Behandelter Abschnitt Titus 1,2-3
Wenn das Christentum mit dem Glauben der Auserwählten Gottes verbunden ist, so ist es gerade deshalb auch mit der „Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“. „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,17). Schatten und äußere Beobachtungen werden nun als eitel behandelt. Der Leib ist des Christus. Die Wahrheit muss durch den Glauben erkannt werden, eine Wahrheit, die der Gottseligkeit entspricht: Sonst hätte der Apostel sie nicht als solche abgelehnt, die keine lebendige Beziehung zu Christus haben. Damit kann der Leser 1. Timotheus 3,16 vergleichen, wo die Wahrheit der Person Christi als das Geheimnis der Gottseligkeit dargelegt wird.
Der Apostel setzt fort, was bereits mit der Beschreibung seiner Mission begonnen wurde. Es war in der Hoffnung des ewigen Lebens, das Gott, der nicht lügen kann, verheißen hat2 vor ewigen Zeiten; zu seiner Zeit aber hat er sein Wort offenbart durch die Predigt, die mir anvertraut worden ist nach Befehl unseres Heiland-Gottes (1,2.3).
Das ewige Leben ist dem Gläubigen jetzt wirklich gegeben; und das ist eine Offenbarung, die in den Schriften unseres Apostels keineswegs ungewöhnlich ist. Johannes betrachtet in seinen Schriften mehr den Aspekt, dass wir das ewige Leben jetzt besitzen, sei es in seinem Evangelium oder in seinem ersten Brief. Aber Paulus behandelt es häufig in Bezug auf seine zukünftige Entfaltung, wie in den synoptischen Evangelien. In seinem bekannten Abschnitt in Römer 6,22.23 wird das deutlich: „Ihr habt eure Frucht zur Heiligkeit, als das Ende aber ewiges Leben. Denn der Lohn der Sünde ist der Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“ Er hat das Leben in der Herrlichkeit vor Augen.
Hier beschreibt er sein Wirken als Apostel in der Verkündigung als bedingt durch die Hoffnung auf das ewige Leben. Sie unterscheidet sich damit völlig von den Erwartungen des frommen Juden in alttestamentlicher Zeit, die sich im Wesentlichen auf die Verheißungen Gottes an die Väter gründeten. Wenn ein Prophet überhaupt vom ewigen Leben sprach, war es mit dem zukünftigen Reich des Messias verbunden. Unter seinem Zepter erwartete der Israelit jeden äußeren Segen, alle Ehre und Macht sowie Güte von Gott, die Entfaltung von Wohltaten und Segen in jeder Form; und all das wird sicher auf der Erde vollbracht werden, ohne Versagen oder Zurückhaltung, nach dem Wort des lebendigen Gottes.
Das Werk des Apostels hatte einen ganz anderen Charakter; denn es beruhte auf der völligen Verwerfung und der himmlischen Erhöhung des Herrn Jesus, wodurch jene Hoffnung auf das ewige Leben jetzt verwirklicht wird, und zwar in einer Weise, die dem Zeugnis der Propheten völlig überlegen ist (Ps 133, Dan 12). So hat der Herr als der große Prophet auf dem Ölberg erklärt, dass die lebenden Gerechten der Nationen, die von den Bösen getrennt sind, in das ewige Leben eingehen, wenn Er als Sohn des Menschen in seiner Herrlichkeit gekommen sein wird. Auch die Schafe erkennen nur wenig ihren Platz: Die Gnade wird überreichlich sein. Aber der Apostel fährt fort zu zeigen, dass die Verheißung, die der Christ tatsächlich genießt, nicht nur über die Propheten oder das Menschengeschlecht auf der Erde hinausgeht, sondern zurück in die Ewigkeit. Dies war notwendigerweise eine Verheißung innerhalb der Gottheit. Der Gott, der nichts Falsches kennt, hat es vor ewigen Zeiten verheißen. So sehen wir in 2. Timotheus 1,9, dass Gott „uns errettet hat und berufen mit heiligem Ruf, nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben … worden ist“. Es war eine Verheißung innerhalb der Gottheit, als weder die Welt noch der Mensch existierten, und hatte daher einen weit höheren Charakter als Verheißungen, die den Vätern in der Zeit gegeben wurden.
Diese Zeiten, die von bemerkenswerten Prinzipien seitens Gottes geprägt sind, sind mit der Geschichte der Prüfung und des Versagens des Menschen in jeder Form beschäftigt. Zuerst sehen wir ihn unschuldig und im Paradies, umgeben mit allem Guten, jedoch mit einer einzigen, an sich geringfügigen Ausnahme auf, die auf denkbar einfache Weise seinen Gehorsam prüfte. Das genügte: Der Mensch fiel, nicht allein durch eine Täuschung, wie die Frau – er übertrat durch die Frau wissentlich und vorsätzlich. War der Mensch besser, als er aus dem Paradies verstoßen sich selbst überlassen war, mit dem Urteil des Todes vor Augen? „Und der Herr sah, dass die Bosheit des Menschen groß war auf der Erde und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag“ (1Mo 6,5). So wurde der Mensch mit der niedrigeren Schöpfung von der Erde weggefegt. Ein Überrest wurde verschont und überlebte die Sintflut in Gottes Barmherzigkeit, und die Erde kam in einen neuen Zustand; denn Gott setzte das Schwert zur Regierung ein.
Nach einem vergeblichen Versuch (wie wir in 1Mo 11 sehen), sich mit der Stadt und dem Turm zu Babel einen Namen zu machen, zerstreute der Herr sie nach ihren Geschlechtern und Sprachen in ihre Länder und Völker. Dann, als der Götzendienst sich auf der Erde ausgebreitet hatte, wurde der Mensch durch Verheißung berufen und auserwählt und in der Person Abrahams und seiner Nachkommenschaft für Ihn abgesondert. Aber selbst als sie den Segen durch die göttliche Befreiung aus dem bedrängenden Ägypten erlebten, wussten sie den Reichtum der göttlichen Gunst nicht zu schätzen. Deshalb antwortete das Volk, als der Segen am Sinai unter der Bedingung ihres eigenen Gehorsams vorgestellt wurde, einstimmig: „Alle Wort, die der Herr geredet hat, wollen wir tun“ (2Mo 24,3.7).
Auf einer solchen Grundlage hat der sündige Mensch nie gestanden und kann er auch nicht stehen: „... nicht aus Gesetzeswerken, weil aus Gesetzeswerken kein Fleisch gerechtfertigt werden wird“ (Gal 2,16). „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20), ist aber niemals Macht gegen sie. „Denn das Gesetz bewirkt Zorn“ (Röm 4,15). „... die Kraft der Sünde aber [ist] das Gesetz“, sagt unser Apostel (1Kor 15,56). Das Gesetz „wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt“ (Gal 3,19); denn Sünden gab es schon lange vorher; „als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf“ (Röm 7,9) und machte seine Übertretung sie zu offenkundiger Sünde, und so wurde die Sünde überaus sündhaft. Das Gesetz konnte die Sünde nur provozieren und verurteilen.
Daher ist die Rechtfertigung umsonst „durch seine Gnade durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist“ (Röm 3,24). Deshalb sagt er an anderer Stelle: „Denn so viele aus Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch“ (Gal 3,10). Es ist eine Aussage von ungewöhnlicher Kraft; nicht so viele, wie das Gesetz gebrochen haben, sondern so viele, wie auf diesem Grund oder Prinzip stehen. „Denn es steht geschrieben: ,Verflucht ist jeder, der nicht bleibt in allem, was im Buch des Gesetzes geschrieben ist, um es zu tun!‘“ (Gal 3,10b). Das Gesetz konnte einen Sünder verfluchen, jedoch nicht retten.
Nun wird dies aus 5. Mose 27 zitiert, in welchem Kapitel der Sachverhalt ebenso auffällig ist wie die Worte des Apostels an die Galater. Denn Mose befahl dem Volk, sechs Stämme auf den Berg Gerisim zu stellen, um sie zu segnen, und sechs auf den Berg Ebal, um sie zu verfluchen. Aber in der Fortsetzung des Kapitels haben wir die Flüche sorgfältig aufgezeichnet, die die Leviten zu allen Männern Israels sagen sollten, ohne ein Wort der Bestimmung für ihren Segen! „Denn so viele aus [oder von, durch, aufgrund] Gesetzeswerken sind, sind unter dem Fluch“ (Gal 3,10; 5Mo 27,26). Es gibt keinen Segen, der auf der Grundlage des Gesetzes vorgesehen oder möglich ist. Nur die, die aus Glauben sind, sind wirklich gesegnet, alle anderen nicht. „Das Gesetz aber ist nicht aus Glauben“ (Gal 3,12). Es bewirkt Zorn und Fluch: nicht, dass das Gesetz nicht gerecht wäre, denn das Gebot ist heilig, gerecht und gut (Röm 7,12); aber der Mensch ist sündig. „Das Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde“ (Röm 5,20). Es ist ein „Dienst des Todes“ (2Kor 3,7) und der Verdammnis. Die Sünde war lange vor dem Gesetz, wie wir am Geschlecht des gefallenen Adam sehen. Sünde ist nicht „Übertretung des Gesetzes“, sondern Gesetzlosigkeit (1Joh 3,4). Das Gesetz machte das Böse deutlich und die unentschuldbare Rebellion gegen Gottes bekanntes Gebot.
Die Propheten, die die wachsende Rebellion Israels und sogar des begünstigten Juda aufzeigten, drangen immer wieder laut an ihre Ohren und erinnerten sie stets an ihre einzige Hoffnung auf den kommenden Messias, „damit die Verheißung aus Glauben an Jesus Christus denen gegeben würde, die glauben“ (Gal 3,22). „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz“ (Gal 4,4). Aber die Juden lehnten Ihn ab, ja, sie verabscheuten Ihn, so dass sein Stab Huld zerbrochen wurde (Sach 11,10), damit Er seinen Bund, den Er mit allen Völkern geschlossen hatte, brechen konnte. Denn wie könnte es die vorausgesagte Sammlung oder den Gehorsam der Völker zu Ihm geben, wenn die Seinen Ihn nicht aufnahmen? Sie taten Schlimmeres; sie wägten für seinen Preis dreißig Silberstücke dar, und das Feld des Töpfers wurde zum Blutacker, Akeldama. Dann wurde sein anderer Stab, nämlich Verbindung, zerbrochen, wodurch Er die Bruderschaft zwischen Juda und Israel zerbrach.
Die letzte Verbindung wurde im Kreuz des Herrn Jesus zerbrochen, sogar für die beiden Häuser Israels. Aber die souveräne Gnade legte durch eben jenes Kreuz den Grundstein für ein völlig neues Werk, dessen Urheber und Krone der zur Rechten Gottes im Himmel erhobene Sohn des Menschen ist. Während Israel und die Nationen für alles, was an irdischem Segen und Herrlichkeit vorhergesagt war, gänzlich verschwinden, wird das Haupt der neuen Schöpfung in der Höhe offenbart und der Heilige Geist auf die Erde gesandt. So steht jedem Gläubigen eine Tür der Barmherzigkeit offen, und zwar zu Bedingungen der unterschiedslosen Gnade. Das ist das Christentum für den Glauben der Auserwählten Gottes, nach dem Paulus Apostel war. Könnte sein Amt einen edleren Charakter haben? Damit ist jener neue Bau Gottes verbunden, die Versammlung, der Leib Christi.
So sehen wir, dass das, was Gott, der nicht lügen kann, vor ewigen Zeiten verheißen hat, jetzt auf den Gläubigen scheint. Was zuerst beabsichtigt war, ging zuletzt in Erfüllung. Hier aber ist es eher in der Absicht und auf die Hoffnung hin, dass uns das ewige Leben vorgestellt wird. Es ist nicht weniger wahr, dass dieses Leben in seinem Sohn ist (1Joh 5,11). Es gibt kein solches Leben in irgendeinem anderen. Der erste Adam war bestenfalls eine lebendige Seele; der letzte Adam ein lebendig machender Geist. Wie Christus, unser Leben, von den Toten auferstanden ist, so ist der Charakter des Lebens, das wir in Ihm empfangen. Es ist das Leben, nachdem die Erlösung bewirkt wurde, damit denen, die mit Ihm lebendig gemacht werden, alle ihre Vergehungen vergeben werden, die mit Christus gestorben und mit Ihm auferstanden sind und sogar, wie der Epheserbrief hinzufügt, mitsitzen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus.
Hier geht der Apostel jedoch nicht so sehr auf die himmlische Gemeinschaft ein, sondern auf die wundersame Tatsache, dass das Leben des Christen ein ewiges Leben ist, das verheißen wurde, bevor die Welt begann, und das außerhalb der Zeiten oder Haushaltungen in Gottes Umgang mit den Menschen auf der Erde steht. Es leitet seinen Charakter von dem ab, der ewig ist, der Weg und die Wahrheit, das Haupt, das Zentrum, der Ausdruck und das Ziel aller Absichten Gottes. Dies haben wir jetzt, wie wir es in der Herrlichkeit mit Ihm haben werden; und deshalb wird gesagt, dass es auf Hoffnung beruht oder durch sie bedingt ist.
Es gibt auch nichts Unbestimmtes oder Ungewisses. Es ist kein Gesetz, das etwas verlangt, was bestenfalls nicht erfüllt werden kann, ja muss; denn das Versagen liegt unabänderlich in der Hand des Menschen. Es ist Gottes Wort, das sich in der Verkündigung zeigt, die seine Autorität durch seine Wahrheit, die sichere Offenbarung seines Geistes, zum Guten wendet. „Wir sind aus Gott [sagte ein anderer Apostel]; wer Gott erkennt, hört uns“ (1Joh 4,6). Nicht zu hören ist der Geist des Irrtums. Während der Zeit der Bewährung des Menschen hat das Gesetz ihn charakteristisch auf die Probe gestellt. Jetzt offenbarte Gott sein Wort zu seiner Zeit. Es war ein göttliches Werk, von dem gesagt werden konnte: „nach der Erkenntnis der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“ (1,1). Es ist nicht zur Übung des Intellekts gedacht. Die Gottseligkeit ist das Vorbild und Ziel.
2 Dies ist eine in sich eigentümliche Formulierung, die sich nur schwer gut und wahrhaftig ins Englische übertragen lässt. „Ewig“ ist klar, da es von Gott, dem Leben, der Bestrafung der Sünde und so weiter gesagt wird. Aber in Kombination mit „Zeiten“ wirkt es hart, wie in Römer 16,25, und noch mehr, wo πρὸ vorausgeht, wie in 2. Timotheus 1,9 und hier. Mr. T. S. Green gibt „in aller Zeit“ beziehungsweise „vor aller Zeit“ an, was für den ersten Fall schwach oder schlechter erscheint. Mr. Darby zieht für Römer 16 „in [den] Zeiten der Zeitalter“ vor, und für 2. Timotheus und Titus „vor den Zeitaltern der Zeit“. Aber warum so invertieren? Wäre es nicht besser, in allen dreien an der gleichen Reihenfolge festzuhalten, „Zeiten der Zeitalter“? Vielleicht wäre sogar „ewige Zeiten“ zulässig, denn obwohl die A. V. „ewig“ und „immerwährend“ austauschbar verwendet, ist das letztere nicht unbedingt so absolut wie das erstere. Wir könnten sagen „vor immerwährenden Zeiten“, aber kaum „vor ewigen Zeiten“, und das aus mehreren Gründen. Es ist unbegründet, einen Sinnunterschied zwischen dem Gebrauch in 2. Timotheus 1 und Titus 1; und der Wunsch entspringt einem Missverständnis der Wahrheit.↩︎