Behandelter Abschnitt 1Tim 1,1-2
Einführung
Dieser Brief an Timotheus ist die bewundernswerte Ergänzung der früheren Mitteilung. Die Menschen haben die Zeitspanne zwischen den beiden Briefen stark diskutiert; aber selbst, wenn sie kürzer wäre, als viele annehmen, ist die Veränderung der Umstände und folglich des Ziels, der Behandlung und des Tons immens: Dennoch wissen wir aus der ganzen Schrift und auch aus Erfahrung, dass große Umwälzungen innerhalb kürzester Zeit stattfinden können. Es ist das letzte geschriebene Wort des Apostels, das allem, was er zu sagen hat, eine Ernsthaftigkeit und Zartheit verleiht. Keine andere Form eignet sich so gut für eine angemessene Ermahnung, und das von jemand, der in einem umfassenderen Sinn zum „Diener der Versammlung“ (Kol 1,24.25) gemacht wurde, mehr als jeder andere.
Die Ordnung in der Versammlung, das moralisches Gewicht und der Wert in allen, besonders in denen, die öffentlich leiten oder verwalten, wurde im ersten Brief mit einem dem Thema angemessenen Ernst angemahnt. Hier legt der bald abscheidende Apostel, während er sich nach der Anwesenheit des Timotheus sehnt (1Tim 1,4; 4,9.11.13.21), seinem geliebten Mitarbeiter seine letzten Anweisungen und seinen persönlichen Aufruf angesichts der tiefen und wachsenden Unordnung aufs Herz. Ein solcher Zustand des Niedergangs jedoch (und er ist jetzt unvergleichlich schlimmer), so deutet er es an, würde nur die bessere Gelegenheit geben, diejenigen zu offenbaren, die Christus treu bleiben und an seiner Gnade festhalten, inmitten des vorherrschenden allgemeinen katastrophalen Verfalls, den er nicht anders beschreiben konnte. Sie würde dem Fleisch und der Welt im Besitz des Namens des Herrn zweifellos jede Erleichterung verschaffen; aber umso mehr Energie, Ausdauer und Mut würden die Ergebenen und Frommen vom Herrn bekommen.
Daher die mehr als gewohnte Erhabenheit und zärtliche Fürsorge des Apostels, die Erinnerung an die Tränen des Timotheus und an seine gewissenhafte Treue in der Vergangenheit, die herzliche Anerkennung des wahren Glaubens, auch wenn die Umgebung unvorteilhaft sein mochte. Auch deshalb erinnert Paulus Timotheus an die Gabe Gottes, die durch das Auflegen seiner eigenen Hände in ihm war. Deshalb war er in einem so kritischen Moment besonders gefordert, kühn im Glauben zu dienen, im Bewusstsein jener besonderen Gnade, die ihn gebrauchen und durch ihn zur Ehre Christi wirken wollte. In der Tat, so eigentümlich die Kraft und der Platz auch sein mochten, die Timotheus auf diese Weise gegeben wurden, so entsprach dies doch voll und ganz dem Charakter der Gabe des Heiligen Geistes an jeden Christen; denn „Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit [Feigheit] gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (1,7). Was also alle haben und zeigen sollten, sollte Timotheus in seiner eigenen herausragenden Stellung ausführen und mit dem Evangelium Trübsal erleiden, so verhasst es auch dem Stolz und der Religiosität der Welt war, die seine Verkünder verfolgte. Wie vergeblich ist es, so etwas zu ertragen, außer mit und nach der Kraft Gottes!
Daher sollte gerade er sich des Zeugnisses unseres Herrn nicht schämen, noch Paulus, seines Gefangenen. Denen, die nur aus der Ferne zusehen, den Lesern in einem Gesellschaftszimmer oder den Studenten in einer Bibliothek, mag eine solche Scham unmöglich erscheinen, außer für die Feigsten und Niedrigsten. Aber der Feind versteht es, sogar unter Christen einen Gefühlszustand herbeizuführen, in dem es den einfachsten und unerschütterlichsten Glauben erfordert, zu denen zu stehen, die für Christus und das Evangelium leiden, wie Paulus es damals tat. Diese Flut hatte sich seit langem eingestellt und war nun, was den Apostel betraf, auf ihrem Höhepunkt angelangt. Tausend Entschuldigungen konnten vorgebracht werden, auch eine Vielzahl von scheinbar guten Gründen, doch das Ergebnis war, dass die Masse seiner Brüder sich des Paulus schämte! Noch trauriger war möglicherweise, sich des Zeugnisses unseres Herrn zu schämen. Paulus achtet darauf, ihm das vorzustellen, wie es die anderen zweifellos unter dem Druck der Gefahr und der Schande ganz ignorierten und vergaßen.
Und wie tiefgründig, wenn auch gesegnet, ist dieses Zeugnis über eine bereits vorhandene Errettung von Gott und eine heilige Berufung, „nicht nach unseren Werken, sondern nach seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben, jetzt aber offenbart worden ist durch die Erscheinung unseres Heilandes Jesus Christus, der den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht hat durch das Evangelium, zu dem ich bestellt worden bin als Herold und Apostel und Lehrer der Nationen“ (1,9–11). Deshalb erlitt Paulus auch diese Dinge. Nie gab es einen würdigeren Grund. Gewiss, er schämte sich nicht: Wie schrecklich, dass ein Christ das sein tun könnte, wie demütigend, dass sogar solche, die Paulus einst gekannt hatten, es taten! Denn wenn es jemals einen Diener gab, dessen Leben und Wirken, dessen Geist, Wege und Rede mit dem Evangelium übereinstimmten, war es nicht Paulus? Und doch schämten sich die Brüder des Zeugnisses unseres Herrn und seines Gefangenen, als Eifer und Zuneigung ihm gegenüber am stärksten hätten ausgeprägt sein sollen. So mancher treue Diener erwies sich in der Stunde der Prüfung als völlig schwach; nicht wenige waren im Einzelnen schmerzlich widersprüchlich, obwohl sie in der Hauptsache aufrichtig und von Gott geehrt waren. Paulus steht fast allein, gemäß seiner ernsten Erwartung und Hoffnung, dass er in nichts zuschanden werden sollte, sondern dass mit aller Kühnheit, wie immer so auch bis zum Ende, Christus an seinem Leib verherrlicht werden sollte, sei es durch das Leben, sei es durch den Tod (Phil 1,20). Damals war es seine erste Gefangenschaft; und sein Wunsch, abzuscheiden und bei Christus zu sein, was viel besser ist, war noch nicht erfüllt. Das Bleiben im Fleisch war für die Gläubigen nötiger; und da er diese Zuversicht hatte, wusste er, dass er bei allen bleiben und fortfahren sollte. Nun war es seine zweite Gefangenschaft; und Christus sollte durch seinen Tod verherrlicht werden, aber in nichts wurde er zuschanden, am wenigsten schämte er sich des Evangeliums oder der Trübsal im Gefängnis und im Tod, die das Evangelium mit sich brachte.
Paulus war mit dem Evangelium, mit dem Zeugnis unseres Herrn in jeder Hinsicht, ja, mit Christus selbst, verbunden. Er kannte den, dem er geglaubt hatte, und war überzeugt, dass Er mächtig war, das, was er Ihm anvertraut hatte, auf diesen Tag zu bewahren. Darum ermahnte er Timotheus, die gesunden Worte, die er von ihm gehört hatte, in Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind, zu bewahren und durch den Heiligen Geist, der in uns wohnt, das anvertraute Gut zu bewahren.
Dieses Anvertraute bezieht sich nicht auf eine ungeschriebene Tradition, auch nicht auf irgendeine von Menschen aufgestellte Formulierung, sondern auf das geschriebene Wort seit Christus. Es war umso wichtiger, weil Timotheus wusste, wie sich alle in Asien (der römischen Provinz, in der er so lange und fleißig gearbeitet hatte) von Paulus abgewandt hatten, natürlich nicht von Christus oder dem Evangelium, sondern von ihm, der über alle hinaus seine unverwechselbare und unverfälschte Wahrheit dargestellt hatte und der seine unermüdliche Arbeit und seine Leiden am besten repräsentierte. Und wenn mehr als einer dem Apostel einen solchen Schmerz ins Herz brachte, wie rührend erinnert er sich an die Treue des einen, Onesiphorus, für dessen Haus er die Barmherzigkeit des Herrn erfleht: „denn er hat mich oft erquickt und sich meiner Kette nicht geschämt, sondern als er in Rom war, suchte er mich fleißig und fand mich. Der Herr gebe ihm, dass er von Seiten des Herrn Barmherzigkeit finde an jenem Tag!“ (V. 16–18). Es entsprach in der Tat der gewohnten Liebe des Onesiphorus zu dem Ort, an dem er gewöhnlich wohnte; denn der Apostel fügt hinzu: „Und wie viel er in Ephesus diente, weißt du am besten.“ Wenn wir die Wahrheit lieben, werden wir in der Zuneigung zu denen, die mit ihr identifiziert werden, nicht nachlassen. Parteieifer ist die Nachahmung des Fleisches. Gott will, dass die Liebe und der Glaube hier unten eine lebendige Realität sind; und in der Welt, wie sie ist, muss man zunehmend leiden. Aber Er wird in denen, die Ihm nahe sind, geheiligt werden, indem Er immer beachtet, was Er schätzt und was Er hasst.
Der Apostel (2Tim 2), ruft sein Kind auf, in der Gnade, die in Christus ist, in Bezug auf andere gestärkt zu werden, nicht nur darin, die Wahrheit festzuhalten, sondern sie ordnungsgemäß weiterzugeben – ein nicht weniger heikles als wichtiges Werk. „Und was du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue treuen Leuten an, die tüchtig sein werden, auch andere zu lehren“ (V. 2). Es geht hier um die Weitergabe der Wahrheit, nicht um die Übertragung von Autorität wie bei Ältesten und Diakonen vor Ort. Er sollte für treue Männer in seiner Fürsorge für diese Ämter sorgen; aber auch sie sollten von jemandem wie Timotheus, der selbst vom Apostel gelehrt wurde, unterrichtet werden, damit sie fähig wären, andere zu lehren. Auch hier ruft der Apostel ihn auf, an den Leiden als guter Soldat Christi Jesu teilzunehmen; denn welche Dinge, innerlich wie äußerlich, verlangen größere Selbstverleugnung oder setzen ihn größeren Prüfungen aus? In drei Bildern legt der Apostel dar, was von denen verlangt wird, die so dem Herrn recht dienen wollen. „Niemand, der Kriegsdienste tut, verwickelt sich in die Beschäftigungen des Lebens, damit er dem gefalle, der ihn angeworben hat“ (V. 4). Der Diener muss sich dazu entschließen, jede Ablenkung zu vermeiden. Weiter heißt es: „Wenn aber auch jemand kämpft, so wird er nicht gekrönt, es sei denn, er habe gesetzmäßig gekämpft“ (V. 5). Die Art und Weise, wie er dient, ist von größter Bedeutung und verlangt die völlige Unterwerfung unter den Willen des Herrn, dem man dient; so war der Athlet an die Regeln der Spiele gebunden. Schließlich sagt er: „Der Ackerbauer muss, um die Früchte zu genießen, zuerst arbeiten“ (V. 6). Wenn die Liebe zur Arbeit führt, muss sicherlich die Arbeit den Früchten vorausgehen. All das möchte der Apostel Timotheus zu bedenken geben und versichert ihm die Gnade des Herrn, der in allen Dingen Einsicht gibt. Der Glaube sollte mit Einsicht gepaart sein.
Von dem, der sich in der Lehre bemüht, ist der Übergang zur gelehrten Wahrheit leicht, und glücklicherweise (denn Gott denkt an das Einfachste) ist ihre Summe in wenigen, aber tiefgründigen Worten dargelegt, und in jener einen Person, die der Gegenstand unseres Glaubens, das Wunder der Engel, die befriedigende Freude Gottes ist. „Halte im Gedächtnis Jesus Christus, auferweckt aus den Toten, aus dem Geschlecht Davids, nach meinem Evangelium“ (V. 8). Es ist nicht so, wie Theologen es darstellen würden, auch nicht so, wie es die Propheten getan hatten; es ist so, wie Gott durch den Apostel Timotheus und uns beeindrucken wollte. Die geschichtliche Reihenfolge hätte mit seiner Beziehung nach dem Fleisch, seiner messianischen Stellung, der Erfüllung der Verheißung und der Prophezeiung, soweit es seine Person betraf, begonnen; aber das Evangelium des Paulus, das diese Grundwahrheit treu behauptet, legte den Schwerpunkt auf jene Auferstehung von den Toten, die voraussetzt, dass das Werk der Erlösung bereits vollbracht ist und der Mensch in Ihm in die neue Stellung nach Gottes himmlischen Ratschlüssen eingetreten ist. Und dies vergrößert den Charakter der Leiden Christi, dem sich vor allem der Arbeiter nicht entziehen sollte, wie es der Apostel in seinem Dienst am Evangelium so tief ausgekostet hat: „worin ich Trübsal leide bis zu Fesseln wie ein Übeltäter; aber das Wort Gottes ist nicht gebunden. Deswegen erdulde ich alles um der Auserwählten willen, damit auch sie die Errettung erlangen, die in Christus Jesus ist, mit ewiger Herrlichkeit. Das Wort ist gewiss; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben; wenn wir ausharren, so werden wir auch mitherrschen; wenn wir verleugnen werden, so wird auch er uns verleugnen; wenn wir untreu sind – er bleibt treu, denn er kann sich selbst nicht verleugnen“ (V. 9–13).
Hierauf richtet Paulus am Ende des Kapitels einen persönlichen Appell, dass Timotheus nicht nur auf die fundamentale und praktische Wahrheit drängen, sondern auch Wortgefechte und profanes Geschwätz von noch zerstörerischerer Tendenz vermeiden möge, indem er den unheiligen Traum von der Auferstehung so weit in die Vergangenheit verlegt, dass die Gegenwart zu einer angenehmen Szene wird. So lehrten einige der Väter, und die weltliche Religion blühte damals wie heute.
Das führt zu einer Entwicklung, die an sich ebenso lehrreich wie charakteristisch für den Brief ist. Der falschen Lehre begegnet der Apostel, indem er beide Seiten des Siegels als Gottes sichere Grundlage aufzeigt: „Der Herr kennt die sein sind; und: Jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit“ (V. 19). Was auch immer kommen mag, der Herr ist souverän, und wer sich zu Ihm bekennt, ist Ihm gegenüber verantwortlich. Hier wird sehr eindrücklich der Zustand der Versammlung vorweggenommen: „In einem großen Haus aber sind nicht allein goldene und silberne Gefäße, sondern auch hölzerne und irdene, und die einen zur Ehre, die anderen aber zur Unehre. Wenn nun jemand sich von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet“ (V. 20.21). Eifer als guter Arbeiter würde jedoch nicht ausreichen. Timotheus muss die jugendlichen Begierden (nicht nur die fleischlichen oder weltlichen) fliehen und der Gerechtigkeit, dem Glauben, der Liebe und dem Frieden nachjagen, mit denen, die den Herrn aus reinem Herzen anrufen. Isolation ist als Ziel niemals richtig, obwohl Sünde niemals zugelassen werden darf. Aber törichte Fragen müssen vermieden, Sanftmut gepflegt werden, und nicht zuletzt, indem man Widersacher zurechtweist, damit Gott ihnen Buße und Aufwachen aus der Schlinge des Teufels für seinen Willen schenken möge.
Aber in 2. Timotheus 3 wird ein schreckliches Bild gezeigt: nicht nur einige Irrende hier und da, sondern ein weitaus vorherrschenderer Zustand des Verfalls, in dem sie nicht mehr als Jünger oder Gläubige bezeichnet werden konnten, sondern als bloße „Menschen“, natürlich keine Heiden oder Juden. Es sind Menschen, die sich leider Christen nennen, weil sie angeblich eine Form der Gottseligkeit haben, aber ihre Kraft verleugnen: die sittlich schreckliche Tatsache von Menschen, mit dem äußeren Licht und den Vorrechten der Christenheit, im Grunde nicht besser, wenn auch weniger grob als die Heiden, deren Bild von derselben Hand im letzten Teil von Römer 1 gezeichnet wird. Sie können und tun es auch, lautstark behaupten, die Kirche in ununterbrochener Folge zu sein; aber das Wort lautet: „und von diesen wende dich weg“ (V. 5). Zweifellos sind nicht alle gleich boshaft: Es gibt schwache Opfer, nicht ohne moralische Fehler, und Führer wie die, die Mose widerstanden. Aber Timotheus war mit einem Leben gottseliger, leidender und geduldiger Hingabe vertraut, ebenso wie mit der Wahrheit in göttlich gegebener Form und Kraft; und alle, die gottselig in Christus leben wollen, werden Verfolgungen erleiden, so sicher wie die bösen Menschen und Betrüger immer schlimmer werden.
Daher der unschätzbare Wert derer, von denen Timotheus gelernt hatte, und des geschriebenen Wortes, das er von Kindheit an kannte. Das gibt dem Apostel die Gelegenheit, jeder Schrift (sei es das Alte oder das Neue Testament) Eigenschaften zuzuschreiben, die sie zur einzigen bleibenden Regel des Glaubens machen, nicht nur zur umfassendsten Quelle, sondern zum einzigen unfehlbaren und vollkommenen Maßstab der Wahrheit. Dass sie alle „von Gott inspiriert“ waren, impliziert dies mit einem Wort für die Einsicht, die Gott kennt.
Schon damals (2Tim 4) lädt der Apostel Timotheus höchst feierlich vor Gott und Jesus Christus auf, der die Lebenden und die Toten richten wird; und dies also bei seinem Erscheinen und seinem Reich, denn hier geht es nicht um himmlische Gnade, sondern um verantwortlichen Dienst und daher um ein mächtiges Motiv, sein geliebtes Kind anzuspornen und zu stärken, sowohl in der Belehrung als auch in der Überführung, der Zurechtweisung und der Unterweisung, mit aller Langmut und Lehre. Denn es wird eine Zeit sein, da sie die gesunde Lehre nicht hören wollen, sondern sich nach ihren eigenen Begierden Lehrer aufhäufen werden, die ihre Ohren kitzeln, und sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich zu Fabeln hinwenden. Dieses Abweichen von der Wahrheit mag weder der Abfall noch die Offenbarung des Menschen der Sünde sein; aber es scheint die schlimmste Entwicklung der letzten Tage vor jener zukünftigen Krise zu sein, und ohne Zweifel ist hat sie schon längst begonnen. Noch mehr, um Timotheus zu beeindrucken, spricht der Apostel von seinem eigenen Abscheiden als von einer Zeit, die nahe bevorsteht. Er hatte seinen Lauf vollendet. Er wartete auf die Erscheinung des Herrn, damit Er ihn kröne, und nicht nur ihn, sondern alle, die seine Erscheinung lieben.
Mit einer Reihe von persönlichen Mitteilungen, die in vielerlei Hinsicht sehr interessant sind, schließt der Brief. Er möchte, dass Timotheus noch vor dem Winter zu ihm kommt, und es scheint, dass die Entsendung von Tychikus nach Ephesus dazu diente, dies zu erleichtern, da Lukas nur mit dem Apostel zusammen war. Von der Abreise des Demas spricht er mit Schmerz, von anderen einfach als Tatsache. Aber er bittet um seinen in Troas zurückgelassenen Mantel, die Bücher und vor allem die Pergamente: Den Tod vor seinen Augen hindert die Pflicht in keiner Weise, die Erscheinung des Herrn verlangt es. Ein gefährlicher Mann wird nicht vergessen; auch nicht die Tatsache, dass nicht einer in der Stunde der Gefahr bei ihm stand, sondern der Herr, der es bis zum Ende tun würde und ihn für sein himmlisches Reich bewahrte. Es folgt sein eigener Gruß und den anderer und der Wunsch, dass der Herr, der ihn erlöst hatte und dessen Gnade bei ihnen allen sein würde, mit dem Geist des Timotheus sein möge.
Kapitel 1
Die Anrede des Briefes ist wie üblich auf das eingestimmt, was folgen soll. Großer Ernst und zärtliche Zuneigung durchdringen das Ganze. Es geht nicht mehr um die Ordnung im Haus Gottes auf der Erde, sondern der Apostel ist gezwungen, von einem großen Haus zu sprechen, in dem nicht nur goldene und silberne Gefäße sind, sondern auch hölzerne und irdene, und einen zur Ehre, die andren aber zur Unehre. Dann wird nicht nur die Zucht, sondern auch die Reinigung von diesen um jeden Preis zu einer vorrangigen Pflicht, wenn man persönlich ein Gefäß zur Ehre sein will, geheiligt, dem Hausherrn zum Gebrauch nützlich, zu jedem guten Werk bereit. Es geht, kurz gesagt, um das feste Fundament Gottes mit seinem unfehlbaren Trost auf der einen Seite und seiner unverzichtbaren Verantwortung auf der anderen. Aber, Gott sei Dank, komme, was wolle, dieses Fundament steht, was auch immer die Unordnung des Hauses sein mag; und die sich daraus ergebende Verpflichtung der Gläubigen bleibt bestehen, umso zwingender zu seiner Ehre wegen des allgemeinen Abfalls. Der Glaube verzweifelt nie am Guten, verachtet nie das Böse und ist frei, nur Gott zu gefallen, statt sich durch die Wahl des geringeren Unrechts zu erleichtern.
Es konnte aber unter diesen Umständen nicht anders sein, als dass ein Ton eindringlicher Ernsthaftigkeit vorherrschte. Deshalb ist es mehr denn je notwendig, Mut und Ausdauer zu zeigen, sowie einen großen Eifer für den Willen Gottes und Abscheu für den bösen Weg des Menschen – des Menschen, der jetzt leider den Namen des Herrn mit der schlimmsten Bosheit Satans verbindet. Der bescheidene, aber anscheinend schüchterne Charakter des Timotheus rief das Herz des Apostels unter der Kraft des Heiligen Geistes auf, um ihn auf die mühsame Arbeit und den Konflikt vorzubereiten, die bei dem baldigen Weggang seines geistlichen Vaters vor ihm lagen. Noch gründlicher und mit weniger Ausnahmen gelten seine Ermahnungen für die Gläubigen jetzt, als die des ersten Briefes, weil im ersten Brief mehr das offizielle Element vorhanden war, während im zweiten Brief das moralische überwiegt. Es ist daher unsere Aufgabe, aus dieser Betrachtung völligen Nutzen zu ziehen. Denn zweifellos sind die schweren Zeiten der Endzeit längst angebrochen, und die Finsternis der abschließenden Szenen der Gesetzlosigkeit wirft schon ihre Schatten voraus.
Paulus, Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen, nach Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist, Timotheus, meinem geliebten Kind: Gnade, Barmherzigkeit, Friede, von Gott dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn! (1,1.2).
Es fällt auf, dass Paulus hier, wie auch im ersten Brief, seinen großen Auftrag betont. Vertrautheit war nie dazu gedacht, diesen göttlich gegebenen Platz und die Autorität zu schwächen. Manchmal konnte der Apostel sie miteinander verbinden, wie wir in seinem Brief an Philemon sehen, wo Autorität mit dem Akkord, den er im Herzen dieses geschätzten Gläubigen anschlagen wollte, in Konflikt geraten wäre. Hier wurde Apostelschaft gefordert, nicht nur durch die Natur des ersten Briefes, sondern um den moralischen Anweisungen des zweiten Briefes Gewicht zu verleihen. Der Weg Christi, der durch die gefährlichen und schwierigen Situationen der letzten Tage führte, erforderte den höchsten Ausdruck göttlicher Autorität. Ohne diese Bekräftigung musste selbst der notwendigste Schritt der Gerechtigkeit den Mann Gottes, der ihn im Glauben tat, dem Vorwurf der Neuerung, der Anmaßung und besonders der Unordnung aussetzen, weil der allgemeine Zustand der Christenheit selbst ein fester, traditioneller und fast allgemeiner Verfall vom Wort Gottes war.
Aber im ersten Brief heißt es: „Apostel Christi Jesu, nach Befehl Gottes, unseres Heilandes, und Christi Jesu, unserer Hoffnung“ (V. 1) Das ist offensichtlich mehr auf die Menschen bezogen, denn vieles an den Gläubigen ist äußerlich im Vergleich zu den Begriffen des zweiten Briefes. „Durch Gottes Willen“ heißt es hier, wie in 1. und 2. Korinther, Epheser und Kolosser. Es war am Anfang notwendig oder weise, und es bleibt bis zum Schluss bestehen. Der Wille Gottes lässt eine viel größere und tiefere Anwendung zu als sein Gebot, so wichtig letzteres an seiner Stelle auch sein mag. Viele, die davor zurückschrecken würden, sich einem Gebot Gottes zu widersetzen, könnten sich vergleichsweise wenig über seinen Willen aufregen, der eine große Vielfalt des geistlichen Lebens umfasst, das außerhalb des Bereichs einer formalen Anordnung ausgeübt wird. Wir können eine ähnliche Unterscheidung beobachten, die unser Herr in Johannes 14 zwischen seinen Geboten und seinem Wort trifft (V. 21.23.24). Dieser Zusatz im zweiten Brief passt ganz zu seinem weitreichenden und tiefen Charakter.
Aber es gibt noch einen weiteren Unterschied. Paulus war Apostel „nach der Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist.“ Das verbindet den letzten Brief des Paulus deutlich mit dem ersten Brief des Johannes, wo das ewige Leben in seiner ganzen Fülle in Christus die charakteristische Lehre ist. Nicht dass dies jemals in den Briefes des Paulus gefehlt hätte. Wir sehen es in denen an die Römer und die Korinther, an die Galater, die Epheser, die Philipper, die Kolosser, wenn möglich noch heller und in praktischer Kraft. Aber hier ist das Leben am deutlichsten mit seinem Apostelamt verbunden und damit natürlich auch mit der gesamten Aussage dieser, seiner letzten schriftlichen Mitteilung. Der Geist Gottes stellt es zum ersten Mal zweifelsohne in den Vordergrund.
Aber ich denke, dass die Methode, die angewandt wird, überhaupt nicht richtig verstanden worden ist. Die Präposition (κατά) hat ihren eher gewöhnlichen Sinn – gemäß – in Übereinstimmung mit, anstatt in Verfolgung von oder im Hinblick auf die Erfüllung und so weiter. Nicht das Ziel und die Absicht des Apostelamtes werden damit ausgedrückt, sondern sein Charakter. Zweifellos hat das Apostelamt des Paulus die Verheißungen des ewigen Lebens weitergegeben und bekanntgemacht; aber die Wahrheit, die hier offenbart wird, ist, dass er gemäß oder in Übereinstimmung mit dieser Verheißung des Lebens von Gott so berufen wurde. Sein Amt bestand nicht nur darin, ein Diener des Evangeliums in der ganzen Schöpfung unter dem Himmel zu sein; und auch nicht nur darin, ein Diener der Versammlung zu sein, die der Leib Christi ist (Kol 1,23.24). Er bezeichnet sich nun zum ersten Mal als von Gott gewollter Apostel „nach der Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist.“ Niemals brauchte Timotheus, niemals brauchen die Gläubigen so sehr das tröstende, stärkende Wissen um dieses Leben wie angesichts der Schrecken und Gefahren, die dieser Brief vor Augen hat.
Wenn etwas wirklich ist in einer Welt des eitlen Scheins, dann ist es das Leben, das in Christus ist; es ist ewig, da es durch den Glauben überwunden werden soll. Ohne dieses Leben könnte sogar die Kraft des Heiligen Geistes in einem Sohn des Verderbens wirken. „Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt und durch deinen Namen Dämonen ausgetrieben und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? Und dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter“ (Mt 7,22.23). Macht ohne Leben ist höchst bedrohlich und tödlich; mit Leben, höchst gesegnet und äußerst charakteristisch für das Christentum. Wir werden dies zu unserem Trost gerade in diesem Kapitel dieses Briefes sorgfältig dargelegt finden. Aber das Leben hat unbestreitbar den ersten Platz in dem hier gegebenen Charakter des Apostelamtes des Paulus. Keiner hatte Prophetie wie er; keiner kannte alle Geheimnisse und hatte alles Wissen wie er; und wer hatte wie er allen Glauben, so dass er Berge versetzen konnte? Aber er hatte auch jene Liebe, die von Gott ist, die vielleicht von keinem übertroffen wird; denn er lebte das Leben, das in Christus Jesus ist. Wir können daher nur bewundern, wie wir hier von seinem Apostelamt lesen, das nicht durch die Entfaltung geistlicher Energie gekennzeichnet ist, sondern „gemäß der Verheißung des Lebens, das in Christus Jesus ist.“
Das Leben, wie auch der Glaube, ist individuell, aber gehorsam und deshalb wertvoll, neben Christus, das Wandeln zu seiner Ehre mit denen, die Ihm angehören. Aber kann jemand gut zusammen wandeln, der nicht den Glauben hat, allein zu stehen, wenn sein Wille es verlangt? Das Leben wird also an dieser Stelle besonders herausgestellt. Wenn jemals sein Wert mehr als zuvor gefühlt wurde, dann jetzt: die Enge der Zeiten verlangte nach allem, was von Christus ist. Die Herrlichkeit auf der Erde war das Bild des Juden in seinen besten Zeiten gewesen; die himmlische Herrlichkeit in und mit Christus ist die christliche Hoffnung; aber man hat jetzt das Leben in Christus, eine „Verheißung“, die unvergleichlich über die an Abraham, David und jeden anderen Würdigen hinausgeht. Wir haben es jetzt in Ihm, und werden es offensichtlich mit Ihm haben, wenn wir verherrlicht sind. Die Erde, die Welt, war der Schauplatz des Handelns Gottes und wird es auch sein, wenn Christus in Macht und Herrlichkeit erscheint und regiert. Aber wie Paulus nach der Verheißung des Lebens, das in Christus ist, Apostel war, so haben wir mit ihm jenes ewige Leben, das bei seinem Kommen seine eigene Entfaltung über der Welt haben wird, von der seine Natur völlig unabhängig ist. „Timotheus, meinem geliebten Kind.“ Im ersten Brief wurde er als „wahres“ (γνησίῳ) Kind bezeichnet. Es wäre unmöglich gewesen, den beabsichtigten Unterschied zu übersehen. Denn die Worte deuten im letzteren Fall notwendigerweise an, dass Timotheus kein unechtes, sondern sein echtes Kind war, und dies nicht bloß im „Glauben“ als einem objektiven Besitz, sondern im „Glauben“ als einem wirklichen lebendigen Prinzip im Gläubigen. Im ersten Fall gibt es die ausdrückliche Erklärung der positiven und persönlichen Zuneigung des Apostels, die offenbar keine formale oder nichtssagende Floskel war.1 „Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott dem Vater und Christus Jesus, unserem Herrn!“ (V. 2). Hier haben wir genau dieselben Worte wie im ersten; und was beide betrifft, wagt ein so berühmter Ausleger wie Calvin, den Apostel zu entschuldigen, wenn nicht gar zu tadeln. „Er hält sich nicht an die genaue Reihenfolge; denn er stellt das an die erste Stelle, was eigentlich an die letzte gehören sollte, nämlich die Gnade, die aus der Barmherzigkeit fließt. Denn der Grund, warum Gott uns zuerst in Gnaden aufnimmt und warum Er liebt, ist, dass er barmherzig ist. Aber es ist nicht unüblich, die Ursache nach der Wirkung zu erwähnen, um sie zu erklären.“2 So lautet sein Kommentar zum ersten Mal, der beim zweiten Mal im Wesentlichen wiederholt wird. Es ist offensichtlich, dass ihm die Tragweite des segensreichen Wunsches des Apostels entgangen ist. Denn „Gnade“ ist der allgemeine Ausdruck für jene Energie und den Ausfluss der göttlichen Güte, die sich über das Böse und das Verderben der Menschen erhebt und trotz allem liebt; und so steht sie am richtigsten, wie auch einheitlich, an erster Stelle in der Anrede, sei es an Versammlungen oder an einzelne Gläubige. „Barmherzigkeit“ findet am angemessensten seinen Platz in dem Wunsch nach Gottes erbarmender Rücksichtnahme auf individuelle Schwäche, Not oder Gefahr, und so findet sich das Wort nicht nur im 1. und 2. Timotheus, sondern auch ausnahmsweise und mit besonderem Zweck in Judas, während es aus Philemon verschwindet, wo die Versammlung in seinem Haus die Formel zu Recht verändert. Aber die Barmherzigkeit, die auf diese Weise untergeordnet ist, wie lieblich sie auch im Einzelnen sein mag, nimmt mit unzweifelhaft gutem Grund den zweiten Platz ein. Es wird von niemandem bezweifelt, dass der „Friede“, da er eher eine Wirkung als eine Quelle ist, dort zu finden ist, wo er sein sollte, wie es sich in der Tat bei allen und jedem gezeigt hat. Doch wie traurig und beschämend, dass eine solche scheinbar unbewusste, aber wirkliche Missachtung der Schrift sowohl in der endgültigen Form als auch in einer modernen Übersetzung der Schriften Calvins, dem man im Allgemeinen zugesteht, in nichts hinter den allerhöchsten Reformatoren zurückzustehen, unangefochten bleibt! Wenn Ehrfurcht vor Gott durch Zittern vor seinem Wort bezeugt wird, so mögen wir durch ein solches Beispiel gewarnt werden.
1 Doch ein deutscher Kommentator von einigem Ruf (Mack) fragt: „Kann es Zufall sein, dass wir statt γνησίῳ τέκνῳ, wie Timotheus im ersten Brief 1,2 und in Titus 1,4 genannt wird, hier ἀγαπητῳ finden? Oder mag ein Grund für die Veränderung darin liegen, dass es Timotheus nun oblag, den Glauben und die Gnade in ihm neu zu erwecken, bevor er des Namens γνησίον τέκνον in seinem vollen Sinn wieder würdig sein konnte?“ Und diese oberflächliche Bemerkung, die die wahre Folgerung aus dem Gebrauch der Bezeichnung bei Titus verfehlt (der nie die starken Gefühle des Apostels hervorhebt, wie Timotheus es in beiden Briefen tut, und doch nicht weniger γν. τ. genannt wird), hat den schädlichsten Einfluss auf Dekan Alfords allgemeinen Vergleich der beiden Briefe gehabt und ihn in nicht wenigen Details von Bedeutung irregeführt. Bengel, Ellicott und andere sind in diesem Punkt viel richtiger; so dass man sich das Bedauern über ihren Irrtum gut hätte sparen können. Das Versagen in der Unterscheidung gehört wirklich zu denen, die den Verlust des Vertrauens in den zweiten Brief zu sehen vorgeben; und es wird nur dadurch auffällig gemacht, dass man mehr Liebe zulässt. „Mehr von der bloßen Liebe“! ist eine seltsame Phrase, und eines Gläubigen unwürdig, der ihren wirklichen und unschätzbaren Wert besser kennen müsste.↩︎
2 „Secundum hoc, hoc est, Misericordiae nomen, praeter suum morem interposuit, forte singular) erga Timotheum amore impulsus. Porro, non servat exactum ordinem: quod enim posterius est priore loco posuit gratiam scilicet quae ex misericordia manat. Nam ideo nos in gratiam initio recipit Deus, et deinde amore nos prosequitur, quia misericors est. Verum non est insolitum, causam subjungi effectuii, explicationis causa“ Calvin, (Opp. vii. 438. Amstel. 1607).↩︎