Behandelter Abschnitt 2Thes 2,15-17
Es ist bemerkenswert, wie die Gedanken der Menschen das Wort Gottes durchkreuzen, wenn seine Gnade als eine lebendige, geglaubte und angewandte Realität vorgestellt wird. Menschen, die spekulieren, wundern sich und urteilen nach ihrer armseligen Art, dass der Apostel die Gläubigen zum standhaften Festhalten in Wegen und Worten an der Wahrheit aufruft, nachdem er gerade ihre Berufung von Gott zur Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn anerkannt hatte. Der bloße Verstand des Menschen betrachtet dies als logische Ungereimtheit, bewusst oder nicht: Warum, so argumentieren sie, sollten die zur Errettung Erwählten zu etwas anderem ermahnt werden? Ist nicht alles sicher und auf göttlichem Grund geregelt? Aber es sind die Erwählten, die bewusst gesegneten und glücklichen Kinder Gottes, die die Heilige Schrift überall zur Wachsamkeit und zum Gebet, zum Lesen des Wortes Gottes und zu allen anderen Mitteln des geistlichen Wohlergehens ermahnt; nie finden wir solche Aufrufe an die Ungläubigen und Ängstlichen. Die, die alles der souveränen Gnade verdanken und zugeben, dass alles ihr zu verdanken ist, sind genau die Personen, die Tag für Tag Fleiß in ihren verantwortungsvollen Diensten zeigen. Und wie kann dies erkannt werden, außer durch die Offenbarung seines Geistes? „Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen“ (Eph 2,10). Für den Glauben allein ist alles klar und sicher. Wenn jemand auf Gottes Zeugnis hin an Christus geglaubt hat, glauben wir seine Liebe vom ersten bis zum letzten, und sein Wort ist ein Gesetz der Freiheit für uns. Die Argumentation, die seine Gnade mit unserer Verantwortung in Konflikt bringt, wird sofort als die des Satans erkannt. Dem Wort unterworfen, glauben wir beides, gehen in Frieden vorwärts, erkennen aber die Notwendigkeit dessen an, was auf uns liegt.
Also nun, Brüder, steht fest und haltet die Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch Wort oder durch unseren Brief. Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns geliebt und uns ewigen Trost und gute Hoffnung gegeben hat durch die Gnade, tröste eure Herzen und befestige [euch] in jedem guten Werk und Wort (2,15–17).
Es kann keine schlüssigerer Widerlegung jenes kirchlichen Bewusstseins (ἐκκκλησιαστὶκον φρόνημα) verlangt werden, das Dr. J. A. Moehler (Symbolik, § xxxviii.) für die römische Körperschaft als den wahren Sinn der Tradition behauptet, als dieser Vers 15 bietet. Denn der eigentümliche Sinn, der in ihrer Mitte vorhanden ist, und durch die kirchliche Erziehung überliefert wird, ist ein gefärbtes Licht, das die Menschen irreführt und sie nicht nur in den Irrtum verwickelt, sondern versiegelt, mit umso größerer Selbstsicherheit, weil sie ihn für den allgemeinen Glauben der Kirche durch alle Zeitalter hindurch gegen die besondere Meinung, das Urteil der Kirche gegen das des Einzelnen halten.
Aber dies ist ein rein natürliches Gefühl, wie es jeden Bereich des menschlichen Lebens durchdringt; nicht nur jede Nation hat ihren eigenen besonderen Charakter, der in den verborgensten Teilen ihres Wesens eingeprägt ist und sich in jeder Beziehung zeigt, sondern jede bedeutende Gesellschaft, ob religiös oder politisch, literarisch oder wissenschaftlich, hat ihren eigenen traditionellen und unverwechselbaren Geist, mit dem sie danach strebt, ihre Ziele konsequent zu verwirklichen.
Mit einer solchen Analogie zu argumentieren, hieße, die Realität der Versammlung als göttliche Institution zu leugnen und die lebendige Verbindung jeden Gläubigen mit Gott zu trennen. Der Heilige Geist, der vom Himmel herabgesandt wird, ist die einzige Kraft, die sowohl die individuelle Beziehung des Christen als auch den gemeinsamen Weg der Versammlung intakthält. Denn wenn die Versammlung Gottes Tempel ist (1Kor 3,16.17; 2Kor 6,16), so ist es jetzt auch der Leib jedes Gläubigen (1Kor 6,19); die Gegenwart des Geistes macht das Vorrecht in beiden Fällen gleichermaßen gut. Zweifellos bringt seine Gegenwart die wichtigsten und gesegnetsten Ergebnisse hervor; aber die Versammlung ist kein Richter in Glaubensangelegenheiten, noch weniger ist sie unfehlbar in der Auslegung des göttlichen Wortes oder in irgendetwas anderem. Die Versammlung ist die Herrin, nicht der Herr, und ist durch ihre wesentliche Beziehung zum Gehorsam als ihrer ersten und unveräußerlichen Pflicht gebunden. Deshalb hat der Herr die Apostel als seine Stellvertreter gesandt, die, je nach Bedarf, der Versammlung sein Wort und seinen Willen kundtaten. Es waren die Gebote des Herrn, auch wenn sie mündlich mitgeteilt wurden; und sie wurden zu gegebener Zeit von den Aposteln aufgeschrieben, wenn auch nicht alles auf einmal, sondern tatsächlich, wie es erforderlich war. Mögen Ungläubige, wenn sie wollen, der Schrift einen Mangel oder andere Fehler vorwerfen. Wir Gläubigen wissen, dass sie ausreicht, um den Menschen Gottes vollkommen zu machen, völlig zubereitet zu jedem guten Werk. Was ist das für eine Logik, die ein so vollkommenes Ergebnis auf unvollkommene Mittel zurückführen würde?
Niemals ging das Wort Gottes von der Versammlung aus, sondern vom Herrn durch Diener, die durch göttliche Macht zu diesem Zweck außerordentlich auserwählt und ausgestattet waren. Und das Wort kam nicht zu irgendeiner bestimmten Versammlung allein, sondern als von Gott bindend für alle, die den Herrn anriefen, was auch immer die besonderen Umstände waren, die es hervorbrachten. Daher sagt der große Apostel: „Wenn jemand meint, ein Prophet zu sein oder geistlich, so erkenne er, dass das, was ich euch schreibe, ein Gebot des Herrn ist“ (1Kor 14,37). Wenn die Apostel mit Autorität versehene Abgesandte waren, dann war es die Autorität des Herrn, die sie der Versammlung auferlegten, die zu uneingeschränkter Unterordnung verpflichtet war. Sein Name ist der alles bestimmende Anspruch; ihre Namen dienen nur als Belege dafür; die Versammlung ist lediglich zum Gehorsam verpflichtet.
Als Paulus also seinen ersten Brief an die Thessalonicher schrieb, beschwor er sie beim Herrn, dass er allen Brüdern vorgelesen werde (1Thes 5,27). Sie waren jung im Herrn, hatten sich noch nicht lange bekehrt und genossen seine Unterweisung nur für eine ausreichend kurze Zeit. Dennoch sieht die göttliche Weisheit keinen Grund, diesen Kindlein in der Wahrheit eine Mitteilung vorzuenthalten, die sich durch ihre Freiheit auszeichnet, einige schwer zu verstehende Dinge darzulegen, die die Unwissenden und Unbefestigten, wie auch die anderen Schriften, zu ihrem eigenen Verderben verdrehen. Im Gegenteil, und vielleicht weil es der erste Brief war, der an die Gläubigen geschrieben wurde, verwendet der inspirierte Schreiber eine Sprache von auffallendem Ernst, um allen die Pflicht einzuschärfen, das zu hören, was er allen vorzulesen aufträgt.
Und nun, im zweiten Brief, sagt er wieder: „Also nun, Brüder, steht fest und haltet die Überlieferungen, die ihr gelehrt worden seid, sei es durch Wort oder durch unseren Brief“ (V. 15). Die überlieferten Anweisungen umfassen zweifellos die mündliche und briefliche Lehre und lassen keineswegs einen unbestimmten Sinn zu, der kraftvoll, aber fast unmerklich eine Gemeinschaft von Generation zu Generation bestätigt. Die Überlieferungen, zu deren Festhalten der Apostel die Versammlung auffordert, waren bekannte und besessene Wahrheit (1Kor 11,2), keineswegs eine Schrift, die durch einen unbestimmten geistlichen Sinn ergänzt wurde, der durch seinen inneren Einfluss alles prägen würde. Die katholische Vorstellung ist der Schrift unbekannt und wird von ihr ausgeschlossen, die darauf besteht, dass der Herr alles, was sein Wille ist, durch das Wort hervorbringt und formt, dass der Geist in allen seinen Handlungen von der Belebung bis zur höchsten Erbauung, und zwar sowohl im Gottesdienst als auch im Dienst, wirksam werden lässt. Denn Er ist hier in dem einzelnen Gläubigen und in der Versammlung, um Christus nach dem Willen des Vaters zu verherrlichen. Die Theorie einer doppelten Glaubensregel verrät ihren wahren Charakter als Rivalin der Schrift und als Rebellin gegen Gott, dessen Herrlichkeit keine koordinierte Autorität zulässt, wie es ihre Tradition nur annehmen kann. Denn diese setzt einen Mangel der Schrift voraus und beansprucht, obwohl menschlich, nichts weniger als göttliche Ehre. Eine Tradition, die man nicht hat und nicht kennt, ist nicht nur ein absurder Widerspruch zum einzig wahren Sinn der Tradition in der Schrift, sondern ihre Behauptung durch den Katholizismus setzt seine Anhänger der rein menschlichen Tradition der Ältesten aus, die der Herr als Gebote von Menschen, die das Wort Gottes nichtig machen, verurteilt hat. Vergeblich beten solche Gott an; sie ehren Ihn mit ihren Lippen, aber ihr Herz ist weit von Ihm entfernt. Das Wort Gottes allein hat einen absoluten Anspruch über das Herz und das Gewissen seines Volkes.
Es darf hinzugefügt werden, dass dies in keiner Weise den Dienst ersetzt. Denn die rechte Ausübung jeder Gabe Christi (und alle wirklichen Amtsträger sind seine Gaben oder δόματα für die Versammlung) besteht darin, die gnädige Autorität Gottes, wie sie in seinem Wort offenbart ist, mit Macht auf die Seele wirken zu lassen. Es ist der Feind, der sich zwischen Gott und seine Kinder stellt, an die sich sein Wort richtet. Denn es geht nicht so sehr um unser Recht auf sein Wort, sondern vielmehr um Gottes Recht, die Seinen zu unterweisen und zu leiten, zu korrigieren und zu warnen. Und deshalb richtet sich der größte Teil der neutestamentlichen Schrift an die Gläubigen als solche, nicht an Führer wie Timotheus oder Titus, obwohl diese beiden nicht vergessen werden, als ob sie keiner besonderen Ermahnung bedürften. Das wahre Amt wird niemals Gottes Rechte entkräften oder verleugnen, indem es sich selbst oder irgendetwas anderes zwischen das Gewissen und Gott stellt. Sein bestimmtes Werk ist, wie es immer war, den Gläubigen in ihrem Wunsch und ihrer Pflicht zu helfen, den Willen Gottes zu erkennen.
Aber als die Ursachen des Verderbens so weit unter den Gläubigen gewirkt haben, dass sie dem Heiligen Geist die blendende Macht der verdorbenen Christenheit vor Augen geführt haben, besteht er mehr denn je auf dem Wert der Schrift (kein Wort in den späteren Briefen über den mündlichen Teil dessen, was überliefert wurde), als dem beabsichtigten Schutz in Gegenwart von Menschen, die verkehrte Dinge reden oder von schlimmen Wölfen in Schafspelzen. Daher sind wir verpflichtet, sowohl Vorschriften zum Dienst als auch kirchliche Handlungen durch das immer lebendige und bleibende Wort zu prüfen. Die Leugnung einer solchen Verantwortung ist prinzipiell Katholizismus, wo auch immer, und zwar so real und dünn getarnt, dass niemand außer den Opfern der Täuschung irregeführt wird. Nur in dem Maß, wie die Kraft des Geistes die Predigt oder Lehre des Dieners Christi begleitet, stellt das Wort äußere Einflüsse jeder Art ins Licht und richtet und zerstört Hindernisse von innen. So erkennt der Gläubige seine unmittelbare Verpflichtung, Gott zu hören und zu gehorchen; sie nimmt nicht das Wort eines Menschen an, sondern das, was es wirklich ist, Gottes Wort, das auch in dem wirkt, der glaubt.
Auf der einen Seite, wenn die bekennende Gesamtheit eine Form der Gottseligkeit hat, deren Kraft aber verleugnet, wird uns gesagt, dass wir uns von diesen abwenden sollen (2Tim 3,5), und sei es auch im bevorzugten Ephesus, auf der anderen Seite wird uns im gleichen Zusammenhang gesagt, wir sollen in den Dingen bleiben, die wir gelernt haben und von denen wir völlig überzeugt sind, da wir wissen, von wem sie gelernt wurden (2Tim 3,14) – vom Apostel – im vollsten Gegensatz zu der unsicheren verborgenen Tradition, die die weltliche Weisheit will, als eine Art allgemeines Gesetz in der Christenheit. Nicht die Tradition, sondern die heiligen Schriften als Ganzes vermögen weise zu machen zur Errettung, nicht ohne, sondern durch den Glauben, der in Christus Jesus ist. Wenn der höchste Anspruch auf der Erde, wenn die Kirche, ein Fallstrick wäre, so wird derjenige, der hier auf der Erde für Gottes Ehre und Willen feststehen will, auf jede Schrift verwiesen als göttlich inspiriert und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit. Wehe dem, was sich zwischen den Gläubigen und Gott stellt und das verdunkelt, zerstört und verleugnet, was allein direkte und höchste Autorität hat, wie es am letzten Tag gerichtet werden muss. Es ist das, was wir „von Anfang an gehört haben“: was seitdem hinzugekommen ist, hat keine göttliche Autorität, wäre es auch noch so alt und ehrwürdig. Gott will die Seinen leiten und bedient sich des Dienstes, um dies zu bewirken, und zwar durch den Glauben seiner Kinder an sein Wort.
Dem Ausdruck der Dankbarkeit für den sicheren Segen der Thessalonicher im Gegensatz zum ewigen Verderben der Abgefallenen von Christus und dem Christentum folgt nicht nur eine Ermahnung, fest in der ihnen gegebenen Wahrheit Gottes zu stehen, sondern auch ein ihrer Not entsprechendes Gebet. „Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns geliebt und uns ewigen Trost und gute Hoffnung gegeben hat durch die Gnade, tröste eure Herzen und befestige euch in jedem guten Werk und Wort“ (V. 16.17). Er, der von Gott zu dem sündigen Menschen auf der Erde ausgegangen und nach der Vollendung der Erlösung zu Gott in den Himmel zurückgegangen ist, offenbarte Ihn als unseren Vater, wobei Er selbst unser Herr bleibt. Gott ist dem Glauben völlig offenbart, und der Gläubige ist völlig gesegnet, während er auf die Wiederkunft Christi wartet, um für den Leib das zu vollenden, was für die Seele schon getan ist.
Der Apostel wünscht, dass die Gnade den ganzen Weg, der dazwischen liegt, mit jenem göttlichen Zuspruch bedecken möge, der sowohl seiner vergangenen Güte als auch der Gefährdung seines Volkes durch Leiden und Kummer entspricht, und zwar umso mehr, als sie berufen sind, ein unerschütterliches Zeugnis für Christus abzulegen, innerlich und äußerlich, in jedem guten Werk und Wort. Ein wunderbarer Ruf, wenn wir an Gott und seinen Sohn auf der einen Seite und an uns selbst auf der anderen Seite denken! Wer entspricht diesen Dingen? Unsere Kraft kommt von Gott, der uns seinen Geist gegeben hat, damit es den Geringsten seiner Kinder nicht an göttlicher Kraft für ihre mühsame, aber gesegnete Aufgabe mangelt. Auch hier versiegt die Gabe der immerwährenden Ermutigung nicht, sondern betont vielmehr das Gebet und stärkt es, damit Er die Herzen seiner Kinder ermutigt. Unser Herr und Gott, unser Vater, werden in bemerkenswerter Weise darin identifiziert, dass sie uns jetzt auf diese Weise ermutigen und stärken, wie in 1. Thessalonicher 3,11: eine besondere Formulierung, die nicht erklärt werden kann, wenn sie nicht auf der ewigen Beziehung des Vaters und des Sohnes und ihrer Wesenseinheit in der Gottheit beruht.