Der Apostel führt nun die sehr ernste Betrachtung ein, nicht gerade des Gerichts, sondern des Richterstuhls Christi. Das Gericht ist natürlich eingeschlossen, aber der Richterstuhl umfasst mehr, wie wir sehen werden:
Denn wir müssen alle vor dem Richterstuhl des Christus offenbar werden, damit jeder empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem er gehandelt hat, es sei Gutes oder Böses (5,10).
Die Gnade steht nicht im Widerspruch zur Gerechtigkeit, sondern herrscht im Gegenteil „durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (Röm 5,21). Auch kann keine Wahrheit unbestrittener und allgemeingültiger sein als die Offenbarung jedes Menschen vor dem Herrn, ob gläubig oder ein Sünder. Es gibt die äußerste Genauigkeit in der Sprache, wie immer in der Heiligen Schrift. Nie steht geschrieben, dass wir alle gerichtet werden müssen. Das würde nämlich der klaren Aussage unseres Herrn in Johannes 5 widersprechen, dass der Gläubige ewiges Leben hat und nicht ins Gericht kommt (εἰς κρίσιν οὐκ ἔρχεται). Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben, danach aber das Gericht (Heb 9,27). Wir aber, die Gläubigen, werden nicht alle sterben, sondern alle verwandelt werden, und zwar wird keiner von uns Lebenden, wenn Christus kommt, entschlafen, sondern mit unserem Haus, das vom Himmel ist, überkleidet werden, ohne durch den Tod zu gehen, wobei die Sterblichkeit vom Leben verschlungen wird. Wenn aber keiner der Gläubigen gerichtet werden wird, so müssen alle offenbar werden, der Gläubige nicht weniger als der Sünder, damit jeder das empfange, was er in dem Leib getan hat, nach dem, was er getan hat, es sei Gutes oder Böses.
Man kann also feststellen, dass die Form des Satzes die Universalität der Offenbarung begünstigt. In 2. Korinther 3,18, wo nicht mehr gemeint ist als wir alle Christen, heißt es ἡμεῖς δὲ πάντες, während es hier τοὺς γὰρ πάντας ἡμᾶς ist, was die Gesamtheit stärker betont und damit verabsolutiert. Daher passt die Sprache zu dem Ziel, die Christen in einem Bereich zu sehen, der keine Ausnahme hat.
Auch hier geht es also nicht um die Belohnung des Dienstes wie in 1. Korinther 3,8.14, sondern um die Vergeltung in der gerechten Regierung Gottes, entsprechend dem, was jeder getan hat, ob Gutes oder Böses. Das gilt für alle, ob gerecht oder ungerecht. Es ist zur Ehre Gottes, dass jedes Werk, das der Mensch getan hat, so erscheint, wie es wirklich ist vor dem, der von Gott zum Richter der Lebenden und der Toten bestimmt ist. Nur weil der Gläubige durch die Gnade vom Gericht befreit ist, sowohl als Teilhaber des ewigen Lebens als auch weil er in Jesus einen vollkommen wirksamen Erlöser hat, nimmt sein Stehen vor dem Richterstuhl den Charakter einer Offenbarung an, und keineswegs den einer Prüfung mit der schrecklichen Möglichkeit der Verdammnis. Es gibt nicht die geringste Beeinträchtigung der Errettung, die er jetzt durch den Glauben genießt; und er wird daher zur verherrlicht, bevor er dort steht. Er wird vor Gott Rechenschaft ablegen und offenbart werden; aber es gibt keine Verdammnis, die dann von der Sache abhängt, wie es jetzt keine gibt für die, die in Christus sind. Das mag in den Augen der Menschen nicht vernünftig sein, aber es entspricht dem Gott aller Gnade und der Herrlichkeit und dem Leiden des Sohnes Gottes. Das ist in Übereinstimmung mit dem Zeugnis des Heiligen Geistes, dessen Siegel an jenem Tag nicht gebrochen oder entehrt werden wird. Und wie es zur Ehre Gottes ist, so ist es zum vollkommenen Segen des Gläubigen, dass alles im Licht steht und er selbst erkennt, wie er erkannt worden ist.
Nichts wird dann das Auge blenden, kein unverdächtiger Beweggrund das Herz oder den Verstand vor dem Richterstuhl Christi verzerren. Die barmherzige Fürsorge, die überragende Macht Gottes in all unseren Wegen wird in ihrer erstaunlichen Weisheit und Güte erscheinen, nicht mehr verborgen durch die Nebel dieses Lebens. Wir werden genau wissen, was wir der Gnade schuldig waren, und die Mittel und das Wirken dieser Gnade in unserer wechselvollen Geschichte und Erfahrung, sogar als Gläubige, und die grenzenlose Geduld Gottes bis zum Ende, wie auch seine reiche Barmherzigkeit am Anfang. Welch ein Trost für uns, auch jetzt der Unehrlichkeit des natürlichen Herzens entsagt zu haben, uns selbst schonungslos zu richten in Gegenwart der Liebe, die niemals versagt, im Licht Gottes zu stehen und keine Arglist in unserem Geist zu haben als solche, die Ihn kennen, der uns durch die Erlösung nichts zuschreiben kann und will! Und dies gilt nun für den Glauben, da wir an Ihn glauben, der einmal für uns gelitten hat, damit er uns zu Gott führe: keine Wolke oben, kein Makel innen.
Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. Vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt hat, und wir scheuen uns nicht, sondern heißen das Licht willkommen, das alles offenbar macht. „Gott aber sind wir offenbar geworden“ (V. 11). Es ist die mächtige und bleibende Wirkung des Werkes Christi, das uns dazu befähigt hat, das Erbe der Heiligen im Licht zu genießen. Wir wandeln nicht mehr in der Finsternis wie einst, als wir die wahre Erkenntnis Gottes noch nicht hatten; wir wandeln im Licht, wie Er im Licht ist.
Und doch gibt es Zeiten, in denen das, was im Prinzip immer wahr ist, in der Tat kraftvoll auf den Christen angewandt wird, dem Gott in stiller Zurückgezogenheit, oft in einem Krankenzimmer, gibt, damit er seine Wege überprüft und sich selbst allein vor Gott prüft, wenn Kraft oder Eigenliebe oder Schmeichelei ein heiliges Selbstgericht nicht entkräften; und das umso tiefer, als er fest an der Gewissheit unveränderlicher Gunst Gottes festhält. Was so auf dem Weg in hohem Grad bestätigt wird, wird an jenem Tag vollständig und vollkommen sein, wenn wir, die wir schon im Leib entrückt und verherrlicht sind, vor dem Richterstuhl offenbar werden, ohne eine Spur der Schande, die entweder verbirgt oder mit Schmerz bekennt. Es ist ein großer Gewinn, solche Zeiten auf der Erde zu haben, auch wenn der Prozess nur unvollkommen ist, umso größer, je mehr er sich einem gewohnten Zustand nähert. Wie völlig ist der Segen, wenn alles absolut in Liebe und Licht bei Christus ist!
Aber, wie wir gesehen haben, hat die Offenbarung ein Ende, die hier beschrieben wird, damit jeder die Dinge empfängt, die er im (oder durch den) Leib getan hat, es sei Gutes oder Böses. Auch bei den Gläubigen war nicht alles gut; und alles hat seine Folgen, wenn dadurch auch nicht die Gnade gefährdet ist, in der Christus gerettet hat. Aber so wie Gott nicht ungerecht ist, das Werk des Glaubens und die Arbeit der Liebe zu vergessen, so ziehen Versagen und Unrecht Verlust nach sich; und die Seele selbst wird sich in völliger Einsicht und nicht in murrender Anbetung verneigen und Ihn preisen, der den Platz eines jeden im Reich anordnet, und der (während er niemals seine eigene Souveränität aufgibt) die größere oder geringere Treue und Hingabe eines jeden im Dienst oder auf den Wegen zur Kenntnis nehmen wird.
So wird Gott in allem, was Er ist und tut, gerechtfertigt, dargestellt und genossen werden; und so wird der Gläubige vollkommene Gemeinschaft mit allen haben, in keiner Einzelheit mehr als in der Gesamtheit die Freude und Glückseligkeit dessen vermissen, was Er für all die Seinen und für jeden für immer ist.
Aber die Offenbarung des Bösen, wie sie zu einer wesentlich späteren Zeit sein wird, wird einen ganz anderen Charakter und eine ganz andere Wirkung haben. Der Richterstuhl wird in diesem Fall das Gericht des großen weißen Thrones nach der Herrschaft der tausend Jahre sein, wie es für die Gerechten vorher sein wird, wenn die kleinen und großen Toten (nicht nur offenbart, sondern) gerichtet werden, jeder nach seinen Werken (Off 20,11-15). Sie lehnten den Heiland ab. Sie standen in ihrer eigenen Gerechtigkeit oder waren gleichgültig über das Fehlen derselben, dachten nicht an Gott und meinten, Er sei wie sie. Sie hatten kein Leben, so auch keinen Glauben an Christus; sie stehen auf zu einer Auferstehung nicht des Lebens, sondern des Gerichts, denn Gott wird alle richten, die nicht an den glauben, den sie verachteten. Und wenn die Gerechten mit Not gerettet werden, mit einer Not, die nichts als die souveräne Gnade in Christus überwinden konnte, wo soll dann der Gottlose und Sünder erscheinen? Es ist ein ewiges Gericht, das sich mit dem Bösen befasst, und der Ausgang ist so sicher wie furchtbar und endlos.