Der erste Abschnitt des Kapitels ist der Gegenüberstellung der Prinzipien des Gesetzes und des Glaubens gewidmet, nicht gerade der Verheißung, aber des Glaubens. Der folgende Abschnitt nimmt das Thema der Verheißung auf und zeigt die gegenseitigen Beziehungen von Gesetz und Verheißung; aber die ersten Verse sind einem größeren Bereich gewidmet. Denn wir müssen bedenken, dass der Glaube neben der Verheißung Gottes noch einen anderen Bereich und eine andere Wirkung hat. Ohne Zweifel gehören die Verheißungen zum Glauben; aber dann umfasst er viel mehr und gewinnt mehr Wert als das, was (nicht offenbart, sondern) verheißen wurde. Denn wenn wir von Verheißungen sprechen, dann sind es nicht nur die allgemeinen Segnungen, von denen Gott spricht, wie seine Gnade für schuldige Sünder, sondern bestimmte Vorrechte, die Abraham im Voraus zugesprochen wurden und jetzt in ihrer ganzen geistlichen Kraft in Christus „Ja und Amen“ sind – Verheißungen, die an einem zukünftigen Tag sowohl dem Buchstaben als auch dem Geist nach erfüllt werden, wenn es Gott gefällt, sein altes Volk zu bekehren. Dann wird es die wunderbare Entfaltung allen Segens, himmlischen und irdischen, geben, der durch dieselbe herrliche Person, die Quelle und das Zentrum von allem, den Herrn Jesus Christus, bewirkt wird. Aber in dem Teil des Kapitels, den wir vor uns haben, geht es nicht so sehr um die Verheißung, sondern vielmehr darum, wie der Segen überhaupt zu erlangen ist.
Die Galater waren vor nicht allzu langer Zeit unter dem unermesslichen Vorrecht der Predigt des Apostels in den Genuss der Kraft und des Segens des Christentums gebracht worden; und nun standen sie leider in Gefahr, abzugleiten, und sie hatten das Bewusstsein für die Gnade in ihnen verloren. Durch welche Mittel hatten sie ursprünglich den Segen von Gott erhalten? Diese Frage wurde durch den letzten Vers des vorherigen Kapitels aufgeworfen. Denn der Apostel hatte dort den großen Punkt hervorgehoben, den der Heilige Geist in diesem Brief veranschaulicht, nämlich, dass nicht das Gesetz, sondern die Gnade Gottes in Christus allen Segen, den der Christ genießt, schenkt. Er hatte uns schon vorgestellt: „Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ (2,19). Er zeigte, wie dies in seinem eigenen Fall geschah, da er ein Jude war und daher notwendigerweise unter dem Gesetz Gottes stand, in einer Weise, die auf einen Heiden als solchen zutraf; wie es war, dass er davon befreit worden war und nun eine so andere Sprache annehmen konnte. Er sagt: „Ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (2,19.20).
Er spricht also in einer Hinsicht von sich als gestorben, in einer anderen als lebend; aber das Leben, in dem er jetzt lebte, war Christus in ihm. Das alte Ich behandelt er als eine tote Sache. Alles, was seinen natürlichen Charakter ausmachte, das alte Ich, das dem Gesetz unterworfen war, wird als gekreuzigt behandelt. Der Grund dafür ist offensichtlich. Was ist die Quelle der Kraft eines Menschen und das Ende von allem in dieser Welt? Was vermischt sich mit allen Gedanken und Begierden und verdirbt sie? Es ist das Ich. Ob man nun den Mut oder die Großzügigkeit oder die Sorge für die Familie, das Land und die Religion betrachtet – alle diese Dinge waren vor der Bekehrung in Paulus zu finden; aber eines lag tiefer als alles andere, und das war das Ich. Doch das war alles im Kreuz Christi zerschlagen, der sein ganzes moralisches Wesen als auf dem gegründet beurteilte, was verdorben war – das heißt sich selbst. Der Charakter des Paulus wurde aus seinem tiefsten Inneren heraus behandelt. Von nun an geht er von dem Grundsatz aus, dass er jetzt einen anderen für sein Leben hat, nämlich Christus; und während er sich in seiner Liebe wiederfand und seinen Willen ausführte, stand Christus als der vor ihm, der durch den Heiligen Geist die Kraft des Lebens in ihm war.
Das ist auch nicht nur bei einigen der Fall; im Gegenteil, Christus ist das Leben jedes Christen, aber es mag nicht immer offenkundig sein. Es kann sein, dass der alte Mensch ausbricht in Stolz, Eitelkeit, Liebe zur Bequemlichkeit, der Kraft alter Gewohnheiten. Wo das der Fall ist, ist es natürlich die alte Natur, die sich durch den Mangel an Beschäftigung mit Christus und der Übung des Selbstgerichts erneut zeigt.
Es kann sozusagen keinen gestorbenen Christus in uns geben; aber wenn wir praktisch nicht von Christus leben, wirkt sich das bald aus und offenbart sich in unseren Wegen, die Christus ans Kreuz gebracht haben. Der Apostel war an diesem Punkt angelangt: Es war Christus, der in ihm lebte, nicht das Gesetz. „Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ (2,19). Das Gesetz konnte allein seine tödliche Kraft über die zu bringen, die unter ihm waren. Es gab kein Streben, wie wir es in diesen Tagen oft sehen, das Gesetz auf geistliche Weise zu halten, jetzt, da er bekehrt war; sondern „Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ (2,19).
Dieser Ausdruck, „Gott leben“, ist sehr ernst und schön. Das Gesetz hat in keinem einzigen Menschen jemals Leben hervorgebracht: es tötet. Hier hingegen ist Paulus dem Gesetz gestorben, aber Gott lebend nach einem völlig anderen Prinzip. Die Frage war: Wie kam es zu diesem Leben? Wenn alles, was das Gesetz tat, darin bestand, den bewussten Tod über ihn zu bringen (was sich darauf bezieht, dass er tief empfand, vor Gott verdammt zu sein), was ist dann die Quelle des neuen Lebens? Nicht das Gesetz, sondern Christus. Er hat mit dem Gesetz abgeschlossen, in Christus, und er ist frei, ja, und hat Leben in sich, um Gott zu leben. Daher sagt er: „und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir“ (V. 20). Dies zeigt uns also nicht nur die Quelle und den Charakter des neuen Lebens, sondern auch, dass es durch das aufrechterhalten wird, wodurch es ins Leben gerufen wurde. Wie der Glaube Christi das Leben hervorbrachte, so ist der Glaube Christi seine Kraft.
Ein Mensch mag das Gute und Schöne bewundern, aber das ist etwas anderes, als es zu sein. Und was gibt Kraft? Das Hinschauen auf Christus; das ist der, der sich an Christus labt. Das objektive Mittel ist Christus: „was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch den Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat. Ich mache die Gnade Gottes nicht ungültig“ – das taten sie –, „denn wenn die Gerechtigkeit durch Gesetz kommt, dann ist Christus umsonst gestorben“ (V. 20.21). Es war ihr Grundsatz, dass die Gerechtigkeit durch das Gesetz kam, und nicht allein durch den gestorbenen und auferstandenen Christus. Dann, sagt er, wenn es so ist, „ist Christus umsonst gestorben.“ Wäre es nur eine Frage des Gesetzes, so wäre es notwendig, dass Christus lebt und uns stärkt, das Gesetz zu halten. Aber Er ist gestorben. Nach ihrer Lehre, so betont er, wäre Christus umsonst gestorben; während dies in Wahrheit das Wesentliche ist, der eigentliche und einzige Weg, auf dem die Gnade Gottes zu uns kommt.
Nachdem er diese große Wahrheit behandelt hat, kann er sich einer plötzlichen und erschreckenden Zurechtweisung nicht enthalten, da er durch den Gegensatz empfindet, wie schmerzlich der Verlust war.
O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde? (3,1).
Der Ausdruck, „dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht“, der in einigen Übersetzungen vorhanden ist, ist ein Einschub aus Galater 5,7: „Ihr lieft gut; wer hat euch aufgehalten, dass ihr der Wahrheit nicht gehorcht?“ Dort ist er unbestreitbar und richtig eingefügt, aber hier ist er in den besten Abschriften des Briefes weggelassen. Ich stütze mich nicht darauf, sondern führe die Tatsache nur nebenbei an, weil es richtig ist, dies bei passenden Gelegenheiten zu tun. Eine Hauptform dieses Einmischens in die Schrift bestand darin, einen Text oder eine Phrase, die an ihrem wirklichen Platz vollkommen richtig ist, aus einem anderen Teil der Schrift zu verpflanzen. „O unverständige Galater! Wer hat euch bezaubert, denen Jesus Christus als gekreuzigt vor Augen gemalt wurde?“ (V. 1). Es ist klar, dass er die Aufmerksamkeit besonders auf das Kreuz Christi lenkt – nicht nur auf sein Blut oder seinen Tod, sondern auf sein Kreuz. Du wirst feststellen, wenn du das Wort Gottes untersuchst, dass die besondere Form, in der der Tod Christi vom Heiligen Geist vorgestellt wird, immer in Verbindung mit dem Gebrauch steht, der praktisch davon gemacht werden muss. Im ganzen Hebräerbrief geht es, mit einer kleinen, aber wichtigen Ausnahme, nicht um das Kreuz, sondern um das Blut Christi; während es im Römerbrief hauptsächlich um seinen Tod geht, oft um das Blut, aber der Tod ist der Hauptpunkt des Arguments.
Warum sagt der Heilige Geist hier nicht nur, dass Er sein Blut vergossen hat (worauf ein Christ, glücklich in der Erkenntnis der Vergebung, eingehen würde), sondern „gekreuzigt vor Augen?“ Es gibt nichts Vergebliches in der Schrift: Nichts wird ohne einen göttlichen Grund hervorgehoben. Die Kreuzigung bringt mehr als alles andere Schande über den Menschen und über das Fleisch. Die Wirkung des Todes Christi ist einfach, dass der Mensch zu nichts gemacht wird, das ist sein Ende, die völlige Wertlosigkeit der menschlichen Natur vor Gott. Wenn der Apostel die absolute Trennung des Christen von der Welt zeigen will, sagt er: „Von mir aber sei es fern, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (6,14).
Nun ist es klar, dass dies eine viel schwerwiegendere und eindringlichere Art ist, den Fall zu formulieren. Es gibt nichts, was die Welt für so töricht hält wie das Kreuz. Philosophen verachteten die Vorstellung, dass eine göttliche Person auf diese Weise sterben sollte: Es war etwas, das so schwach und gegenstandslos erschien. Sie hatten kein rechtes Gefühl für die Schrecklichkeit der Sünde, für die eindeutige Feindschaft des Menschen gegen Gott und für sein feierliches, ewiges Gericht. Das Kreuz ist das Mittel, um alles klarzustellen. Aber mehr als das; das Kreuz zeigt nicht nur, was das Fleisch und die Welt ist, sondern es beweist auch die Hoffnungslosigkeit, vom Gesetz Segen zu erwarten, außer auf negative Weise. Es gibt so etwas wie die Macht des Gesetzes zu töten, aber nicht lebendig zu machen; das tut allein Christus.
Der Apostel legt es auf ihre eigene Erinnerung und Erfahrung an, wie es war, dass sie den Geist empfingen und Wunder gewirkt wurden und sie Segen erhielten. War es durch das Gesetz? Die Galater waren Heiden, die Stöcke und Steine anbeteten, und aus diesem Zustand wurden sie herausgeführt, nicht durch das Gesetz, sondern durch die Erkenntnis Christi. Das drückt es in einer sehr scharfen, wie auch effektiven Form aus. Wenn es Gottes Art gewesen wäre, das Gesetz als Mittel zu benutzen, hätte er dann nicht den Apostel Paulus eingesetzt, um es ihnen aufzuerlegen? Aber nichts dergleichen. Er hatte Gott in seiner heiligen, rettenden Liebe vor sie gebracht. In der Predigt zu den Athenern auf dem Areopag hatte er die Torheit ihres Götzendienstes aufgezeigt; er hatte gezeigt, dass es sogar ihrer eigenen gerühmten Vernunft widersprach, das anzubeten, was sie gemacht hatten. Über ihnen und um sie herum bemerkten sie jeden Tag und überall den Finger von jemandem, der sie geschaffen hatte. Sogar einer ihrer eigenen Dichter hatte gesagt, dass sie seine Nachkommenschaft waren, was Gott nicht zu unserer Nachkommenschaft macht, oder, noch weniger, zum Werk von Menschenhänden, was genau das ist, was der Götzendienst tut. Der Apostel geht immer zum Gewissen der Menschen und zeigt die offensichtliche Art und Weise, in der der Teufel ihren Verstand verwirrt und sie von den offensichtlichen Tatsachen außerhalb von ihnen abgelenkt hatte, die einen Gott über ihnen hätten zeigen und Beweise für seine wohltätige Güte hätten liefern sollen.