Behandelter Abschnitt Phil 1,1-2
Versuchen wir, mit dem Segen Gottes die Besonderheiten dieses Briefes, den wir jetzt betrachten, ein wenig zu entwickeln. Zum besseren Verständnis dessen, was vor uns liegt, können wir auch den Charakter dieses Briefes mit dem anderer Briefe vergleichen. Einige seiner Merkmale lassen sich schon aus dem ersten Vers herauslesen. Der Apostel stellt sich auf die einfachste Art und Weise vor:
Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu, allen Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit den Aufsehern und Dienern: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus! (1,1.2).
Andernorts, auch wenn er sich als Diener vorstellt, versäumt er es nicht, auch seinen apostolischen Titel hinzuzufügen oder irgendeine andere Auszeichnung, durch die Gott ihn von den übrigen Brüdern abgesondert hatte. Aber hier ist es nicht so. Er wird vom Heiligen Geist geleitet, sich den Kindern Gottes in Philippi auf dem breitesten Boden vorzustellen; damit konnte er Timotheus voll und ganz mit sich selbst verbinden. So dürfen wir schon dem Anfang des Briefes entnehmen, dass wir nicht die wunderbaren Entfaltungen der christlichen und kirchlichen Wahrheit erwarten dürfen, wie wir sie im Römer-, Korinther- oder Epheserbrief haben, wo das Apostelamt des Paulus am sorgfältigsten dargelegt wird. „Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel“ (Röm 1,1). Er war nicht von Geburt an ein Apostel, sondern durch die Berufung Gottes. Er fügt weiter hinzu, dass sie durch dieselbe göttliche Berufung, durch die er ein Apostel war, Heilige waren – „den berufenen Heiligen“ (V. 7). Sie waren es beide durch die souveräne Gnade Gottes. Es gab in beiden nichts, was ein angeborener Anspruch an Gott gewesen wäre. Es gab bei beiden tödliche Sünde; aber die Gnade Gottes, die sie berufen hatte, Heilige zu sein, hatte Paulus nicht nur zu einem Heiligen, sondern auch zu einem Apostel berufen. Als solcher wendet er sich an sie im vollen Bewusstsein der Stellung, die Christus ihm und ihnen gegeben hatte, und entfaltet die Wahrheit von den allerersten Grundlagen an, auf denen das Evangelium ruht: der Gnade Gottes und dem Verderben des Menschen. Daher haben wir in diesem Brief etwas, das mehr einer lehrhaften Abhandlung nahekommt als in irgendeinem anderen Teil des Neuen Testaments. Gott sorgte dafür, dass kein Apostel jemals Rom besuchte, bis es dort bereits viele Gläubige gab, und dann schrieb Er an sie durch den Apostel Paulus.
Die stolze Kaiserstadt kann sich keiner apostolischen Gründung rühmen; trotzdem hat der Mensch den Anspruch erhoben und ihn mit Feuer und Schwert bedrängt. Paulus aber hat in der Fülle seines eigenen Apostelamtes geschrieben und ihnen die Wahrheit Gottes aufs sorgfältigste dargelegt, so dass gerade die Unwissenheit der Gläubigen in Rom dem Heiligen Geist Anlass gab, uns die ausführlichste Darstellung der christlichen Wahrheit zu geben, die das Wort Gottes enthält. Unter christlicher Wahrheit verstehe ich die persönlich Belehrung, die jemand braucht, um sich seines festen Standes vor Gott und der daraus folgenden Pflichten bewusst zu werden. Da schreibt der Apostel ausdrücklich als Apostel. Diese Wahrheiten können nicht als eine menschliche Zusammenstellung verstanden werden. Der Apostel muss die Autorität Gottes für sich in Anspruch nehmen; und während er sie in ihrer Stellung als Heilige stärkt, schafft er gerade dadurch Raum für jene Entfaltung der christlichen Wahrheit, die für den Brief so kennzeichnend ist.
In den Korintherbriefen spricht er die Empfänger nicht nur als Heilige an, als einzelne Christen, sondern als Versammlung; und auch dort betont er sein Apostelamt. Dient das nicht zur Veranschaulichung der Wahrheit, dass es kein Wort gibt, das in der Schrift eingefügt oder ausgelassen wird, was nicht voller Belehrung für uns ist, wenn wir bereit sind, uns belehren zu lassen? Bei den Korinthern fügt er nicht wie im Römerbrief hinzu: „ein Knecht Jesu Christi“, sondern einfach: „berufener Apostel Christi Jesu durch Gottes Willen“ (1Kor 1,1). Dort stellt er Sosthenes sorgfältig auf seinen eigenen, angemessenen Boden, als einen Bruder, während er sein eigenes Apostelamt hervorhebt. Der Grund ist offensichtlich. Die Korinther waren in Unruhe und gingen so weit, sogar das Apostelamt des Paulus anzuzweifeln. Aber Gott setzt niemals herab, was er gegeben hat, weil es den Menschen nicht gefällt. Dass er als Apostel handelte und sprach, war nicht Teil der Gnade Gottes für Paulus, sondern Teil seines demütigen Gehorsams vor Gott; hätte er das nicht getan, hätte er in seiner Pflicht versagt; er hätte nicht das getan, was zur Ehre Gottes und zum Wohl der Gläubigen wesentlich war. Alles ist an seinem richtigen Platz. Wenn also die Korinther das, was Gott in und durch den Apostel Paulus gewirkt hatte und den Platz, den Er ihm in seiner Weisheit gegeben hatte, in Frage stellten, so bestätigt der Apostel das mit Würde; oder vielmehr, der Heilige Geist stellt nur ihn als Apostel für sie dar, spricht aber von anderen nicht als Aposteln. Und an die Korinther wendet er sich als an die „Versammlung Gottes, die in Korinth ist, den Geheiligten in Christus Jesus, den berufenen Heiligen, samt allen, die an jedem Ort den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen, ihres und unseres Herrn“ (1Kor 1,2).
Niemand außer einem, der wusste, wie Gott zu seinen Heiligen steht und wie Er an der Macht seiner eigenen Gnade festhält, hätte die Gläubigen in Korinth in einer solchen Art und Weise betrachten können; niemand außer einem Herzen, das Gottes Liebe zu den Seinen verstand – und wie weit können sie abgezogen werden, wo das Fleisch einen Vorteil erlangt –, niemand außer einem bewundernswerten, von Gott belehrten Kenner seines eigenen Herzens und des Herzens Gottes, hätte sie jemals in der Sprache ansprechen können, mit der dieser Brief beginnt. Aber es war Gott, der durch seinen Apostel schrieb. Und da das Thema des Korintherbriefs das Verhalten der Versammlung auf der Erde ist, zeigt er uns dort das Prinzip des Ausschlusses und der Wiederaufnahme, die Durchführung des Abendmahls und seine moralische Bedeutung, das Wirken der verschiedenen Gaben in der Versammlung und so weiter. All diese Dinge finden sich als Aufgaben der Versammlung in den Briefen an die Korinther. Aber auch bei der Ausübung der Gaben handelt es sich um Gaben in der Versammlung. Deshalb gibt es in 1. Korinther 12 und 14 keinen Hinweis auf das Evangelisieren, weil die Gabe des Evangelisten natürlich nicht innerhalb der Versammlung ihre Ausübung findet. Diese Gabe wird, genau genommen, außerhalb der Versammlung ausgeübt. Sie haben Propheten, Lehrer und so weiter. Alle diese waren Gaben einer höheren Ordnung und wurden regelmäßig in der Versammlung Gottes ausgeübt.
Auch hier werden wir sehen, wie passend die Vorrede zum Zweck des
Heiligen Geistes im Ganzen passt: „Paulus und Timotheus, Knechte Christi
Jesu, allen Heiligen in Christus Jesus, die in Philippi sind, mit den
Aufsehern und Dienern: Gnade euch und Friede von Gott, unserem Vater,
und dem Herrn Jesus Christus!“ (V. 1.2). Nun ist dies die einzige
Versammlung, in der neben den Heiligen auch die „Aufseher und Diener“
angesprochen werden. Der Grund dafür mag sein, dass es sich mehr oder
weniger um einen Übergangszustand handelte. Wir haben drei Dinge in der
Versammlung des Neuen Testaments. Das erste ist – Apostel, die in der
vollen Kraft ihrer Gabe und ihres Amtes handeln. Dann, außer den
Diener (Diakonen), Aufseher oder Älteste (denn diese beiden bezeichnen
das gleiche Amt, nur mit einem anderen Namen), apostolisch eingesetzt zu
dem Auftrag, den der Herr ihnen gegeben hatte; die Aufseher haben mit
dem zu tun, was innerlich ist, die Diener mit dem, was äußerlich ist,
aber beides sind örtliche Ämter, während der Apostel überall seine
Autorität vom Herrn hatte. Der Heilige Geist zeigt uns so die völlige
Regierung in den Versammlungen; nämlich die Apostel in ihrer hohen
Stellung, die berufen waren, die Grundlagen der Versammlung praktisch zu
errichten und sie in großem Umfang in der ganzen Breite der Versammlung
Gottes auf der Erde zu leiten; und neben ihnen diese örtlichen Führer,
die Aufseher und Diener.
Drittens war der Apostel nun von der Versammlung getrennt und daher nicht mehr in der Lage, persönlich über die Gläubigen zu wachen. Dementsprechend schreibt er an die, die nicht mehr seine apostolische Fürsorge hatten, nicht nur dort, wo sie keine Aufseher und Diener hatten, sondern in diesem Fall, wo sie solche hatten. Doch in den letzten Briefen, in denen der Apostel von dem Empfinden seines baldigen Weggangs erfüllt ist, gibt es nicht die geringste Anspielung auf irgendeine Bestimmung für die Fortdauer dieser Amtsträger – nicht einmal, als er vertraulich an jemanden schrieb, den er berufen hatte, in Kreta Älteste zu anzustellen, und auch nicht an einen anderen, der in Ephesus mit einer Aufgabe betraut war.
So bringt uns dieser Brief zu einer Art Übergang. Er setzt die Versammlung in kirchlicher Ordnung voraus. Aber die Abwesenheit des Apostels in Person scheint von Gott gewollt zu sein, um die Versammlung auf die völlige Abwesenheit von Aposteln vorzubereiten. So gab Gott der Versammlung gnädigerweise eine Art Vorbereitung auf deren Weggang von der Erde. Praktisch war Paulus sogar, während er auf der Erde war, von ihnen ausgeschlossen und von der Bildfläche verschwunden, soweit es die apostolische Wachsamkeit betraf. Es kam die Zeit, in der es keine apostolisch ernannten Aufseher und Diener mehr geben würde. Der Geist Gottes wollte die Versammlung offensichtlich daran gewöhnen, in Gott die einzige stabile Stütze zu finden, wenn die Apostel nicht mehr in Reichweite derer sein würden, die auf sie blickten und ihre Weisheit in ihren Schwierigkeiten in Anspruch nahmen. Aber obwohl der Apostel nicht da war, hatten sie die „Aufseher und Diener“, nicht einen Aufseher und mehrere Diener, und noch weniger Aufseher und Älteste (oder Priester) und Diener, sondern mehrere der höheren geistlichen Führer wie auch der geringeren.
In jenen Tagen war ein Aufseheramt keine große weltliche Belohnung, sondern eine ernste geistliche Sorge, die, wie ausgezeichnet auch immer eine Beschäftigung sein mochte, kein Gegenstand des Ehrgeizes oder ein Mittel zum Gewinn war. „Wenn jemand nach einem Aufseherdienst trachtet, so begehrt er ein schönes Werk“ (1Tim 3,1), aber es verlangte eine solche Selbstverleugnung, eine solche beständige Prüfung bei Tag und Nacht, tiefer noch in der Versammlung als von der Welt draußen, dass es keineswegs eine Sache war, in die sich der am besten im Geist Befähigte stürzen sollte, sondern die er mit dem größten Ernst als das aufnahm, wozu er von Gott berufen war. Unter anderem aus diesem Grund hat die Versammlung vorgegeben, einen Aufseher zu wählen oder einzusetzen. Es geschah immer durch apostolische Autorität. Einer oder mehrere Apostel handelten dabei – nicht unbedingt nur Paulus oder die Zwölf. Es könnte ein Barnabas sein; zumindest finden wir in bestimmten Fällen, dass Paulus und Barnabas bei der Wahl von Ältesten oder Aufsehern gemeinsam handelten. Aber das mag zeigen, was für eine heikle Aufgabe das war. Der Herr übergibt sie nie einer Person außer einem Apostel oder einem apostolischen Mann (das heißt, einem Mann, der von einem Apostel ausgesandt wurde, um diese Arbeit für ihn zu tun, wie Titus und vielleicht Timotheus). Aber hier schließt der Bericht der Schrift; und während wir Anweisungen für das Fortbestehen der Versammlung haben und die Gewissheit, dass die Gaben bis zum Ende vorhanden sind, ist kein Mittel festgelegt, um die Einsetzung von Ältesten und Bischöfen aufrechtzuerhalten.
Wurde also vonseiten des Apostels, ja von Gottes Seite, das natürliche Bedürfnis vergessen? Denn darauf läuft es in Wirklichkeit hinaus. Und wer annimmt, dass irgendetwas dergleichen in der Schrift so nachlässig weggelassen wurde, der verleumdet in Wirklichkeit die treue Weisheit Gottes. Wer hat die Heilige Schrift geschrieben? Entweder man greift auf die elende Vorstellung zurück, dass Gott gleichgültig war und die Apostel es vergessen haben, oder man erkennt an, dass die Schrift aus der höchsten Quelle fließt, und kommt nicht um die Schlussfolgerung herum, dass Gott absichtlich geschwiegen hat, was die zukünftige Versorgung mit Ältesten oder Aufsehern angeht. Aber der Gott, der von Anfang an alles wusste und ordnete, vergaß nichts. Im Gegenteil, Er ließ in seiner eigenen Weisheit ausdrücklich kein Mittel übrig, um in dem vorausgesehenen Verderben der Christenheit die Einsetzung von Ältesten und Dienern fortzusetzen. War es dann nicht wünschenswert, wenn nicht sogar notwendig, dass die Versammlungen solche haben? Sicherlich, wenn wir so argumentieren, wurden Apostel ebenso lautstark gefordert wie die unteren Amtsträger.
Es ist ganz offensichtlich, dass derselbe Gott, der es für richtig hielt, keine Nachfolge der Apostel zu haben, auch nicht die Mittel für eine biblische Aufeinanderfolge von Aufsehern und Dienern zu geben bereit war. Wie kommt es dann, dass wir jetzt keine solchen Amtsträger haben? Die Antwort ist ganz einfach. Weil wir keine Apostel haben, die sie ernennen. Würdest du mir bitte sagen, ob jemand anders die Autorität dazu hat? Lasst uns wenigstens bereit sein, unseren wirklichen Mangel in dieser Hinsicht anzuerkennen; es ist unsere Pflicht vor Gott, denn es ist die Wahrheit; und das Anerkennen verhindert Anmaßung. Denn im Allgemeinen tut die Christenheit ohne Apostel, was nur von oder mit ihnen getan werden darf. Die Ernennung von Ältesten und Dienern geht von der Vorstellung aus, dass es eine angemessene Macht gibt, die noch in den Menschen oder der Versammlung wohnt. Aber die einzige biblische Autorität dafür ist ein Apostel, der direkt oder indirekt handelt. Titus oder Timotheus konnten nicht hingehen und Älteste ordinieren, es sei denn, sie wurden von den Aposteln autorisiert. Daher sollte Titus, nachdem er dieses Werk getan hatte, zu dem Apostel zurückkehren. Er war keineswegs jemand, der ein bestimmtes Vermögen erworben hatte, das er jederzeit anwenden konnte, wo und wie er wollte. Die Schrift stellt dar, dass er unter apostolischer Leitung handelte. Aber nachdem die Apostel nicht mehr da waren, kein Wort über die Macht, die durch diese oder andere Beauftragte des Apostels wirkte.
Gott bewahre uns davor, dass wir vorgeben, einen Apostel zu machen oder seine Abwesenheit zu verharmlosen! Es ist demütiger zu sagen: Wir sind dankbar, das zu gebrauchen, was Gott gegeben hat und was Gott auch weiterhin geben mag, ohne uns auf mehr zu berufen. Liegt nicht Glaube und Demut und Gehorsam in der Haltung, die den gegenwärtigen Mangel in der Versammlung anerkennt und einfach nach der Kraft handelt, die übrigbleibt und die für jede Not und Gefahr ausreichend ist? Der wahre Weg, Gott zu verherrlichen, besteht nicht darin, sich eine apostolische Autorität anzumaßen, die wir nicht besitzen, sondern im Vertrauen auf die Kraft und Gegenwart des Heiligen Geistes zu handeln, der bleibt. Es war eindeutig der Herr selbst, der durch den Heiligen Geist auf alle Gläubigen einwirkte und der jeden von ihnen an den besonderen Platz im Leib setzte, den Er für richtig hielt. Es geht nicht darum, dass wir aus den Gaben eines Menschen schließen, dass er ein Apostel ist. Um ein Apostel zu sein, bedurfte es der ausdrücklichen, persönlichen Berufung durch den Herrn in einer bemerkenswerten Weise; und ohne diese gab es niemals eine angemessene Macht zur Ordination, weder persönlich noch durch Stellvertreter.