Behandelter Abschnitt Röm 9,19-20
Diese Verse stellen einen neuen Einwand dar, und die Antwort des Apostels verdient alle Aufmerksamkeit, nicht nur in sich selbst, sondern als ein inspiriertes Beispiel für die beste Methode, einem Einwand zu begegnen, zuerst mit einer moralischen Ermahnung und dann direkter.
Du wirst nun zu mir sagen: Warum tadelt er denn noch? Denn wer hat seinem Willen widerstanden? Wer bist du denn, o Mensch, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem, der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht? (9,19.20).
Der Einwand scheint in der Absolutheit begründet zu sein, mit der der Apostel kurz zuvor sowohl die Barmherzigkeit Gottes als auch seine Verstockung behauptet hatte. Der ungebrochene Wille des Menschen bedient sich dessen, um alle Fragen von Gut und Böse in die göttliche Absicht aufzulösen. Aber das ist eine rein menschliche Schlussfolgerung, die sowohl die moralische Herrlichkeit Gottes als auch die Verantwortung des Geschöpfes aus den Augen verliert. Sie verstößt daher gegen die ersten Prinzipien und würde alle Wahrheit, Heiligkeit und ein gerechtes Urteil zerstören.
Zweifellos steht der Vorsatz Gottes fest, und es gibt kein Geschöpf, das sich nicht am Ende seinem Willen unterordnen muss: Doch Satan, so wenig er es auch beabsichtigt, gibt nur dann nach, wenn es ihm am meisten zu gelingen scheint, durch seine Lügen und seine zerstörerische Macht denen zu schaden und sie zu verfolgen, die in den Augen des Herrn kostbar sind. Nimm das Kreuz selbst als das deutlichste und unwiderlegbarste Beispiel. Aber sollte das unser moralisches Urteil über die Schlechtigkeit des Geschöpfes entkräften? Leugnet es die Tatsache, dass Satan und Mensch für alles verantwortlich sind, was sie gegen Ihn tun, oder dass beide dafür bestraft werden müssen? Deshalb wirft Petrus den Männern Israels die Schuld vor, den Messias gekreuzigt zu haben: „diesen, hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht“ (Apg 2,23). Wie anders ist doch das heilige und vollkommene Wort Gottes! Alles ist an seinem Platz, nicht nur eine Seite, sondern beide. Gott hat seinen bestimmten Ratschluss und sein Vorherwissen. Die Juden hatten ihren bösen Anteil, die Heiden den ihren. Sie haben gemeinsam, wenn auch in Gedanken und Gefühlen uneins, ihre Charaktere und ihre Schuld offenbart; aber in derselben Tatsache haben sie die Propheten erfüllt und Anlass gegeben, das heiligste Gericht Gottes zu zeigen und das Werk seiner Gnade zu vollenden.
Daher ist der Grund der Argumentation völlig falsch. Die Bewährung des Menschen machte seinen bösen Zustand offenbar, die Frucht seines ersten Abfalls von Gott, der von ihm entehrt wurde, als alles sehr gut war, und dessen jede neue Prüfung nur dazu diente, die Tiefe und das Ausmaß der Sünde und die Unheilbarkeit des Fleisches mit immer größerem Beweis zu zeigen. Die Weisheit Gottes ist so groß, dass Er alles, was der Mensch in seiner herzlosen Torheit anstrebt, zu seinen Zwecken wenden kann und tut; aber das ist völlig unabhängig vom Willen des Menschen, der immer und unverzeihlich böse ist. Gott ist also nicht nur frei, den Menschen zu tadeln, sondern Er wird ihn am letzten Tag durch den Herrn Jesus für alles richten.
Wenn es wahr wäre, wie Calvin sagt, dass die, die untergehen, durch den Willen Gottes zum Verderben bestimmt wären, wäre der Fall in der Tat hart. Aber die Heilige Schrift spricht nie wirklich so, und die Sprache der Texte, die gewöhnlich zur Unterstützung eines solchen Urteils angeführt werden, vermeidet bei genauer und gerechter Untersuchung stets einen solchen Gedanken, wie nahe er auch zu kommen scheint.
In Wahrheit ist es nur der Ausdruck des Herzens, das bestrebt ist, eine Entschuldigung für sein eigenes vorsätzliches Böses und einen Widerspruch gegen das Gericht aus dem unwiderstehlichen Willen Gottes zu gewinnen. Doch im Herzen weiß man es immer besser. Es wird in der Schrift nie gesagt, dass die Sünde die Absicht Gottes war; aber der in Sünde gefallene Mensch ist die Plattform, auf der Er seine Wege, Ratschläge und sogar sich selbst zeigt. Gott hat keinen Menschen dazu bestimmt, böse zu sein; aber aus allen (die bereits böse sind) wählt Er nach seinem souveränen Willen einige aus und erweist ihnen, nicht allen, Gnade, obwohl alle nicht schuldiger sind als die einen gewesen sein mögen. Es wäre völlig gerecht, alle zu vernichten. Aber wenn es Ihm gefällt, zu verschonen, wen Er will, wer soll Ihm dann Nein sagen? Es würde bedeuten, einen Anspruch auf Überlegenheit über Gott zu erheben, und das ist in Wirklichkeit ein Versuch, Ihn zu richten. Wenn ein Sünder sich daher bekehrt, empfindet und anerkennt er das gerechte Urteil Gottes, obwohl eine solche Anerkennung die Vollstreckung des göttlichen Urteils gegen sich selbst bestätigt, und dennoch gibt er niemals verzweifelt auf, sondern schaut und ruft laut, anfangs vielleicht schwach, aber mit zunehmendem Ernst, nach Barmherzigkeit.
Derartige Anfechtungen setzen immer voraus, dass das Gewissen noch nicht erforscht und der Wille nicht vor Gott gebeugt und gebrochen ist. Weder die Andeutung von Ungerechtigkeit gegenüber Gott noch die Einrede der Notwendigkeit der Sünde des Menschen als Teil des göttlichen Vorsatzes konnten eine bußfertige Seele befriedigen oder von ihr ausgehen. So antwortet der Apostel zunächst mit einer Zurechtweisung: „Wer bist du denn, o Mensch, der du das Wort nimmst gegen Gott? Wird etwa das Geformte zu dem, der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht?“ (V. 20).