Behandelter Abschnitt 1Tim 6,20-21
Der Schluss ist eine ernste Aufforderung, die nie mehr zur rechten Zeit kam als in diesem Augenblick, wo die Eitelkeit wissenschaftlicher Spekulationen die Menschen immer mehr dazu verleitet, die Offenbarung zu verachten.
O Timotheus, bewahre das anvertraute Gut, indem du dich von den ungöttlichen, leeren Geschwätzen und Widersprüchen der fälschlich so genannten Kenntnis wegwendest, zu der sich bekennend einige von dem Glauben abgeirrt sind. Die Gnade sei mit dir! (6,20.21). „Das anvertraute Gut“ bedeutet hier, wie in 2. Timotheus 1,14, die von Gott durch seine auserwählten Werkzeuge anvertraute Wahrheit, die göttliche Offenbarung, die in Worten vermittelt wird, die vom Heiligen Geist gelehrt werden, das Muster der gesunden Worte, die Timotheus von Paulus in Gegenwart vieler Zeugen gehört hat. Es ist weder die Seele und ihr Heil auf der einen Seite, noch auf der anderen Seite das geistliche Amt, ja nicht einmal die Gnade des Geistes. Es ist die vollkommene Mitteilung dessen, was Gott in seiner Natur, seinen Wegen, Beziehungen und Ratschlüssen ist. Diese Offenbarung allein gab, wie die Inspiration jetzt allein begründet. Sie ist nicht nur das Werkzeug des Dienstes, sondern auch sein Schutz, ebenso wie der derer, denen er ausgeübt wird; denn die Gnade will allen einen untrüglichen Maßstab gewähren. Das ist nicht die Versammlung, noch kann sie es der Natur der Sache nach sein: Die Versammlung ist nicht die Wahrheit, sondern ihr Pfeiler und ihre Grundfeste, wie die Wahrheit jedes Glied Christi herausruft und das Ganze bildet und gestaltet. Nur dort, unter den Menschen, ist die Wahrheit deutlich eingeschrieben und wird sie erhalten. Wo sonst wird das Wort Gottes hier auf der Erde verantwortlich bezeugt oder dargestellt?
Zweifellos hatte Timotheus einen besonderen Platz entsprechend der ihm erwiesenen Gunst, der vorbehaltlos bekanntgemachten Wahrheit, der ihm gegebenen Stellung und der ihm zugewiesenen Aufgabe und Arbeit, wie wir vom ersten bis zum letzten Teil dieses Briefes sehen. Aber wenn wir unser Maß nicht überschreiten und uns nicht in die besonderen Pflichten dieses geschätzten Mitarbeiters des Apostels einmischen dürfen, so sind wir an unserem Platz nicht weniger verpflichtet, die Wahrheit zu hüten, die jetzt unserer Obhut anvertraut ist. Es ist der erklärte Turm der Sicherheit in diesen letzten Tagen der Täuschung und des Eigenwillens – jede Schrift als von Gott eingegeben anzuerkennen und zu anzunehmen.
Aber mit dem Festhalten und der Unterwerfung unter die Wahrheit ist die Notwendigkeit verbunden, sich vor dem Falschen zu hüten. Und so wird Timotheus ermahnt, sich abzuwenden von „ungöttlichen, leeren Geschwätzen und Widersprüchen der fälschlich so genannten Kenntnis“ (V. 20). Was untergräbt die Kraft der bekannten Wahrheit gründlicher als das Einführen von Theorien, die dem Menschen schmeicheln, die das Geschöpf beschäftigen und die, da sie Gott und seinen Sohn ignorieren oder herabwürdigen, sich am Ende als wirkliche Leugnung beider erweisen werden? „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3). Alles muss falsch sein, wo der wahre Zustand des Menschen nicht empfunden wird, und wo folglich der wahre Charakter und das Eingreifen Gottes wegen dieses Zustandes nicht beachtet wird; denn das Eingreifen Gottes, um in seiner Gnade über Sünde und Satan zu triumphieren, hat Beziehungen gebildet, von denen unsere Pflichten abhängen. „Die fälschlich sogenannte Kenntnis“ versucht, die Leere zu füllen, die der Unglaube immer findet, weil er Gott und seinen Sohn nicht wirklich kennt, sondern sie nur mit seinen unheiligen Ausdünstungen und Antithesen besitzt. Er kann der strengen Tatsache des völligen Verderbens durch die Sünde nicht ins Auge sehen; deshalb drückt er sich vor der Offenbarung der reinen Gnade und einer Gerechtigkeit, die Gott gehört und die den Gottlosen rechtfertigen kann, als der Mensch erwiesenermaßen keine für ihn hatte. Wenn sie Christus überhaupt einführt, was oft und auch in großem Maße der Fall sein kann, dann nicht als den Retter der Verlorenen zur Ehre Gottes und als den Richter aller, die nicht glauben und deshalb ungerecht sind und Böses getan haben, sondern nur als die Blume, die das Geschlecht schmückt und von der sittlichen Vollkommenheit zeugt, zu der die Menschheit fähig ist.
Gott offenbart im Menschen, Christus verworfen bis zum Kreuzestod, doch in jenem Kreuz ein wirksames Opfer für die Schuldigen durch den Glauben an Ihn; und nun der Mensch in Christus angenommen im Heiligsten, und den Heiligen Geist herabgesandt, um alles, was geglaubt wird, denen, die glauben, verständlich zu machen – das ist die Wahrheit, die jenes Geschwätz und die Widersprüche besiegt. Und da der Mittelpunkt von allem derjenige ist, der im Fleisch offenbart wurde, eine göttliche Person und doch ein Mensch, ist die Wahrheit vollkommen für jeden geeignet, ob Jude oder Heide, Barbar oder Skythe, Sklave oder Freier. Sie ist unabhängig von Verfall oder Entwicklung, von Gelehrsamkeit oder deren Fehlen und formt den Gläubigen innerlich und äußerlich nach seinem eigenen Charakter durch den Heiligen Geist, der Christus als Gegenstand und Vorbild vor das Auge des Glaubens stellt.
Kein Wunder also, dass der Apostel sich des Evangeliums nicht schämte, denn es ist die Kraft Gottes zur Rettung für jeden, der glaubt. Und das Evangelium ist nicht, wie so oft gedacht wird, eine bloße Darstellung von Barmherzigkeit ohne Rücksicht auf Gottes moralische Herrlichkeit; denn darin wird Gottes Gerechtigkeit „offenbart aus Glauben zu Glauben“ (Röm 1,17). Das Gesetz war Gottes gerechter Anspruch an den Menschen; das Evangelium ist die Frohe Botschaft der Erlösung als Frucht des Todes und der Auferstehung Christi und darin der Zusage Gottes für den Menschen und der Erlösung dessen, der glaubt. Es ist Gottes, nicht des Menschen, Gerechtigkeit, und daher wird sie dem Glauben offenbart, so dass sie dem Griechen ebenso offensteht wie dem Juden, wobei der Glaube (nicht das Gesetz) die einzige Quelle und der einzige Weg und das einzige Prinzip des Segens für einen verlorenen Sünder ist.
In diesem Brief sehen wir jedoch nicht unsere Vorrechte als Kinder Gottes oder als Glieder des Leibes Christi beschrieben, sondern die umfangreichen und tiefen Grundlagen der göttlichen Natur und Herrlichkeit als der Heiland-Gott, der mit der ganzen Menschheit durch die Mittlerschaft Christi handelt. Und dementsprechend geht es hier nicht um den himmlischen Reichtum und die Schönheit der Versammlung, sondern um ihre sittliche Ordnung als verantwortliche Zeugin und wahre Verteidigerin des Glaubens vor der Welt, wobei der Missbrauch des Gesetzes angeprangert wird und noch mehr die profanen Fabeln und Überlegungen der menschlichen Phantasie, die, wenn sie anfangs auffällige und überlegene Heiligkeit versprechen, bald ihre Wertlosigkeit und Schlimmeres durch schmerzliche sittliche Nachlässigkeit verraten. Daher die Bedeutung, die der täglichen Pflicht durchweg beigemessen wird, die durch die Gnade und Wahrheit, die durch Jesus kam, sehr verstärkt wird, während sie das Joch leicht und die Last leicht macht.
Die „fälschlich so genannte Kenntnis“ unterwirft Gott und seine Offenbarung immer dem Verstand des Menschen. So nimmt der Mensch den Platz eines Richters ein, der seiner Selbstherrlichkeit so weit wie möglich entspricht und der notwendig ist, um seinen eigenen schuldigen und verdorbenen Zustand vor Gott zu verschleiern. Mehr noch, in der Fülle seiner Anmaßung bedient er sich des menschlichen Mediums, um die Inspiration in ihrer wahren Kraft zu leugnen, um über das Wort zu richten, das, wie unser Herr erklärt, ihn am letzten Tag richten wird (Joh 12,48). So geht bei der Kritik an dem, was Gott in der Mitteilung der Schrift ist, völlig verloren, wer Er ist; und der sündige Mensch setzt sich in der Tat, vielleicht ohne zu ahnen, was er tut oder was für eine abscheuliche Sünde er begeht, zum Richter über Gott selbst auf!
Die Art und Weise, in der Gott hier und da in diesem Brief vorgestellt wird, scheint direkt geeignet zu sein, solchen luftigen und gewagten Spekulationen zu begegnen und sie zu entlarven, die sich später zu all den vielen Launen des Gnostizismus entwickelten, manchmal kaum wahrnehmbar und verwirrend, manchmal niedrig und zügellos, die aber immer zerstörerische Wahnvorstellungen sind. Der König der Zeitalter, unbestechlich, unsichtbar, einziger Gott, und damit ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und Menschen, Christus Jesus, ein Mensch, der sich selbst als Lösegeld für alle gab; Gott, der Schöpfer und Geber jedes Geschöpfs, der lebendige Gott, der Erhalter aller, besonders der Gläubigen; Gott, der alles am Leben erhält, der im Begriff ist, die Erscheinung des Herrn Jesus Christus zu zeigen, während Er in einem unzugänglichen Licht wohnt, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann – Gott, der sich so offenbart hat, überlässt das profane Geschwätz und die Widersprüche der fälschlich so genannten Kenntnis ihrer eigenen Nichtigkeit; wie der demütige und gottesfürchtige Wandel, der hervorgebracht wird, auf seine ausgezeichnete und weise und heilige Quelle hinweist, im Gegensatz zu den erniedrigenden Wegen, die die Falschheit mit sich bringt, und auf keinen sichereren als auf diejenigen, die einst den Namen des Herrn angerufen haben.
Dementsprechend streift der Apostel hier kurz die Wirkung dieser falschen Kenntnis: „zu der sich bekennend einige von dem Glauben abgeirrt sind“, sie verfehlten das Ziel ‒ oder irrten ‒ in Bezug auf den Glauben. Es ist traurig, Menschen zu kennen, die die Finsternis mehr lieben als das Licht, weil ihre Taten böse sind. Aber es gibt eine tiefere Trauer über solche, die einst gut zu laufen schienen und sich so verhängnisvoll im Blick auf den Glauben irrten, nicht nur Opfer von Torheit und Bösem wurden, sondern den Namen, der über jeden Namen ist, blind entehrten. „Die Gnade sei mit euch“, so steht es in den ältesten Abschriften, obwohl man „dich“ erwartet hätte, wie in den meisten Handschriften und einigen von Gewicht. Aber vergleiche die Schlussworte des zweiten Briefes. Dort ist es umso auffälliger, weil sie auf ein streng persönliches Gebet folgen, dass der Herr mit dem Geist des Timotheus sein möge. Dennoch ist mir keine einzige MS. bekannt, die den Singular vorzieht, und kaum eine Version außer dem Peschito-Syrisch. Der Vergleich scheint das Urteil von Lachmann, Tischendorf, Tregelles, Westcott und Hort zu bestätigen, was den Schluss des ersten Briefes betrifft. Der Segensspruch besteht aus wenigen Worten, aber, wie immer, ist er sehr wichtig. Timotheus brauchte sicherlich Gnade, und die Gnade des Herrn würde für ihn ausreichen; aber es ist die gemeinsame Not, die unfehlbare Unterstützung aller anderen, die deshalb nicht vergessen werden, selbst in einer vertraulichen Mitteilung an einen geprüften Mitknecht.