Behandelter Abschnitt Heb 5,11-14
Der Rest des Kapitels und das folgende Kapitel bilden einen langen und lehrreichen Exkurs über den Zustand der Angesprochenen, die umso mehr zu tadeln sind, als sie Zeit hatten, erwachsen zu werden. Das verbot es, das Thema Melchisedek zu eröffnen, das sonst glücklich hätte sein können. Es setzte sie sogar der Gefahr aus, sich vom Christentum abzuwenden, obwohl man Besseres von ihnen erwartete, da die Gnade bereits praktisch in ihnen gewirkt hatte. Daher werden sie einerseits ermutigt, Nachahmer derer zu sein, die durch Glauben und Geduld die Verheißungen ererben; und andererseits wird gezeigt, dass Gott die am meisten Erprobten und Schwachen durch Jesus hinter dem Vorhang, den für uns hineingegangenen Vorläufer, stark ermutigt hat.
Über diesen haben wir viel zu sagen, und es ist mit Worten schwer auszulegen, weil ihr im Hören träge geworden seid. Denn obwohl ihr der Zeit nach Lehrer sein müsstet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise. Denn jeder, der noch Milch genießt, ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene, die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen (5,11–14).
Es gibt kein größeres Hindernis für die geistliche Einsicht als die traditionelle Religion, und daher ist niemand so sehr davon betroffen wie die jüdischen Gläubigen. Die Weisheit der Welt ist ein weiteres großes Hindernis, das den Tadel und die Warnung des Apostels an die Gläubigen in Korinth hervorrief, besonders in 1. Korinther 2 und 3, und in ähnlichen Worten. Beide sind dem Glauben feindlich gesinnt, der sich nur aus dem göttlichen Wort ernährt und durch jede menschliche Beimischung beeinträchtigt wird. Aber von beiden ist der religiöse Widersacher der gefährlichere, weil er mehr scheinbare Ergebenheit und Demut hat und so, wenn auch grundlos, an das Gewissen statt an den bloßen Verstand appelliert. Die Folge ist, dass das Wachstum im Herrn unweigerlich gestoppt wird. Anstatt geistlich zu werden, bleiben die Personen fleischlich und kindlich. Denn der Heilige Geist ist betrübt und tadelt den Zustand, statt frei zu sein, um weiterzuführen und zu stärken, indem Er die Dinge Christi nimmt und sie solchen zeigt. Wir lernen dadurch, wie viel der sittliche Zustand mit der Erziehung des Gläubigen durch Gott zu tun hat; und wir können Ihm wohl danken, dass es so ist. Denn nichts ist gefährlicher, als in der Erkenntnis voranzukommen, wobei das Fleisch und die Welt unbeachtet bleiben: Der Teufel ergreift sofort seine Gelegenheit, die Unvorsichtigen und Leichtsinnigen zu stürzen und seine Unehre zu suchen, deren Namen sie tragen. Aber es ist kein Mittel gegen das Böse, sich von der Tradition beeindrucken oder von der Philosophie ablenken zu lassen. Der Heilige Geist hat reichlich Belehrung zu vermitteln; wenn wir aber abgestumpft und verdunkelt sind, weil wir auf anderen Feldern zu sammeln suchen, wird das Wort Gottes für uns schwer verständlich sein. Deshalb wird hinzugefügt: „weil ihr im Hören träge geworden seid“ (der Dativ der Bezugnahme, und daher natürlich im Plural).
Unser Herr hatte im ersten Evangelium die gleiche Schwierigkeit und Gefahr für seine Hörer in Israel angesprochen. Von jedem, der das Wort des Reiches hört, kommt, wenn er es nicht versteht, der Böse und reißt weg, was in sein Herz gesät wurde; wie andererseits der Same, der auf den guten Boden gesät ist, der ist, der das Wort hört und versteht (Mt 13,19.23). Bei Markus, im Hinblick auf den Dienst, geht es um die Frage, ob man das Wort annimmt oder nicht; bei Lukas, im Hinblick auf die Fremden aus den Heiden, geht es darum, „zu glauben“ und „gerettet“ zu werden, das Wort zu bewahren und mit Ausharren Frucht zu bringen. Aber der Jude, der in ständigem Kontakt mit religiösen Vorurteilen und Traditionen stand, war in besonderer Weise gefährdet, das Neue und von Gott stammende, die gegenwärtige Prüfung des Glaubens, nicht zu „verstehen“.
Der Apostel weist nun darauf hin, dass sie in der Wahrheit zurückgeblieben sind (nachdem sie sich so lange zu ihr bekannt hatten). „Denn obwohl ihr der Zeit nach Lehrer sein müsstet, habt ihr wieder nötig, dass man euch lehre, welches die Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes sind“ (V. 12). Die Christenheit ist demselben Vorwurf ausgesetzt, und zwar aus ähnlichen Gründen. Römer 11 hatte auf eine Gefahr hingewiesen, die ihr eigen ist und zu ebenso großer, wenn nicht größerer Selbstgefälligkeit führt, nämlich die Gefahr, sich für immer sicher zu wähnen und so die offensichtliche Ermahnung vom Ausschluss des Juden in die stolze Gewissheit der Immunität für das heidnische Einpfropfen umzudeuten. Es ist in der Tat genau die Schlinge, in die das römische System mehr als alle anderen gefallen ist – und ist es nicht auffallend, dass der Geist gerade dort diese Warnung ausgesprochen hat? Hier wird nur die Unterbindung des Lernens der Dinge Gottes bemerkt. Anstatt jetzt Lehrer zu sein, nachdem sie sich so lange zum Namen des Herrn bekannt hatten, mussten sie wieder in den Elementen des Anfangs unterrichtet werden. So ist es unter ähnlichen Bedingungen immer. Kein Mensch hat jemals durch das Studium der Theologie Einsicht in Gottes Wort erlangt, obwohl einige Theologen in gewissem Maß gewachsen sind, trotz dessen, was darauf berechnet ist, zu behindern und zu blenden. Es ist die allgemeine Wirkung, die den Charakter dessen beweist, was Gewinn oder Verlust bewirkt. Wer kann nun an der beklagenswerten Unkenntnis des Wortes Gottes in der gesamten Christenheit zweifeln? Und ist es nicht sicher, dass die Finsternis dort am größten ist, wo die Menschen am meisten durch die Tradition verschlossen sind und am wenigsten in der Heiligen Schrift suchen?
Zweifellos brauchen Menschen, die sich in diesem Zustand befinden, ein wirksames Mittel, damit sie befreit werden; und dieser Brief ist ein schönes Beispiel für die Wahrheit, die die Gnade zu diesem Zweck anwendet. Die Person Christi muss klar vorgestellt werden, und ihre eindeutige und gesegnete Verbindung mit Ihm durch sein Sühnungswerk wie auch seine Stellung und seine gnädigen Funktionen für sie in der Höhe. Das allein vertreibt alle irdischen Wolken und befreit sie aus dem Lärm und dem Staub der menschlichen Schulen. Deshalb verkündete der Apostel diese grundlegenden Wahrheiten, um sie zu befreien. Er deutet an, ja bekräftigt, dass sie in geistlicher Hinsicht Kinder waren, die die Elemente von neuem lernen mussten. Diese, die als die „Elemente des Anfangs der Aussprüche Gottes“ bezeichnet werden, bedeuten das, was Gott hier auf der Erde in Christus gegeben hat, kurz vor seiner Erlösung und seiner himmlischen Stellung, mit der Gabe des Geistes, die dem Christentum seinen wahren unverwechselbaren Charakter und seine Kraft verleihen. Die Augen der Jünger wurden gesegnet, weil sie sahen, und ihre Ohren, weil sie hörten, was viele Propheten und Gerechte zu sehen und zu hören begehrten, aber nicht erlangten. Die Vollendung der Erlösung und der neue Platz Christi im Himmel gingen weit darüber hinaus. Hier waren sie völlig begriffsstutzig, und zwar nicht so sehr in Bezug auf die Tatsachen, sondern vielmehr in Bezug auf ihre segensreiche Bedeutung und ihre Folgen für den Glauben sowie für die Herrlichkeit Gottes. So wenig kann es sich der Christ leisten, seine Zeit damit zu vergeuden, den Lebendigen unter den Toten zu suchen, und so schädlich ist es, wenn er sich von dem tatsächlichen Zeugnis Gottes über unsere Beziehungen abwendet und sich einem ungewissen und träumerischen Gefühl über die Vergangenheit zuwendet. Eine Sache wird nicht richtig verstanden: „wenn nun dein Auge einfältig ist, so wird dein ganzer Leib licht sein“ (Mt 6,22). Es ist nie so, wenn wir nicht auf Christus schauen, auf den Gott uns jetzt hinweist. In seinem Licht sehen wir das Licht. Wenn er hier versagt, wird der Christ heute wie damals zu einem Menschen, der Milch und nicht feste Nahrung braucht – eher eine Kost für Säuglinge als für Erwachsene: ein Zustand, der seit der Erlösung völlig ungewöhnlich ist.
Dieses Bild wird in den nächsten beiden Versen entfaltet. Der Milch wird keineswegs der ihr gebührende Stellenwert abgesprochen. Sie ist die gesündeste und geeignetste Nahrung für den Säugling; aber der erwachsene Mensch braucht eine ganz andere Nahrung für seinen entwickelten Zustand und seine entsprechenden Pflichten. „Denn jeder, der noch Milch genießt [der an der Milch Anteil hat], ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit, denn er ist ein Unmündiger; die feste Speise aber ist für Erwachsene, die infolge der Gewöhnung geübte Sinne haben zur Unterscheidung des Guten sowohl als auch des Bösen“ (V. 13.14).
Mit „genießt“ ist gemeint, dass man die Milch zum gewöhnlichen Gebrauch hat, so wie ein Säugling sie nicht als Teil- oder Gelegenheitsnahrung zu sich nimmt, wie es jeder könnte. Das Wort, das mit „erwachsen“ übersetzt wird, ist wörtlich „vollkommen“ und wird in der Authorized Version so oft verwendet, dass manche die wahre Bedeutung verlieren, die einfach die ist, erwachsen zu werden.
Dies ist das gegenwärtige Ziel des Evangeliums und seine Wirkung, wo immer Menschen sich der Gerechtigkeit Gottes in Christus unterwerfen. Wir finden dieselbe Wahrheit im Wesentlichen in Galater 3 und 4 dargelegt. Da der Glaube gekommen ist (d. h. dispensational), sind wir nicht mehr unter einem Erzieher, wie es das Gesetz bis zu Christus war; „denn ihr alle seid“, sagt der Apostel zu den Gläubigen in Galatien, „Söhne Gottes durch den Glauben an Christus Jesus“ (Gal 3,26). „Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Knecht, obwohl er Herr ist von allem; sondern er ist unter Vormündern und Verwaltern bis zu der vom Vater festgesetzten Frist. So auch wir: Als wir Unmündige waren, waren wir geknechtet unter die Elemente der Welt; als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen. Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!“ (Gal 4,1‒6).
Daraus können wir schließen, dass ein Verzicht auf Freiheit und Sohnschaft bedeutet, in der Knechtschaft des Gesetzes zu verharren und die Privilegien des Evangeliums zunichtezumachen. Weiterhin können wir feststellen, wie sehr die Furcht vor der Gnade Gottes dem Herzen eigen ist, das, selbst wenn das Evangelium dem Sklaven durch den Glauben an Christus Freiheit verheißt, immer dazu neigt, zu dem zurückzukehren, was aufgehoben ist (2Kor 3); und zwar sowohl bei den Heiden als auch bei den Juden: eine rückläufige Tendenz, die der Apostel immer und überall bekämpft. Was auch immer ihr Ursprung sein mag, ob weltliche Weisheit oder Gesetzlichkeit, es ist ein Übel, dem man nicht nachgeben sollte, zumal wir jetzt bei den Juden, für die man alte und liebgewonnene Gewohnheiten geltend machen könnte, kaum damit zu tun haben. Aber für den gewöhnlichen Christen, was kann man da als Entschuldigung anführen? Der auferstandene und aufgefahrene Christus stellt das von Gott angenommene Werk dar, durch das Frieden geschaffen wurde; und jeder Gläubige ist von allem gerechtfertigt, wovon niemand durch das Gesetz Moses gerechtfertigt werden konnte.
Die angesprochenen Hebräer waren mit dem Evangelium nicht weitergekommen. Sie waren wie Säuglinge, die Milch brauchen und keine feste Nahrung zu sich nehmen können. Es war nicht Gottes Wille, sondern es waren ihre Vorurteile und ihr Unglaube, die ihr Wachstum verhinderten. Der Gläubige, wenn er einfältig ist, geht, wie wir sagen können, sofort in die Sohnschaft über; wenn er sich mit sich selbst, mit seinen Ordnungen, mit seiner Versammlung oder mit irgendeinem anderen Thema beschäftigt, das ihn in Beschlag nimmt, als mit Christus, bleibt er ein Säugling wie jene Hebräer und ist in keiner Weise erwachsener als sie. Gott lässt sich nicht spotten, noch lässt Er es zu, dass sogar Gläubige ungestraft das Evangelium missachten oder daran zweifeln. Es bedeutet, die Knechtschaft vorzuziehen, wenn die Gnade die Freiheit verkündet, und Milch zu gebrauchen, statt feste Nahrung, die für die Erwachsenen geeignet ist; dennoch sollte jeder Christ erwachsen sein. Christus hat Ihn erlöst, auch wenn er ein Hebräer von Hebräern oder ein Pharisäer von Pharisäern ist, damit er die Gotteskindschaft in der Kraft seines Geistes erkennt.