Behandelter Abschnitt Gal 5,10-12
Ich habe Vertrauen zu euch im Herrn, dass ihr nicht anders gesinnt sein werdet; wer euch aber verwirrt, wird das Urteil tragen, wer er auch sei. Ich aber, Brüder, wenn ich noch Beschneidung predige, was werde ich noch verfolgt? Dann ist ja das Ärgernis des Kreuzes weggetan. Ich wollte, dass sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln (5,10‒12).
Das konnte er nicht über alle sagen, sondern er sagt es ganz allgemein. Er will sie von denen trennen und ein Gefühl des Entsetzens bezüglich derer vermitteln, die sie verführt hatten. „Der Glaube, der durch die Liebe wirkt“ (V. 6), zögert nicht, eine starke Sprache über die Verderber der Versammlung Gottes zu gebrauchen. Er prangert sie aufs Schärfste an, und zwar als eine Pflicht gegenüber Gott und den Menschen.
Es gab mehrere, die an diesem bösen Werk beteiligt waren. Sie hatten den Apostel Paulus zu einer Art Beweismittel zu ihren Gunsten gemacht. Sie mögen es ausgenutzt haben, dass er Timotheus beschnitten hat, um einen Widerspruch zwischen seinem Handeln und seiner Predigt zu zeigen. Aber Paulus handelte nicht gegen diese Prinzipien, als er Timotheus beschnitt. Es war die Fähigkeit eines Mannes, der den Mund der Widersprechenden zum Schweigen bringen konnte (Tit 1,10.11); und Paulus, um jüdische Verleumdungen zum Schweigen zu bringen, beendete diese Frage auf höchst nicht jüdische Weise – indem er Timotheus beschneiden ließ. Aber er duldete es nicht im Fall von Titus (der ein Grieche war), den er mit sich selbst nach Jerusalem hinaufnahm. Das mag willkürlich erscheinen, aber die Gnade kennt die Zeit, sowohl fest zu sein als auch sich zu beugen. Es scheint hier eine Anspielung darauf zu sein, in seinem Streit mit den Verteidigern des Gesetzes. Es bedarf der Weisheit des Geistes Gottes, der uns zu unterscheiden hilft, wo wir unsere Freiheit gebrauchen dürfen, oder wo es eine Pflicht ist, fest wie ein Fels zu stehen; und Paulus tat beides. Wenn Timotheus beschnitten worden war, war es Gnade, die bloße fleischliche Fragen aufhielt, und nicht Gesetz, denn sein Vater war ein Grieche. Aber was das Predigen anging, so lag ihm so etwas fern. Hätte er jemals auf die Beschneidung gedrängt, hätte er an jedem Ort, den er besuchte, die Gunst und das Wohlwollen der Juden gehabt. Im Gegenteil, er wurde verfolgt, weil er weder das Fleisch noch den Anspruch der Beschneidung zulassen wollte.
Der letzte Teil des Kapitels nimmt das andere Thema auf, nämlich das Gesetz als Herrschaft über den Wandel (V. 13‒26). Was wir bereits hatten, ist die Verleugnung der Beschneidung und des Gesetzes in jeder Form als Voraussetzung für die Rechtfertigung. Lässt du das Prinzip davon in einem einzigen Punkt zu, bist du schuldig, das ganze Gesetz zu tun.
Bei dieser natürlichen Trennung kehrt der Geist Gottes zu dem Gedanken der Freiheit zurück, mit dem Er das Kapitel begonnen hatte. Er wird unter einem doppelten Gesichtspunkt vorgetragen. Die Freiheit als eine Frage der Rechtfertigung hatten wir im ersten Teil; die Freiheit jetzt haben wir als diejenige, die zur praktischen Heiligkeit führt und immer mit ihr verbunden sein sollte. Denn wir sollten vor Augen haben, dass dies das Thema des restlichen Kapitels ist.
Nun gibt es viele Menschen, die mehr oder weniger verstehen, dass Christus uns Freiheit in der Sache der Gerechtigkeit oder der Stellung des gerechtfertigten Menschen vor Gott gebracht hat; doch sie kennen keine Freiheit im täglichen Wandel mit Gott. Und wenn ich sage „viele“, dann meine ich viele Christen oder echte Gläubige. Die praktische Heiligkeit leidet in solchen Fällen unweigerlich. Wo es daneben viel Gewissen gibt, nimmt es notwendigerweise die gesetzliche Form von Verordnungen, Zwängen und dergleichen an. Oder wo es an inneren Übungen fehlt, nimmt es mehr oder weniger die Form der Lauheit an: das heißt, solche sehen, dass sie durch die Gnade Gottes befreit sind, und halten sich für frei, die Welt zu gebrauchen und in nicht geringem Maß die Neigungen der Natur zuzulassen; denn, wie sie sagen, ist das Böse in der Natur, und, wie sie meinen, Gott lässt es in seiner zärtlichen Barmherzigkeit zu. Beides aber ist völlig falsch. Eine Ursache all dieses Irrtums liegt in der Verkennung einer sehr wichtigen Wahrheit, nämlich der Wirkung der Gegenwart des vom Himmel herabgesandten Heiligen Geistes. Doch in der Apostelgeschichte und den Briefen, in allen Ermahnungen, in dem dargelegten Lebenswandel, in der Anbetung, die das Neue Testament darlegt – mit einem Wort, in der ganzen Erfahrung der Christen, die dort geschildert und betont wird, ist alles auf die Gegenwart des Heiligen Geistes gegründet. Wo dies nicht beachtet wird, ist die Folge, dass Kinder Gottes entweder annehmen müssen, dass es einen gewissen Spielraum gibt, der ihnen von Gott zugestanden wird, was nur ein anderes Wort für Gleichgültigkeit ist, oder sie müssen auf die gerechte Schranke zurückgreifen, die Gott auf unsere Natur gelegt hat, und das ist nur ein anderer Ausdruck für das Gesetz Gottes. Nun geht das Evangelium davon aus, dass das Gesetz Gottes, so gut und heilig und vollkommen es auch ist, völlig machtlos ist, weder zu rechtfertigen noch zu heiligen. Es kann die alte Natur in keiner Weise verbessern; auch ist es nicht die Lebensregel der neuen Natur. Der alte Mensch ist ihm nicht unterworfen, und der neue Mensch braucht es nicht. Die neue Schöpfung hat einen anderen Gegenstand vor sich und eine andere Kraft, die auf sie einwirkt, um das hervorzubringen, was lieblich und Gott wohlgefällig ist – nämlich Christus, verwirklicht durch die Kraft des Heiligen Geistes. Und obwohl der Geist natürlich jeden Teil des Wortes gebrauchen kann (Gott bewahre, dass ich sage, dass Gottes gerechtes Gesetz nicht in den Bereich des Geistes gebracht wurde, um es zu verwerten!) behaupte ich, dass das Gesetz weder die Form, noch das Maß, noch den Charakter, noch die Kraft der christlichen Heiligkeit gibt. Es ist ein Missverständnis der Absicht Gottes, es zu geben, und von seinem rechten gegenwärtigen Gebrauch, anzunehmen, dass das Gesetz die Form ist, in der Gott jetzt die Gläubigen formt.