Behandelter Abschnitt Heb 5,11 - 6,20
Wir hatten unsere Betrachtung bei Kapitel 6 Vers 7 unterbrochen und waren von da zu Kapitel 7 übergegangen. Lesen wir jetzt das Ende von Kapitel 6 und in Verbindung damit Kapitel 8. Bevor wir jedoch mit der Lehre dieses Briefes fortfahren, wollen wir noch einen kurzen Blick auf den ermahnenden Zwischensatz (wie wir ihn nannten) von Kapitel 6 werfen. Dieser Zwischensatz beginnt mit Vers 11 von Kapitel 5 und geht fort bis zum Ende von Kapitel 6. Wir haben bereits bemerkt, daß das, was der Apostel bei den gläubigen Hebräern befürchtete, kein Übel fleischlicher Art war, wie bei den Korinthern, sondern daß er vielmehr hinsichtlich der Lehre Befürchtungen hegte. Wir nehmen auch heute unter den Gläubigen ähnliche Unterschiede wahr. Da gibt es solche, deren Neigungen denen der Korinther gleichen, während andere mehr in die Fehler der Galater verfallen. Was der Apostel für die Hebräer befürchtete, war, daß sie Christus als den Gegenstand ihres Vertrauens aufgeben könnten.
Doch wohin sucht Gott unsere Herzen durch die Belehrungen Seines Knechtes zu führen? Wir lesen im 7. Vers: „Denn das Land, welches den häufig über dasselbe kommenden Regen trinkt und nützliches Kraut hervorbringt für diejenigen, um derentwillen es auch bebaut wird, empfängt Segen von Gott”. Das ist nicht Gesetz, sondern Gnade. Mose vertrat den Grundsatz des Gesetzes, der Herr Jesus führte den Grundsatz der Gnade ein; und Freude, Friede, Dankbarkeit, Liebe u.s.w. sind die kostbaren Kräuter, die einer solchen Bebauung des Bodens entsprechen. Wie steht nun deine Seele Gott gegenüber, mein lieber Leser? Hast du Ihn von dem Standpunkt des Gesetzes oder der Gnade aus kennen gelernt? Steht die Gemeinschaft deiner Seele mit Gott auf dem Boden der Freiheit der Gnade oder in der Furcht des kommenden Tages des Gerichts? Wenn das letztere der Fall ist, so kann kein Kraut hervorkommen, das für Ihn, der das Land bebaut, passend wäre. Dornen und Disteln sind das Erzeugis der Natur. Sie sind das natürliche Erzeugnis eines verderbten Bodens, sei es die Erde, auf der ich mich befinde, oder das Herz, das ich in mir trage. Wenn ich z.B. in einer gesetzlichen, selbstgerechten Gesinnung handle, indem ich mit Gott wie ein Richter verfahre, so entspricht das ganz und gar meiner verderbten Natur. Aber was hervorkommt, ist nichts wie Dornen und Disteln. Wandle ich jedoch als einer, der sein Vertrauen auf das Heil Gottes gesetzt hat, so bringt das Land nützliches Kraut hervor für denjenigen, der es bebaut.
Nun, der Apostel war im Blick auf die gläubigen Hebräer von diesen „besseren Dingen überzeugt” (Vers 9). Aber worauf gründete er seine Überzeugung? Nicht so sehr auf die Einfalt, in der sie die Gnade angenommen hatten, als vielmehr auf die Früchte der Gerechtigkeit, die sich unter ihnen zeigten (Vers 10). Und in der Tat, es sind schöne Früchte, die in Verbindung mit dem Heil gezeitigt werden; sie machen zwar nie das Heil aus, aber sie begleiten es. Deshalb sagt der Apostel im Blick auf jene liebliche Fruchtbarkeit bei den Hebräern: „Wir sind aber in Bezug auf euch, Geliebte, von besseren und mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt, wenn wir auch also reden”. Mit anderen Worten: Wir erheben wohl einen ernsten Warnungsruf, aber er ist nicht unmittelbar für euch bestimmt.
Nachdem der Apostel diesen Boden einmal betreten hat, verfolgt er den Gegenstand bis zum Ende des Kapitels und nimmt erst mit Kapitel 7 seine Belehrung wieder auf. Er bittet die Gläubigen fortzufahren, den Heiligen zu dienen. Zwei Dinge sind es, zu denen die Erkenntnis Christi die Seele führt: Zunächst zu einer verborgenen Gemeinschaft des Herzens mit Ihm und dann zu einer praktischen Energie im christlichen Wandel und in der christlichen Treue. „Wohlan denn”, sagt der Apostel gleichsam, „fahret fort mit der Ausführung des schönen, praktischen Werkes, das ihr angefangen habt! Werdet nicht träge, sondern seid „Nachahmer derer, welche durch Glauben und Ausharren die Verheißung ererben.”
Dann erinnert er an Abraham als den, dessen Hand bis zum Ende nicht erschlaffte. Abraham erhielt nicht nur die Verheißung in 1. Mose 15, sondern ging im Ausharren weiter, bis sie ihm durch einen Eid bestätigt wurde (1. Mose 22). So sind auch wir nicht nur zum Glauben berufen, sondern auch zum Ausharren des Glaubens. Vielleicht haben wir einen Trost, aber doch noch keinen starken Trost. Abraham empfing einen Trost in 1. Mose 15 und einen starken Trost in 1. Mose 22. Wir machen ähnliche Erfahrungen. Ein Gläubiger sagte einmal zu mir: „In meiner letzten Krankheit brachte der Herr mich so nahe zu Sich Selbst, daß ich das Gefühl hatte, als hätte ich Ihm vorher überhaupt nicht geglaubt.”
Der Apostel wünscht sehnlich, daß wir Abraham in 1. Mose 22 gleichen, „damit wir einen starken Trost hätten, die wir Zuflucht genommen haben zum Ergreifen der vor uns liegenden Hoffnung”. Diese Schriftstelle wird sehr oft falsch angewendet. Es handelt sich hier nicht um einen Sünder, der zu dem Blut des Lammes seine Zuflucht nimmt, sondern um einen Gläubigen, der sich von den Trümmern aller irdischen Erwartungen zu der Hoffnung der Herrlichkeit flüchtet. Wie steht es in dieser Beziehung mit uns, Geliebte? Prüfen wir uns ernst und aufrichtig! Sind wir, du und ich, überzeugt, daß alles, was diese Erde zu bieten vermag, nur ein Wrack ist? Sind wir in diesem Sinn Schiffbrüchigen gleich, die mit Sehnsucht nach dem Retter ausschauen? Oder tragen wir uns betreffs der Zukunft noch mit allerlei Hoffnungen, die sich mit der Erde verbinden? Erwarten wir noch etwas von „morgen”? Abraham war ein Mann, der jede irdische Erwartung ausschlug, sich von allen irdischen Aussichten abwandte, um die vor ihm liegende Hoffnung der Herrlichkeit zu ergreifen. „Er erwartete die Stadt, welche Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.” Vergessen wir nicht, daß der Apostel hier von dem Ergreifen der vor uns liegenden Hoffnung spricht; er sagt nicht: ergreifet das Kreuz. Das Wort Gottes hat eine Gründlichkeit und Tiefe, die sehr oft unserer Aufmerksamkeit entgeht.
Der Schreiber kehrt hierauf zu den levitischen Vorbildern zurück, indem er die vor uns liegende Hoffnung einen sicheren und festen Anker der Seele nennt, der in das „Innere des Vorhangs” hineingeht. Geht deine Hoffnung in das Innere des Vorhangs hinein? Setzt du nicht doch noch in der einen oder anderen Weise Hoffnung auf „morgen”? Soll dir der morgige Tag nicht bringen, was dir der heutige versagt hat? Frage dich ehrlich: Was ist der Gegenstand deiner Erwartung? Woran hängt dein Herz noch? Ist es die Hoffnung auf die Wiederkehr Christi, oder hast du noch Erwartungen für den morgigen Tag?
„Wohin Jesus als Vorläufer für uns eingegangen ist”, heißt es dann weiter. Der Herr Jesus wird hier in einem anderen und neuen Charakter vor unsere Blicke gestellt. Nicht nur ist Er als Hoherpriester für uns im Himmel, sondern Er ist auch hingegangen, um droben bei Sich Selbst eine Stätte für uns zu bereiten. O wenn wir doch die Herrlichkeiten des gegenwärtigen Zeitabschnittes, der jetztigen Haushaltung Gottes, besser entfalten könnten! Sie ist voller Herrlichkeiten. Jesus befindet Sich jetzt im Himmel in der Herrlichkeit eines Vorläufers, eines Hohenpriesters, des Reinigers unserer Sünden. Er thront dort, mit strahlenden Herrlichkeiten umgeben. In den Himmeln des tausendjährigen Reiches wird Er Sich mit anderen Herrlichkeiten bekleiden; auch wird Er dann auf der Erde König der Könige und Herr der Herren sein. Jetzt ist Er das nicht; aber es gibt andere Herrlichkeiten, in denen das Auge des Glaubens Ihn jetzt schaut. Gehen wir doch hin und sinnen mit zerbrochenen Herzen über die Herrlichkeiten nach, die dem „Ende dieser Tage”, wie es in diesem Brief genannt wird (Heb 1,1), angehören!