Aber selbst das befriedigte Ihn nicht; denn es könnte immer noch der Gedanke bestehen, dass die Sohnschaft nur für die Gläubigen in Israel war – dass sie jetzt in diese Stellung gebracht wurden. Aber der Apostel wendet sich den Nationen zu und sagt ‒ dabei wechselt er die Person und spricht die Galater in einer sehr ausdrücklichen Weise an:
Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater! (4,6).
Hier lernen wir am deutlichsten, dass der Jude durch das Gesetz nur in eine Stellung der Knechtschaft kam: Das war alles, was das Gesetz für ihn tun konnte. Es war unmöglich, dass es anders sein konnte. Das Gesetz konnte nur verurteilen, was falsch war, und nicht mehr. Aber jetzt ist Christus gekommen, und in Christus gibt es die befreiende Kraft, und das ist es, was der verdorbene Mensch braucht. Es gibt eine befreiende Macht, und Gott führt sie in Christus ein. „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn“ (V. 4). Es war Gott selbst, der dieses gesegnete Werk einführte, ja es ist das, woran Er seine Freude hat. Als das Gesetz eingeführt wurde, hat Gott es zwar gegeben, aber Er sagt einfach: „angeordnet durch Engel“ (3,19). Er setzt nur Diener zu dem Werk ein, verhältnismäßig entfernte Diener, die nie Vermittler des Lebens und des Geistes waren, sie waren nicht Glieder Christi, wie wir es sind. Engel mögen heilig sein, aber ein Engel erhebt sich nie aus dem Zustand des Dieners; sie sind „dienstbare Geister, ausgesandt zum Dienst um derer willen, die die Errettung erben sollen“ (Heb 1,14). Aber jetzt, wo wir von der Erlösung hören, wird Gott am deutlichsten und gründlichsten als die Quelle der Erlösung dargestellt: Gott sandte „seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter Gesetz, damit er die, die unter Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Sohnschaft empfingen“ (V. 4.5). Natürlich sind auch die gläubigen Heiden gemeint, aber ohne die Frage, dass wir unter das Gesetz gestellt werden, ohne den geringsten Gedanken, uns unter das Gericht zu stellen, das die Juden gekannt hatten.
Der jüdische Gläubige war im Zustand eines kleinen Kindes gewesen, ein Knecht unter dem Gesetz; der Heide war es nie. Es ist wahr, er war ein Knecht, aber von einem völlig anderen Charakter. Seine Knechtschaft war die des Götzendienstes; die Knechtschaft des Juden war die des Gesetzes. Der eine war also unter dem, was an sich gut war, aber zerstörerisch für ihn war; der andere war unter der Knechtschaft dessen, was von Satan war, und hatte nichts, was ihn mit Gott verband. Je religiöser der Heide war, desto gründlicher war er der Sklave Satans. Wir werden die Kraft dessen in Kürze finden. Im Fall der Juden hatten sie unter diesem System von Vormündern und Verwaltern gestanden: Sie hatten gewusst, was es heißt, obwohl sie wirklich gläubig waren, nur von fern zu stehen, weit weg von Gott, unfähig, Gott zu nahen und ihr Herz als Kinder vor Ihm auszuschütten. Sie waren fähig, zu Ihm zu schreien, zu Ihm zu seufzen: Das ist es, was du in den Psalmen findest, die voll von diesem gesegneten Vertrauen in Gott sind; aber es ist das Vertrauen von Dienern, die darauf zählen, dass Gott für sie eingreift, die auf Gott hoffen, aber die noch nicht fähig sind, Ihn zu preisen – sie sind nicht in seine Nähe gebracht. Sogar in einigen der hellsten der Psalmen beten sie, dass Gottes Zorn nicht ewig gegen sie brennen möge. Sie wissen nicht, dass Er sie befreien wird.
Andererseits lassen berufen sie sich auf die gerichtlichen Gefühle Gottes gegen seine Feinde: Sie freuen sich, als ob es ein Vorrecht wäre, die Feinde Gottes niederzuschlagen, und bitten Ihn, sie wie Stoppeln vor dem Wind zu machen (Ps 83,14) – sie und ihre Hunde zu benutzen, damit sie das Blut der Feinde lecken (Ps 68,24) – für uns ein Gedanke voll der schmerzlichsten Verbindungen, wovon sich alle Christen abwenden würden. Viele sind sogar in der Gefahr, das Wort Gottes zu verdammen, weil solche Wünsche darin enthalten sind. Doch die Sprache ist sehr angebracht in Bezug auf Menschen, die unter dem Gesetz stehen; aber jetzt sind wir unter der Gnade und nicht mehr unter dem Gesetz, und wir beten für die Menschen, die uns misshandeln und verfolgen (Mt 5,44); wohingegen der ganze Ton der Psalmen, wo sie von der Glückseligkeit sprechen, die Kinder Babylons am Felsen zu zerschmettern (Ps 137,9), alles andere als ein Vergelten von Gutem für Böses ist: Es ist das Böse, das eine gerechtes Vergeltung bewirkt.
Ich behaupte, dass jedes Wort in den Psalmen von Gott ist – dass all diese Verwünschungen göttlich sind. Jeder Fluch, jede Drohung und jede Warnung, diese ganze Sympathie mit der göttlichen Vergeltung, ist ebenso von Gott wie die Fürbitte des Christen für seine Feinde; aber sie passen nicht zur gleichen Zeit und nicht zu den gleichen Personen, und Gott erreicht auch nicht den gleichen Zweck. Solange Gott den Tag der Gnade fortsetzt, sind alle diese Dinge völlig unanwendbar. Sie sind nicht das, was Gott jetzt bewirkt. Sie bleiben für immer wahr, jedes ist für sich genommen immer richtig. Aber die Tatsache ist, dass Gott jetzt in Christus die volle, souveräne Gnade gebracht hat; und deshalb versetzt Gott die, die zu Christus gehören, in die Lage, nicht irdische Gerechtigkeit, sondern himmlische Gnade zu zeigen. Die gerechte Herrschaft ist aufbewahrt und muss noch buchstabengetreu ausgeführt werden; und Gott wird sein Volk Israel gebrauchen, um die besonderen Werkzeuge für die Ausführung dieser göttlichen Gerichte zu sein.
Schauen wir uns das Buch der Offenbarung an. Das gerechte Handeln erscheint, nachdem die Versammlung in den Himmel aufgenommen wurde und nachdem die vierundzwanzig Ältesten auf Thronen um den Thron her sind und gekrönt sind, die die himmlischen Erlösten darstellen, die Gott jetzt aus Juden und Heiden herausruft. Gott beginnt dann, an seinem alten Volk Israel zu wirken, das es versteht und zu Gott schreit und Ihn fragt: „Bis wann, o Herrscher, der du heilig und wahrhaftig bist, richtest und rächst du nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“ (Off 6,10). Ist dies nicht das Gegenstück zum Ton der Psalmen? Und doch sind sie Heilige Gottes. Aber beachten wir die Konsequenz, wenn wir jetzt diese Haushaltungen verwechseln. Die Bibel verlangt, dass man sie richtig einteilt. Wenn du Teile der Schrift nimmst und sie auf die eine oder andere Weise falsch anwendest, wirst du ein Arbeiter sein, der sich zu schämen hat (2Tim 2,15). Ach, wie sehr die Menschen die Bergpredigt verdrehen. Sie sehen gewisse Worte, die unser Herr für seine Jünger bestimmt hat; sie finden, dass Er darauf besteht, dass sie dem Bösen nicht widerstehen, nicht Schlag mit Schlag vergelten und keine irdischen Mittel anwenden sollen, um ihre Ansprüche geltend zu machen oder sie gegen persönliche Gewalt, Enteignung ihres Eigentums und so weiter zu verteidigen; genau die Dinge, die die Menschen als eine Verletzung ihres Rechts empfinden.
Wenn nun ein Christ daraus ein Gesetzbuch für alle Menschen machen würde, was könnte mehr im Gegensatz zu Gottes Gedanken stehen? Es wäre der Versuch, die Welt nach Prinzipien der Gnade zu regieren. Wenn man auf diese Weise mit den Menschen, wie sie sind, experimentieren würde, würde es ein weitaus schrecklicherer Bärengarten1 werden als selbst in den Zeiten des großen Aufstandes, als man versuchte, die Vergeltung des Psalmisten auszuleben. Auf diese Weise wurden Christen unter den Geist und das Prinzip des Gesetzes gestellt; aber der Versuch, die Welt unter das zu stellen, was zur Führung der Kinder Gottes gedacht war, würde eine noch schlimmere Verwirrung sein. Der Strolch und der Schurke würde begnadigt und verhätschelt werden, der Dieb dürfte sich bedienen, soviel er wollte. Offensichtlich würden solche Prinzipien niemals für die Welt taugen, noch waren sie für sie bestimmt. Die Unbelehrten mögen aufschreien, dass dies bedeutet, die Bibel, oder große Teile davon, wegzunehmen, oder vieles davon, aber das ist ein völlig falsches Signal. Es ist nur ein Versuch, sie dazu zu bringen, die Bibel zu verstehen und sie die wahre Bedeutung ihrer verschiedenen Teile zu lehren.
Der praktische Punkt ist, dass Heiden, wie wir, aus dem Zustand der Sünde, in dem wir uns befanden, herausgenommen worden sind. Wir waren nicht unter Gesetz, aber wir waren unter der Sünde – in völliger Uneinsichtigkeit gegenüber Gott –, unter jeder Art von Übel. Es war vielleicht nicht unbedingt offenes, moralisches Böses, aber wir lebten für uns selbst und lebten ohne Gott, und das ist eine sehr sanfte Art, den Zustand zu beschreiben, in dem wir alle waren. Die Galater befanden sich in den gröbsten Formen der Unwissenheit und des Götzendienstes; aber so ist der Geist der Gnade, dass sie aus all dem herausgenommen und durch den Glauben an Christus zu Söhnen Gottes gemacht worden waren, ohne irgendwelche Zwischenstufen zu durchlaufen. Sie taten Buße, sie nahmen das Evangelium an, sie wurden Kinder Gottes. „Weil ihr aber Söhne seid, so hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!“ (V. 6). Genau das Wort, das Er, der Gepriesene, in voller Gemeinschaft mit seinem Vater aussprach. Bedenke, in welche Stellung wir gebracht werden! Dass der, der noch am Tag zuvor ein elender, unreiner, götzendienerischer Heide war, durch den Heiligen Geist befähigt wird, denselben innigen Ausdruck der Beziehung auszusprechen – Vater! Was für einen Platz hat Gott seinen Kindern jetzt gegeben! Und das ist nicht der Fall, wenn man über die Juden spricht, von denen ausdrücklich gesagt wurde, dass sie vom Gesetz losgekauft und in die Sohnschaft gebracht wurden; sondern der Heilige Geist weitet es aus, wenn Er über die Heiden spricht. Man hätte meinen können, dass der Heide, da er nichts vom Gesetz wusste, nicht auf einmal an einen so gesegneten Ort gebracht werden konnte wie der gläubige Jude. Aber das ist nicht so: Der Jude musste herausgeführt werden, nicht nur von der Sünde, sondern auch vom Gesetz. Der Heide hatte nichts als seine Sünde, von der er gelöst werden musste; und deshalb wurde in ihm das Werk, wenn ich so sagen darf, viel einfacher getan. Der Jude musste verlernen, der Heide nur lernen. Alles, was der Heide hatte, war seine bloße verdorbene Natur, bis er sich bekehrte und sofort unter den hellen Schein der Gnade Gottes gebracht wurde; wohingegen der Jude aus dem Gesetz herausgebracht werden musste und durch das, was noch an ihm von der Rechtsordnung haftete, behindert – vielleicht gebunden – war.
Bedenke, dass der, der die Gnade versteht, niemals das Gesetz abschwächt, was eine sehr große Sünde ist. Die Lehre des Glaubens stellt das Gesetz auf. Wenn du denkst, dass der Christ unter dem Gesetz stehen und dennoch gerettet und glücklich sein kann, zerstörst du wirklich die Autorität des Gesetzes. Jüdische Gläubige unter dem Gesetz hatten nie den vollen Frieden und die Freude, die das Evangelium jetzt bringt; und wo jetzt Menschen im Geist unter dem Gesetz stehen, können wohl gerettet werden, aber sie haben nie die volle Ruhe, zu der das Werk Christi sie berechtigt. Der Grund dafür ist ganz einfach. Obwohl sie Christus empfangen haben, wenden sie sein Werk nicht an. Wenn sie es täten, würden sie sehen, dass eine der Wirkungen der Erlösung darin besteht, einen Menschen zu befreien – nicht aus der Unterwerfung unter Christus, sondern ihn mehr als je zuvor dem Willen Gottes zu unterwerfen, und doch nicht unter das Gesetz zu stellen. Deshalb zeigt der Apostel, dass das, wozu sie gebracht wurden, die Stellung von Söhnen ist. Nun ist die Stellung des Sohnes die einsichtige Unterordnung unter den Vater: Der Heilige Geist, der Geist des Sohnes, lehrt uns, zu rufen: „Abba, Vater!“, aber nicht mehr zu sagen: „Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leib des Todes?“ (Röm 7,24). Das ist der Schrei, der aus dem Herzen eines Menschen, der unter dem Gesetz steht, herausgepresst wird, der in der Angst des Geistes schreit und immer das Empfinden hat, dass es etwas gibt, wovon er erlöst werden muss; manchmal ein wenig getröstet, und dann unter dem Druck des Gesetzes niedergeschlagen. Wo hingegen die Fülle des Segens, die Gott uns in Christus gegeben hat, erkannt wird, wird das Herz vom Heiligen Geist dazu gebracht, „Abba, Vater“ zu rufen. Das Fleisch ist vor Gott zu Ende gekommen, und wir haben das Recht zu sagen, dass wir selbst mit ihm zu Ende gekommen sind. Gott kann mir nicht vertrauen, noch kann ich mir selbst vertrauen; aber ich weiß, dass ich Gott in seinem geliebten Sohn vertrauen kann, der die Sünde durch das Opfer seiner selbst weggetan hat, so dass es vollkommene Ruhe für das Herz gibt.
1 Ein Bärengarten wird eine Arena genannt, Arena, in der man zum Vergnügen von Zuschauern Hunde oder Löwen auf einen angebundenen Bären hetzte, dem man zuvor Krallen und Fangzähne entfernt hatte (WM).↩︎