Vater, der mich gesandt hat, er hat mir ein Gebot gegeben, was ich sagen und was ich reden soll; und ich weiß, dass sein Gebot ewiges Leben ist. Was ich nun rede, rede ich so, wie mir der Vater gesagt hat“ (Joh 12,49.50).
Den gleichen Gehorsam bewies Er, als Er den Seinen die letzten Unterweisungen gab; hier leuchtet dieser umso klarer hervor, als der Herr dem Schwersten entgegenging, seinem Tod. „Ich werde nicht mehr vieles mit euch reden, denn der Fürst der Welt kommt und hat nichts in mir; aber damit die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und so tue, wie mir der Vater geboten hat“ (Joh 14,30.31). Er stand im Begriff, sein Leben zu lassen, nicht nur aus freier Liebe, sondern auch aus Gehorsam zum Vater. Vorher hatte Er bereits gesagt: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (Joh 10,17.18). Wie deutlich zeigt sich hier, dass unser gepriesener Herr alles unter dem Gesichtspunkt des Gehorsams tat. Das ist auch die höchste geistliche Gesinnung, die der Heilige Geist in einem Gläubigen bewirken kann. Wie wichtig daher, seine ernsten Worte zu beherzigen: „Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren; und wer sein Leben in dieser Welt hasst, wird es zum ewigen Leben bewahren. Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein. Wenn mir jemand dient, so wird der Vater ihn ehren“ (Joh 12,25.26). Gepriesener Herr, um Dir zu dienen, möchten wir Dir folgen; aber, ach, wie schwankend sind unsere Schritte! Wie wahrhaft groß ist deine Gnade, dass dein Diener bei Dir sein darf und selbst durch den Vater geehrt wird!
Hier, wie auch im ganzen übrigen Leben des Christen, erstreckt sich die Autorität Gottes auf die Liebe. Und da gerade die Liebe zum Bruder Behinderungen und gar Ausflüchten ausgesetzt ist, kleidet Gott sie für uns in die Form eines Gebots, indem Er unsere Liebe zu Ihm selbst mit der zu unserem Bruder verknüpft. Die Betätigung dieser Liebe und alles, was damit zusammenhängt, ist mit der gleichen Glückseligkeit verbunden. Nur sein Wort kann uns sicher leiten, da die Ausübung der Liebe je nach den vorliegenden Umständen sehr verschieden sein kann. Wer könnte einer solchen Forderung genügen? Unsere Kraftquelle ist allein der Geist; Er wirkt entsprechend dem neuen Leben in uns, entsprechend unserem Gehorsam gegenüber Gott, der durch sein Wort zu uns redet.
Nachdem nun die Wirksamkeit der göttlichen Liebe zu uns als Sündern und in uns als Gläubigen, und zwar bis zum Tag der Herrlichkeit, ausführlich dargestellt worden ist, schließt dieser Abschnitt mit den Worten: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat“ (V. 19). Zweifellos „lieben wir Ihn“. Ist die Auslassung des Wortes „Ihn“ aufgrund der Textkritik richtig (wie sie es zu sein scheint), dann hat unser Lieben hier eine allgemeine Bedeutung: Wir lieben, und zwar nicht nur Ihn, sondern auch all die Seinen um uns her. „Wir lieben“. In unseren Herzen fand sich keine wahre Liebe, bis wir seine Liebe kennenlernten. Wegen des sentimentalen Missbrauchs des Begriffes „Liebe“ ist es umso wichtiger, dieses festzuhalten. Es dürfte nicht allen bekannt sein, dass es eine Richtung frommer Leute gab, von manchen Mystiker genannt, die die Theorie aufstellten, es gäbe keine wahre Liebe Gottes außer in völliger Loslösung vom eigenen Ich. Diese Richtung existierte besonders in Frankreich, Deutschland und Holland, hatte aber auch Anhänger in England. Ihre Lehre hat einen schönen Klang, ist aber ungesund und wenig realistisch. Seit Anfang der Welt an ist sie nie eine Realität für einen Menschen gewesen. Das soll nicht heißen, dass wir nicht im geistlichen Wachstum zu einer Liebe Gottes hingelangen könnten, die vom eigenen Ich losgelöst ist, so dass wir es völlig vergessen und in dem Bewusstsein seiner vollkommenen Liebe aufgehen und unsere Wonne an seiner Natur und seinen Wegen finden.
Wir müssen aber stets, zum Preis seiner Gnade, mit der Tatsache beginnen, dass Gott uns schon liebte, als wir noch tot in unseren Sünden waren. Er hat uns aus lauter Barmherzigkeit errettet (Tit 3,4-7). Es wäre ein Zeichen größter Unwissenheit, Unglaubens und Anmaßung, wenn wir nicht in Christus und seinem Werk die Liebe Gottes zu uns erkennen würden, die uns bereits in unserem völligen Verderben und sündigen Zustand zugewandt wurde. Es wäre wertlos, die gewaltige Tiefe seiner Liebe nicht sehen zu wollen, aber danach zu streben, uns zu einer selbstlosen Liebe zu Ihm zu erheben. Damit würden wir im Unglauben die Wahrheit in Bezug auf Gott und seinen Sohn wie auch auf uns selbst verleugnen. Dies ist nur ein getarntes Wirken des eigenen Ichs, dem man entsagen möchte und das man trotzdem schont. Sie führt zu einer nicht geringen Selbstverherrlichung, zu einem Berauschen an dem eigenen Zustand. Insbesondere kommt bei einer solchen Einstellung die Gemeinschaft mit Gott zu kurz, wie sie vom Apostel beschrieben wird. Sie gründet sich auf das Leben Christi in uns, die völlige Wirksamkeit seines Opfertodes und das daraus folgende Bleiben Gottes in uns durch seinen uns gegebenen Geist. Alles dieses ist das gemeinsame Teil aller Gläubigen, wenn es auch nur wenige sind, die dieses Teil so erleben, wie es alle tun sollten. Wie bedauerlich, wenn Gotteskinder zu der Meinung herabsinken, ihre Empfindungen für Gott seien die eigentliche große Liebe, und solche Freude daran finden, als sei dies der glückseligste Zustand für die Heiligen Gottes auf der Erde! Gottes Liebe in Christus ist die alleinige Quelle und Fülle aller Liebe; wie gering muss unsere Liebe im Vergleich zu der Seinen erscheinen!
Wie einfach, lieblich, aber auch entschieden ist sein Wort an dieser Stelle: „Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Wenn wir seine Kinder sind, dann lieben wir auch ganz gewiss. Es hat ein gewaltiger Wechsel stattgefunden bei uns, die wir einst auf die eine oder andere Weise von unserem eigenen Ich erfüllt waren, aber nun befähigt wurden, mit der Liebe zu lieben, die aus Gott ist. Wir lieben Christus, wir lieben Gott, der Ihn gegeben hat, und wir lieben die Kinder Gottes, die Ihn so, wie wir selbst, angenommen haben. Das alles ist eingeschlossen in den Worten „wir lieben“ enthalten. Doch das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn Er nicht, als wir noch im Staub des Todes lagen, uns „zuerst geliebt“ hätte. Diese Worte sind daher zugleich eine Mahnung, die unsere Herzen nötig haben, damit wir von Selbstbewunderung und Beschäftigung mit dem eigenen Ich frei werden. Sie zerstören die törichte Vorstellung, dass wir durch einen besonderen Glaubensschritt zu einem Zustand moralischer Vollkommenheit gelangt und dadurch unsere Sünden losgeworden wären. Der Gedanke, in diesem Sinn vollkommen zu sein, ist der klarste und sicherste Beweis unserer eigenen Unvollkommenheit. Wir werden dadurch einer erheblichen Unwissenheit bezüglich der Heiligen Schrift überführt, die man bezeichnenderweise bei allen findet, die sich der systematischen Selbstbeobachtung hingeben.
Andererseits ist es eine unleugbare Tatsache, dass die Beschäftigung mit Christus durch das Wort und durch den Geist uns dahin führt, dass Er für uns alles wird und wir in unseren Augen nichts werden. Das kann und sollte soweit gehen, dass wir in der Glückseligkeit, die wir in Ihm und in Gott selbst finden, uns selbst ganz vergessen. Manche weise, bedachtsame Christen hören so etwas nicht gern. Sie sagen, man könne nicht dauernd im Geist auf solcher Höhe wandeln, man müsse auch wieder ins Tal hinabsteigen. Doch zeugt das wirklich von der geistlichen Weisheit solcher Christen? Kein Gläubiger wird sich in einem selbstüberheblichen Zustand befinden, während er mit vollem Bewusstsein in der Gegenwart Gottes weilt. Die Gefahr, dass er sich deswegen überhebt, weil er sich dort aufgehalten hat, wo viele andere nicht hingelangen, besteht erst dann, wenn er diese Gegenwart verlässt.
Brüder, wenn wir dem Apostel glauben, dürfen wir überzeugt sein, dass wir in Ihm bleiben und Er in uns. Diese Erkenntnis wird uns durch seine Liebe vermittelt, die in unsere Herzen ausgegossen ist durch den uns gegebenen Heiligen Geist, nicht durch unsere Gefühle, die so wandelbar sind wie der Mond und die uns verleiten, dass wir auf uns armselige und törichte Geschöpfe vertrauen. Die gesegnete Folge ist dann, dass wir uns in aller Einfalt Gottes rühmen „durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,11).
Beachten wir auch, wie charakteristisch es für den Apostel Johannes ist, nach der Behandlung eines Themas von höchster Erhabenheit ein Wort durchaus praktischer Belehrung folgen zu lassen, und wie nötig haben wir das! Die Belehrung ist nützlich für uns, denn Gott hat sie niederschreiben lassen, und Er weiß am besten, was seiner Verherrlichung in uns dient. „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, so ist er ein Lügner“ (V. 20a). In den Augen des Apostels war es kostbar, die Wahrheit zu tun, nicht nur über sie zu reden. Es ging ihm um die heilige Wirklichkeit.
Wenn nun jemand seinen Bruder hasst, so ist er ein Lügner. Niemand sprach so klar und, wenn nötig, ohne Rücksicht auf Menschen zu nehmen, wie Johannes. Trotzdem kann nicht geleugnet werden, dass seine Liebe sogar unter den Aposteln besonders herausragte. Sollte das nicht auch bei uns der Fall sein, da wir es Gott schuldig sind? Wie unterscheidet sich diese Liebe jedoch von dem, was man in unserer entarteten Zeit für Liebe hält. Man ahmt die Welt nach mit ihrem Grundsatz, jedem seinen eigenen Willen zu belassen und das Gewissen nicht in Übung zu bringen. Wie weit war der Apostel von einer solchen Denkweise entfernt! Ihm ging es darum, unter den Gläubigen das Böse ohne Scheu beim Namen zu nennen.
Was bei einem Namenchristen im vollen Umfang wirksam ist, kann bei einem wahren Bekenner teilweise vorhanden sein, wenn er nicht umsichtig und in Wachsamkeit wandelt. Der Ungläubige wird durch wissentliches Sündigen als eine Beute Satans fortgerissen. Wenn ein Gläubiger sündigt (nicht: in der Sünde lebt), so wird sein geistlicher Zustand dadurch geschwächt und der Geist Gottes betrübt. In einem solchen Zustand mag er sich seinem Bruder gegenüber in einer Weise verhalten, die Christi unwürdig oder sonst wie ungeziemend ist.
Wir haben gesehen, wie die Gnade in Tätigkeit tritt und wiederherstellt, obwohl das nicht immer sofort geschehen mag. Bis zur Wiederherstellung befindet sich der Gläubige in einem schmerzlichen Gegensatz zu Gottes Gedanken. Diese mangelnde Übereinstimmung mit Gott ist schwerwiegend; der Gläubige hat, um die Ausdrucksweise des 3. Buches Mose zu gebrauchen, „eine Erhöhung in der Haut seines Fleisches“, aber keinen Aussatz wie der, der seinen Bruder hasst. Gott kann jedoch dieses Böse zum Besten für andere dienen lassen. So sagt der Psalmist: „Die Übertretung des Gottlosen spricht im Innern meines Herzens [nicht: seines Herzens]: Es ist keine Furcht Gottes vor seinen Augen“ (Ps 36,2). Durch die Gnade dient ein solches Abweichen zur Warnung; denn alle Dinge wirken denen, die Gott lieben, zum Guten mit. Wir finden daher die praktische und eindrucksvolle Lektion in diesem Vers, dass wir uns davor zu hüten haben, die Wahrheit im Mund zu führen, aber nicht zu tun. „Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er gesehen hat, wie kann der Gott lieben, den er nicht gesehen hat?“ (V. 20). Die Logik hat noch niemals Liebe hervorgebracht und geht auch nicht über verstandesmäßige Folgerungen hinaus. Aber die neue Natur, durch die Christus in uns wirkt, bringt das hervor, was den Gedanken Gottes entspricht.
Wir brauchen über Dinge, die das Herz nicht in Übung bringen, nicht zu reden. Gott richtet die Umstände stets so ein, dass wir in praktischer Weise auf die Probe gestellt werden. Wie benehmen wir uns denen gegenüber, die unsere Brüder sind? Die Darstellung, die der göttlich belehrte Apostel von der Wahrheit gibt, lässt keine Ausflüchte zu. Er benutzt ein Bild, das in seiner Einfachheit fast kindlich (aber keineswegs kindisch) anmutet und doch göttlich und weise ist. Der Stolz des Menschen würde diese Illustration als belanglos betrachten. Menschen bilden sich ja ein, vollkommen zu sein und beanspruchen für sich die Freiheit, ihrem Unwillen und ihren Abneigungen freien Lauf zu lassen, wie es ihnen beliebt. Sogar Gläubige können durch die Umstände in manche Übungen kommen, etwa durch die verkehrte Handlungsweise eines Bruders. Muss ich den Bruder nicht dennoch lieben? Ganz gewiss! Sein Verhalten mag meiner Liebe eine andere Ausdrucksform geben, doch in jedem Fall muss ihm Liebe nach den Gedanken Gottes erwiesen werden, wenn dies auch nicht immer in der gleichen Weise möglich ist. Wendet man sich aber von einem irrenden Bruder mit Verachtung und Missfallen ab, zeigt man keine Bereitschaft, seine Last zu tragen, oder beweist man Gleichgültigkeit, wie sehr mangelt einem dann die wahre Liebe! Die Liebe erweist sich darin, dass man am Kummer des Bruders teilnimmt, sogar wenn er sich wegen seiner Verfehlung ungenügend gebeugt hat. Ein Tadel würde ihn vielleicht nur herausfordern, daher handelt die Liebe anders. Wir brauchen die Hilfe Gottes daher auf keinem anderen Gebiet so sehr, wie bei der praktischen Verwirklichung der Liebe.
Gläubige, die in der Liebe wandeln, wissen, wohin sie sich in Schwierigkeiten wenden können. Sie werden in dieser Hinsicht, wie auch in allen anderen Dingen, von Gott durch seinen Geist geleitet. Die Liebe gebärdet sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre. Sie weiß, alles zu ertragen oder zuzudecken, sie hofft alles, sie glaubt alles, sie erduldet alles. Was ist daher so ausdauernd wie die Liebe? Wenn alles andere versagt, so versagt die Liebe nie. Zu dieser Liebe sind wir in Christus berufen, und wir finden reichlich Gelegenheit, sie auszuüben. Da sind unsere Brüder, die wir „gesehen haben“, viele von ihnen sind in unserer Umgebung. Wenn ich mich in Umstände begebe, die mich hindern, meine Brüder zu sehen oder mich um sie zu kümmern, weil ich mich mit anderen Dingen beschäftige, die mir gefallen, so wandle ich nicht in der Liebe. Sollte dieses Verhalten bei mir zur Gewohnheit werden, dann befinde ich mich ganz sicher in einem gefährlichen Zustand. Es ist nötig, diesen Zustand zu verurteilen und Gott um Befreiung anzurufen. Möge die Bruderliebe bleiben!
Es gibt noch eine andere wichtige Sache, die hiermit in Verbindung steht. Das Thema wird hier ausführlich und in Übereinstimmung mit der wunderbaren, innigen Beziehung behandelt, in die wir zum Vater und zum Sohn gebracht sind. Die Liebe wird hier auf die gewöhnlichen Dinge des täglichen Lebens angewandt; hier erweist sich ihre Echtheit. Sie wird uns in einer anderen Form, in der eines Gebotes, vor Augen gestellt: „Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe“ (V. 21). Viele Christen meinen, dass es sich bei Geboten notwendigerweise um etwas Gesetzliches handeln muss. Sie denken daher bei diesem Wort stets an das Gesetz, den Dienst des Todes und der Verdammnis. Wer aber in das Evangelium des Johannes und in den von uns betrachteten Brief des Apostels tiefer eingedrungen ist, sollte besser darüber unterrichtet sein. Bei obigem Vers an das Gesetz zu denken wäre ein krasser Irrtum.
Die Bibel enthält im Alten wie im Neuen Testament eine Fülle von Geboten, die einen ganz anderen Charakter als das Gesetz haben. Der Unterschied ist klar. Die Satzungen des Gesetzes richteten sich an den Menschen im Fleisch, um seine Verderbtheit und Auflehnung gegen Gott unter Beweis zu stellen. Es war ihm daher unmöglich, auf dieser Grundlage auch nur einen Augenblick vor dem heiligen Gott bestehen zu können. Als aber die rettende Gnade Gottes erschien, gab Christus sich selbst für uns dahin, um uns von aller Gesetzlosigkeit loszukaufen und sich ein Eigentumsvolk zu reinigen, das eifrig in guten Werken ist. In diesen Zustand gebracht, benötigen und empfangen wir seine Gebote als eine Art göttlicher Wegweisung, die uns durch die Verwicklungen des Lebens sicher leiten soll. Während wir uns in dieser Welt befinden, gebietet uns Gott, Liebe zu üben, wenn Nöte und Leiden vorhanden sind. Dieses Gebot hat Er seinen Kindern auferlegt.
Angenommen, ein Ehemann würde seiner Frau etwas eindringlich einschärfen – nennen wir es nun ein Gebot seinerseits oder nicht –, würde sie es wohl lästig finden zu gehorchen? Wenn sie ihren Mann liebt, wird sie es sicher mit Freuden tun. Eine fremde Frau würde sich ein solches Gebot wohl verbitten, weil er kein Recht hat, ihr etwas zu gebieten. Man sieht den großen Unterschied zwischen den beiden Frauen; der Unterschied ist in der Beziehung der Personen zueinander begründet. Wir Gläubigen sind in die innigste Beziehung zu Gott gebracht, und Er legt es uns als sein Gebot aufs Herz, unseren Bruder zu lieben.
Es muss auch davon ausgegangen werden, dass der Ehemann manche Dinge besser kennen sollte als seine Frau; auf jeden Fall sollte er gegenüber seiner Frau die Führung haben. Die Verantwortung liegt bei ihm, er kann sich ihr nicht entziehen, ohne sich zu versündigen. Selbstverständlich muss er dafür Sorge tragen, sich in allem, was er sagt, von Gott leiten zu lassen. Tut er das, so ist es seine Pflicht, über die Ausführung seiner Wünsche zu wachen, während seine Frau dies nicht nur als Pflicht, sondern als eine Freude empfinden sollte. Wenn das schon bei Menschen einleuchtend ist, wie viel mehr geziemt es sich dann für ein Kind Gottes!
Er liebt mich in vollkommener Weise, hat mich zu seinem Kind gemacht und hat das Liebste, was Er hatte, seinen eigenen Sohn, meinetwegen nicht verschont, und das alles, als in mir nicht das geringste Liebenswerte vorhanden war. Jetzt liebt Er mich nicht mehr als einen Sünder, sondern als sein Kind. Sollte ich dann seine Gebote nicht als einen Gegenstand freudigen Vertrauens akzeptieren? Bei Ihm besteht ja keinerlei Frage bezüglich seiner vollkommenen Güte und Weisheit in allen seinen Wegen. Bei einem Ehemann oder einem irdischen Vater kann das nicht in vollkommener Weise erwartet werden. Trotzdem war es unsere Pflicht, unsere Eltern zu ehren und ihnen zu gehorchen, es sei denn, dass ihre Anordnungen in direktem Widerspruch zum klaren Worte Gottes gestanden hätten. Wie viel mehr sind wir dann dazu berufen, Gottes Willen bereitwillig und mit ganzer Liebe als seine Kinder auszuführen!
Unsere Beziehung zu Gott erlaubt in dieser Hinsicht keinerlei Ausnahme; wir sind zu absolutem Gehorsam berufen. Luther, in seiner ungestümen Art, mochte zu keiner Zeit den Jakobusbrief, weil er ihn nicht wirklich verstand. Er kam ja aus der Unwissenheit des Katholizismus und hatte sehr viel zu lernen; doch hätte ihm das Verständnis dieses Briefes großen Nutzen bringen können. Es stimmt freilich, dass Jakobus inspiriert wurde, über die Rechtfertigung „vor den Menschen“ zu schreiben; nicht über die Rechtfertigung, die „geglaubt“, sondern über die, die nach außen hin offenbar wird. Doch spricht er in diesem Zusammenhang in bewundernswerter Weise von dem „Gesetz der Freiheit“, das die Kinder Gottes jetzt leitet und regiert. Es steht im Gegensatz zu dem Gesetz Moses, dem Gesetz der Knechtschaft.
Gott hat seinen Kindern ein Gesetz der Freiheit auferlegt. Wie ist das zu verstehen? Die neue Natur begehrt über alles, den Willen Gottes auszuführen. Wenn ihr gezeigt wird, worin sein Wille besteht, dann bejaht das Herz ihn voll und ganz. Natürlich gehören dazu das Gebet und die Wachsamkeit gegenüber dem Fleisch. Auch versucht Satan, dem Gehorsam so viele Hindernisse wie möglich in den Weg zu legen. Wenn wir aber erst erkannt haben, was der Vater uns auferlegt, dann werden wir jedes Widerstreben als böse verurteilen und werden seinen Willen als ein Gesetz der Freiheit schätzen. Die neue Natur findet ihre Wonne darin; und Jakobus spricht ja mehr über die neue Natur als über die Erlösung, die von Paulus so ausführlich behandelt wird. In dem Kapitel des Jakobusbriefes, aus dem ich die obigen Worte zitierte, wird uns gesagt, dass Gott uns „nach seinem eigenen Willen“ uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt hat, „damit wir eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien“ (Jak 1,18). Dem Wesen nach ist das genau dasselbe, was Johannes das Leben und Petrus die göttliche Natur nennt. Dem Apostel Paulus wurde es insbesondere gegeben, das Erlösungswerk Christi zu entfalten und uns den gewaltigen Antrieb zu zeigen, den die gewaltsame, sich selbst aufopfernde Liebe Christi auf das Herz ausübt. Jakobus dagegen stellt uns die neue Natur vor, die dem offenbarten Willen Gottes entspricht. So erhalten wir durch die verschiedenen Apostel ein helles, konzentriertes Licht für uns.
In Vers 21 wird uns eindrücklich gezeigt, dass die Liebe zu unseren Brüdern nicht nur dem Wesen der neuen Natur entspricht, sondern von Gott als ein Akt des Gehorsams Ihm gegenüber verlangt wird. Was ist wichtiger für uns, aber was auch demütigender, als der Gehorsam? Gibt es etwas Geziemenderes, etwas, was dem Wesen Christi ähnlicher ist, als den Gehorsam? Es ist der Platz, den Christus in Vollkommenheit eingenommen hat, bis zur Hingabe seines Lebens in völliger Liebe zu uns. „Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen“ (Joh 10,18). War es Ihm deswegen lästig, weil es als ein Gebot vom Vater kam? Nein, für unseren Herrn Jesus bedeutete es eine zusätzliche und unermessliche Wonne, den Willen Gottes zu tun, koste es was es wolle. Seine vollkommene Liebe und das Gebot seines Vaters vereinten sich in diesem Begehren.
Eine ähnliche Aufforderung ergeht nun an uns, die Kinder Gottes zu lieben: „Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder liebe.“ Nicht nur sollten unsere Herzen zu dieser Liebe angetrieben werden, sondern wir wissen auch, dass wir Gott damit wohlgefallen und seinen Willen erfüllen. Und „wer den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit“, wie der Apostel vorher sagte (Kap. 2,17). Lasst uns nie vergessen, dass Gott die Liebe zu Ihm mit der Liebe zu seinen Kindern verknüpft. Er will das eine nicht ohne das andere haben. Seine Liebe sei unsere Liebe, seine Verherrlichung unsere Verpflichtung, denn Er liebt jeden Einzelnen von uns und alle zusammen mit derselben vollkommenen Liebe!