Behandelter Abschnitt Röm 5,20-21
Nun wird uns gesagt, was der wahre Zweck des Gesetzes war. Der Jude und alle Judaisten nehmen sofort an, dass es zu nichts anderem als zur Gerechtigkeit dienen konnte. Wie groß ist die Blindheit des Menschen in seinem besten Zustand, wo menschliche Gedanken vorherrschen und nicht das Verständnis des offenbarten Geistes Gottes. Aber er ist gefallen; und der gefallene Mensch denkt so hoch von sich selbst wie im Allgemeinen von Christus. Nichts anderes als dies kann den verdorbenen Einfallsreichtum erklären, mit dem trotz des gesegneten Lichts des Evangeliums die Wahrheit in dieser Hinsicht umgangen und bekämpft wird. Was kann klarer sein als die inspirierte Aussage?
Das Gesetz aber kam daneben ein, damit die Übertretung überströmend würde (5,20a)
Man kann sehen, wie es ist, dass die Menschen einen Satz nicht mögen, der ihre moralische Grundlage vernichtet; aber es ist ein erstaunlicher Beweis für die schädlichen Auswirkungen der Theologie, dass christliche Menschen ihre falschen Denksysteme gegen derartige Worte der Inspiration aufrechterhalten können.
Jedes Wort wird mit der größten Genauigkeit ausgesprochen. So spricht der Apostel von dem gesetzlichen Zustand der Dinge und verwendet daher das Wort Gesetz (νόμος) hier wie in Vers 13 ohne den Artikel. Es ist eindeutig das mosaische Gesetz, um das es geht; doch wenn es so ist, lässt Middleton zu, dass die Ablehnung des Artikels hier von keinem der Kanones (d. h. seiner eigenen Abhandlung) autorisiert wird. Und dies ist wahr. Der Fall demonstriert die Fehlerhaftigkeit seiner Theorie. Sogar in Vers 13 hat die Präposition nichts mit der wahren Lösung zu tun; und seine Auffassung, der immer noch sehr viele Gelehrte folgen, dass der Gebrauch oder Nichtgebrauch des Artikels eine Lizenz nach Präpositionen sei, ist ein völliger Irrtum. Es mag eine genauere Beobachtung erfordern, um die Fälle mit bestimmten Präpositionen zu erklären, aber mehr nicht.
Der reguläre Gebrauch, mit oder ohne Präpositionen, besteht darin, einen Satz in der Form von Anführungszeichen zu präsentieren, wo immer ein charakteristischer Zustand gemeint ist und nicht eine Tatsache oder eine Abstraktion. Hier war es also der Zustand der Dinge, als Gott sein Gesetz durch Mose an Israel gab, der zur Sprache kommt; und daher war Gesetz (νόμος, nicht ὁ ν.) die richtige Form. Auch die Argumentation von Macknight ist nicht stichhaltig; denn es ist nicht der Punkt, ob das mosaische Gesetz mit Pomp und Bekanntheit oder heimlich in die Welt gebracht wurde. Nicht die historische Tatsache, sondern der daraus resultierende Zustand ist hier gemeint. Außerdem ist es nicht nötig, kam daneben ein (παρεισῆλθεν) so zu verstehen, dass es notwendigerweise ein heimliches oder listiges Eintreten bedeutet. Der wahre Gedanke scheint zu sein, dass der Zustand des Gesetzes im Vorbeigehen hereinkam. Weder war es die ursprüngliche Form, in der der Mensch geschaffen wurde, noch ist es der endgültige Zustand, zu dem er bestimmt ist. Er kam nicht direkt, sondern als Nebeneffekt, zu einem besonderen, wenn auch untergeordneten Zweck, zwischen dem Eintritt der Sünde und dem Kommen des Erlösers. Daher ist das Gesetz als Abstraktum unangebracht, selbst wenn die Formulierung es zulassen würde. Aber das wird sorgfältig ausgeschlossen, ebenso wie die Hervorhebung der objektiven historischen Tatsache, die ebenfalls fehl am Platz wäre.
Aber das Gesetz, der Zustand des Gesetzes, kam nebenbei dazu, damit die Übertretung reichlich vorhanden sei. Der Sinn ist nicht, dass die Sünde überhandnimmt: Gott ist in keiner Weise und in keinem Grad ihr Urheber. Die Sünde war, wie schon gezeigt wurde, in der Welt, ganz unabhängig vom Gesetz und bevor es durch Mose gegeben wurde. Aber das Gesetz kam, damit das Vergehen überhandnehme; damit, da die Sünde schon da war, ihr Übel offenkundig und schrecklich werde, indem es die Form der offenen Verachtung der bekannten Autorität Gottes annehme.
Das war Gottes würdig und heilsam für den Menschen. Und das waren der Zweck und das Ziel des Zustandes des Gesetzes. Die Sünde, ich wiederhole es, wurde nicht dadurch bewirkt; aber sie wurde durch die Zurückhaltung, die ihrer Befriedigung auferlegt wurde, provoziert: die bloße Anwesenheit von Gottes offenbartem Anspruch auf das Gewissen des Menschen ließ das Vergehen überhand nehmen. Das Böse im Menschen war da und wirkte; und der Ausdruck und die autoritative Forderung seiner Pflicht brachten nur unmissverständlich zum Ausdruck, was wirkte. Der Eigenwille reibt sich nur umso mehr auf, je mehr er einer Autorität unterworfen ist, die sich seinen Wünschen widersetzt. Aber das ist die Wahrheit über den sittlichen Zustand des Menschen; und es ist gut, soweit es geht, dass er die Wahrheit über sich selbst kennt.
Es gibt also keinen Grund, sich der klaren und sicheren Bedeutung dieser inspirierten Worte zu entziehen. Chrysostomus hat sich hierin geirrt und hat Tausende irregeführt. Er leugnete, dass der Apostel von der Absicht oder dem Ziel sprach, sondern nur vom Ergebnis, und verfiel in den Irrtum zu sagen, das Gesetz sei nicht gegeben worden, damit das Vergehen überhandnehme, sondern um es zu vermindern und wegzunehmen. Damit widersprach er dem Apostel, statt ihn zu erläutern.
So fragt wiederum Macknight, ob man sich vorstellen kann, dass es kein Vergehen in der Welt gab, das mit dem Tod bestraft werden konnte, bis das Gesetz Moses verkündet wurde und dass die Gnade nicht überreichlich war, bis das Vergehen gegen das Gesetz überreichlich war? Er argumentiert daher für das Gesetz der Natur, das in dem Moment stillschweigend eintrat, als Adam und Eva begnadigt wurden. Was kann erschütternder sein als diese Verwirrung?
Wer dem Wort Gottes glaubt und Gottes Handeln auch nur ein wenig versteht, dem muss klar sein, dass zwischen dem Sündenfall und der Verkündigung des Gesetzes am Sinai genau die Zeit lag, in der die Menschen beweisen mussten, was das Fleisch ohne den Zwang des Gesetzes ist; dass danach Israel zum Beweis dafür wurde, dass ein Zustand des Gesetzes an sich die Dinge nicht bessert, sondern die Übertretung im Übermaß verursacht. So belehrt uns der Apostel in diesem Kapitel, dessen Wahrheit ansonsten aus den Tatsachen des Alten Testaments und dem Zustand Israels ersichtlich ist.
Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden, damit, wie die Sünde geherrscht hat im Tod, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn (5,20b.21).
Auch hier ist es unmöglich, eine treffendere und genauere Sprache zu finden. Der Apostel sagt, wie zu bemerken ist, nicht, wo „die Übertretung“ im Überfluss vorhanden war; denn das würde den Bereich auf das Gebiet des Zustands des Gesetzes beschränken. Alles, worin ein Jude sich rühmte, war die Verursachung des Überflusses des Vergehens. Welch ein Verdorren des Stolzes ohne eine Übertreibung oder Anstrengung! Aber die Gnade ging in ihrem Triumph weit über die engen Grenzen des Gesetzes hinaus; sie ging in die Welt hinaus, wo der sündige Mensch war, nicht nur nach Israel. „Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden“ (V. 20). Und auch die Gnade hatte ihre charakteristische Bestimmung, oder vielmehr Gott durch sie. Was war das? „Damit, wie die Sünde geherrscht hat im Tod, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesus Christus, unseren Herrn“ (V. 21). Hier, wenn überhaupt, ist ein Ziel und Ergebnis, das sogar Gott und seinem Sohn Ehre macht. Angesichts eines solchen Evangeliums schämen wir uns nicht, sondern rühmen uns. Sich des Gesetzes zu rühmen heißt, sich dessen zu rühmen, was verdammt und tötet, denn es lässt das Vergehen überhandnehmen. In der Gnade dürfen und sollen wir uns rühmen. Gott hat seine Freude daran. Sie kam, wie auch die Wahrheit, durch Christus Jesus, der voll von beidem ist. Und besonders dürfen wir uns rühmen, dass die Gnade herrschte. Hätte das Gesetz geherrscht, was wäre unser gerechtes Verhängnis gewesen! Aber die Gnade herrscht (nicht ohne, sondern) durch die Gerechtigkeit. Denn das Werk der Erlösung ist vollbracht, und Gott rechtfertigt daher, wie Er es für richtig hält. So ist Er nicht gewisser eine Quelle der Gnade als ein gerechter Grund und Kanal. Und daher ist der Ausgang gottgemäß, es ist das ewige Leben, und zwar durch Jesus Christus, unseren Herrn. Er ist auferstanden von den Toten und gibt Leben in Fülle. So ist alles ebenso sicher wie vollkommen. Gott wird verherrlicht, wie Er verherrlicht werden sollte; und das, wie es sein sollte, durch den Einzigen, eben Jesus, der alles wiederhergestellt und durch seinen Tod und seine Auferstehung sogar die Sünde selbst in eine Gelegenheit zu einer solchen Verherrlichung Gottes und zu einem solchen Segen für den Gläubigen verwandelt hat, wie es niemals anders hätte sein können. Das sind die Wege, und das ist der Sieg, Gnade durch unseren Herrn Jesus.