Behandelter Abschnitt Titus 1,8-9
Wie gesegnet ist der Gegensatz zu all diesen unschönen Zügen, die wir in Christus sehen! Und wenn jeder Christ berufen ist, Christi Brief zu sein, wie viel mehr sind es dann die Ältesten? Wie könnte jemand, von dem man weiß, dass er eines dieser bösen Dinge tut, das Versagen anderer mit irgendeinem Anschein von Konsequenz tadeln? sondern gastfrei, das Gute liebend, besonnen, gerecht, fromm, enthaltsam, anhängend dem zuverlässigen Wort nach der Lehre, damit er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen als auch die Widersprechenden zu überführen (1,8.9).
Die Abwesenheit böser Eigenschaften ist nicht genug. Die Versammlung Gottes ist der einzige Bereich auf der Erde für die Ausübung und Entfaltung dessen, was Gott entspricht. Deshalb kann es den Geist Gottes niemals befriedigen, wenn jemand, der ein Amt innehat, sich lediglich von den gewöhnlichen Fallstricken hütet. Der Aufseher war dazu berufen, gastfrei zu sein, ohne einen Gedanken an eine Gegeneinladung oder Anerkennung; und wir wissen aus anderen Schriften, dass dies nicht nach der Art der Menschen, sondern nach dem Glauben ausgeübt werden sollte. So werden im Hebräerbrief die Gläubigen im Allgemeinen aufgerufen, die Gastfreundschaft nicht zu vergessen, „denn durch diese haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt“ (Heb 13,2). Es ist also klar, dass dies nicht im Geringsten auf der Grundlage von Vorwissen oder sozialer Gleichheit geschah. Hätte es einen Verdacht gegen einen Fremden gegeben, so hätte das sicher jede solche Bewirtung ausgeschlossen, wie sie Gottes Wort von alters her berichtet und heute empfiehlt. So nahm Abraham in Glauben und Liebe nicht nur Engel, sondern den Herrn selbst in Menschengestalt als Gast auf. Gastfreundschaft wie diese sollte nicht auf die lange Bank geschoben oder als Tugend der Erzväter ohne praktische Auswirkungen bewundert werden. Ohne Frage sollte der Aufseher nicht hinter den Gläubigen im Allgemeinen zurückstehen, sondern jemand sein, der die Gastfreundschaft liebt.
Aber das ist nicht alles; denn wir lesen als nächstes, dass ein Ältester „das Gute liebend“ soll, nicht, dass er „gute Menschen“ lieben soll, sondern dass er Güte liebt – ein wichtiger Schutz nicht nur bei der Ausübung von Gastfreundschaft. Ein Ältester könnte sonst leicht in Selbstgefälligkeit verfallen; und Nachsicht mit sich selbst ist immer ein Dienst Satans. Christus allein zeigt uns wahrhaftig und vollkommen, was das Gute ist, und macht es für uns nicht nur anziehend, sondern es ist Kraft für den Geist und den Wandel. Der Aufseher sollte daher „das Gute lieben“.
Außerdem sollte er „besonnen“ oder nüchtern sein. Ein Mensch, der das Gute liebt, könnte leicht ein Gefühlsmensch werden oder in Begeisterung verfallen; aber der Geist Gottes gibt Nüchternheit: „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2Tim 1,7). So wird alles an seinem richtigen Platz gehalten, denn durch Ihn sehen und beurteilen wir alles in der Gegenwart Gottes.
Daher sollte der Aufseher „gerecht“ sein; er muss die Beziehung der anderen und seine eigene richtig einschätzen: Das ist ein äußerst wichtiges Element, nicht nur allgemein, sondern besonders für jemanden in dieser Stellung. Nichts würde sein Gewicht mehr schwächen als ein Versagen in der Gerechtigkeit. Doch „gerecht“ zu sein, ist nicht genug. Es ist natürlich zwingend erforderlich; aber es muss noch mehr dazukommen.
Der Aufseher, so wird zu gegebener Zeit als eine höhere Forderung hinzugefügt, muss „fromm“ (ὅσιος) oder „heilig“ in diesem Sinn sein. Die Bedeutung ist nicht „getrennt vom Bösen“, sondern eher gnädig und aufrichtig, und wird so besonders von Christus im Alten wie im Neuen Testament gebraucht.3 Es ist jener Charakter der Frömmigkeit, der Gottes Barmherzigkeit schätzt und selbst barmherzig ist. Dies wird von einem Ältesten erwartet, während er und alle Gläubigen (ἅγιοι) oder Heilige waren.
Außerdem sollte er „enthaltsam“ sein, ein Ausdruck, der in unseren Tagen sehr verengt und falsch angewandt wird. Es bedeutet Selbstbeherrschung in jeder Hinsicht. Ein enthaltsamer Christ stellt alle Gefühle oder Neigungen unter die Kontrolle der Gegenwart, der Gnade und der Furcht Gottes.
Das sind die moralischen Qualitäten, auf die der Geist Gottes bei den Ältesten besteht, sowohl positiv als auch negativ. Aber es gibt einen Zusatz von großem Wert in Vers 9: „anhängend dem zuverlässigen Wort nach der Lehre, damit er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen als auch die Widersprechenden zu überführen.“
Hier zeigt sich die notwendige Befähigung zum Lehren in der besonderen und doppelten Verpflichtung, für die sie gefordert wird. Es geht nicht nur um einen formellen Dienst in der Versammlung. Die Arbeit des Ältesten liegt ebenso sehr, oder vielleicht sogar mehr, bei den Nöten und Gefahren einzelner Gläubigen im täglichen Leben. So jemand muss unbeweglich an dem treuen Wort festhalten. Jede Unsicherheit im Wort Gottes – sei es in seiner eigenen Auffassung davon oder in seinem Umgang damit für andere – würde die Aufgabe, die ihm zur Ausführung aufgetragen wurde, entsprechend untergraben. Der Älteste handelt jedoch nicht nach seiner eigenen Weisheit, noch kommt seine Autorität von ihm selbst, genauso wenig wie von denen, die die Versammlung bilden. Er ist Gottes Verwalter, und der Heilige Geist macht ihn zu einem Aufseher, nicht über irgendeine Herde, unter der er arbeitet („meine Leute“, wie die Menschen sagen, oder „meine Kirche“), sondern über „die Herde Gottes“.
Das treue Wort muss daher sowohl Maßstab für seinen Wandel sein, als auch die Quelle, aus der er schöpft, was immer er an Material verwendet; und dies nicht, um Fragen zu nähren oder der Phantasie zu frönen, „sondern die Wahrheit festhaltend in Liebe“ (Eph 4,15). Obwohl er mit Autorität ausgestattet ist, steht er selbst unter Autorität. Er ist der Verwalter Gottes, damit Gottes Wille geschieht und der Wille des Menschen zurückgedrängt wird. Gott ist nicht der Urheber der Unordnung, sondern des Friedens, der alles anständig und geordnet geschehen lassen will. So muss das Licht des treuen Wortes den Ältesten und auch den Christen leiten. Die Lehre, mit der er selbst belehrt wird, kann allein bestimmen, wie diese Ordnung ist; und nun ist sie in der Schrift festgehalten. An diesem treuen Wort Gottes muss der Aufseher also festhalten und fremde Vorstellungen wie Gift meiden. Es war auch nicht nur für seine eigene Führung gedacht. Die Ältesten sollen vorstehen, und da sie durch den Heiligen Geist dazu befähigt wurden, sind sie feierlich verantwortlich, „wohl vorzustehen“. Aber wenn irgendjemand „doppelter Ehre würdig“ war, dann galt das besonders für die, die sich im Wort und in der Lehre arbeiteten (1Tim 5,17), was einige, wenn auch nicht alle, tun konnten.
In dem Konflikt der Umstände, mit dem der Aufseher notwendigerweise konfrontiert wird, gibt es zwei Bedürfnisse, die ständig seine Sorge beanspruchen: einerseits die Notwendigkeit, einige zu ermutigen, andererseits „die Widersprechende zu überführen“. Deshalb sagt der Apostel in diesem Abschnitt: „Damit er fähig sei, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen [oder zu trösten] als auch die Widersprechenden zu überführen“ (V. 9). Für beides ist ein einfältiges Auge nötig; aber das treue Wort ist das Mittel oder die Waffe in jeder Hinsicht, schärfer als jedes zweischneidige Schwert, das sowohl trennen als auch verwunden kann. Der Aufseher würde diese Pflicht von Zeit zu Zeit ausüben müssen, und das treue Wort allein würde ihn befähigen, sowohl mit der gesunden Lehre zu ermahnen, als auch die zu entlarven, die ihre eigenen Dinge suchten und nicht die Dinge Jesu Christi.
In den späteren Briefen können wir die traurige Entwicklung beobachten, dass das Böse in der Versammlung Gottes immer mehr zunimmt. Es war schon früh eingedrungen, obwohl apostolische Wachsamkeit und Macht es in Schach hielten; aber es war nie und nirgends ganz verschwunden. Unser Herr hat uns darauf vorbereitet, nicht als eine Frage der Gemeinschaft für die Versammlung, sondern dort, wo das Wort des Evangeliums in der Welt gesät wird; denn „das Feld“, wie Er es auslegt, ist die Welt. Auf diesen Acker wurde schon früh vom Feind Unkraut gesät, und es war den Dienern Christi verboten, es auszurotten. Das hätten sie aufgrund ihrer Vorurteile als Juden nur zu gern versucht. Aber der Herr lässt sie wissen, dass auf dem Feld Weizen und Unkraut, wie traurig ihre Vermischung auch sein mag, bis zur Ernte zusammen wachsen sollten. Es ist Sache von Engeln, sich mit dem Unkraut zu befassen, wenn das Gericht kommt.
Aber inzwischen ist dies der Tag der Gnade, nicht des Gerichts. Die Diener des Herrn sollen das Gute säen und nicht versuchen, das Böse aus der Welt auszurotten. Das Unkraut auszurotten, würde mindestens den Tod bedeuten. Dies führt einerseits die falsche Kirche in offenem Ungehorsam gegenüber dem Herrn aus; andererseits ist die Zucht in der wahren Kirche bis hin zum Ausschluss nach dem Willen des Herrn. In der Tat hört die Kirche auf, Kirche zu sein, wo diese unveräußerliche Verpflichtung abgelehnt wird.
3 Der Leser kann Psalm 16,10; 89,18.19 und so weiter und Apostelgeschichte 2,27; 13,34.35 zu Rate ziehen, die auch für andere gelten.↩︎