Behandelter Abschnitt Joh 20,17-18
Jesus spricht zu ihr: Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott. Maria Magdalene kommt und verkündet den Jüngern, dass sie den Herrn gesehen und er dies zu ihr gesagt habe (20,17.18).
Es ist umso auffälliger, wenn wir Matthäus 28,9 mit dem Verbot des Herrn an Maria in unserem Evangelium vergleichen. Beide Begebenheiten geschahen fast zur gleichen Zeit. Doch der Herr erlaubte den anderen Frauen, zu Ihm zu kommen, seine Füße zu umfassen und Ihm zu huldigen, während Er Maria von Magdala nur kurze Zeit zuvor verboten hatte, Ihn zu berühren. Wir wissen, dass Er bei beiden Gelegenheiten göttlich vollkommen war, wie überhaupt immer, dass Er, obwohl Mensch und Sohn des Menschen, nicht zu bereuen braucht, denn Er ist die Wahrheit. Aber wir dürfen, und ich denke, wir sollten uns fragen, warum so unterschiedliche und so schnell aufeinanderfolgende Wege jeder an seinem Platz absolut richtig sein konnte. Der Unterschied im Charakter der beiden Evangelien trägt viel zur Klärung der Sache bei.
In Matthäus nimmt der auferstandene Herr seine Beziehungen zu dem jüdischen Überrest wieder auf und gibt diesen Frauen als ein Beispiel für diesen Überrest die Möglichkeit, seine Gegenwart auf der Erde zu genießen. Auch aus diesem Grund gibt es am Ende von Matthäus nicht nur keine Himmelfahrtsszene, sondern auch keine Anspielung auf diese Tatsache; in der Tat würde sie die Vollkommenheit des Bildes beeinträchtigen, das uns den Herrn bei den Seinen bis zur Vollendung des Zeitalters zeigt. Bei Johannes dagegen wird das jüdische Empfinden sofort korrigiert; neue Beziehungen werden angekündigt, und die Himmelfahrt zum Vater tritt an die Stelle aller Erwartungen für die Nationen auf der Erde mit den Juden als Zentrum und Zeugen des Herrn. „Rühre mich nicht an“, sagt Jesus zu Maria, „denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“ (V. 17). Von nun an soll der Herr von einem Christen charakteristisch als im Himmel erkannt werden. Der Jude hatte Ihn auf der Erde erwartet, und das zu Recht; so wie der Jude Ihn nach und nach als Herrscher über die Erde kennen wird, wenn Er in Macht und großer Herrlichkeit wiederkommt. Zwischen der zerbrochenen und der wiederhergestellten Hoffnung Israels finden wir unseren Platz als Christen. Wir sind auf seinen Tod getauft, und wir verkünden seinen Tod, bis Er kommt, und gedenken seiner beim Brechen des Brotes; aber wir kennen Ihn droben, nicht mehr gestorben, sondern auferstanden und verherrlicht.
Ja, obgleich wir Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr so. In der Tat können wir, ohne uns zu rühmen, in nüchterner Wahrheit, aber in allumfassender Gnade, sagen, und als Gläubige sind wir verpflichtet das zu sagen, dass wir in Ihm sind. „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch“ (14,20). Jener Tag des Neuen Testaments ist dieser Tag, der bereits gekommen ist, der Tag der Gnade für die Welt im Evangelium; der Tag der Gnade für die Gläubigen in ihrer Vereinigung mit Christus. „Daher, wenn jemand in Christus ist, da ist eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Alles aber von dem Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus“ (2Kor 5,17.18). Das ist das Christentum; und das war in dem Umgang und den Worten unseres Herrn mit Maria Magdalene eingeschlossen. „Rühre mich nicht an“ war ein Ausspruch von großer Bedeutung, und noch mehr, wenn man ihn durch die begleitenden Worte interpretiert. Es ist nicht, wie in Kolosser 2,21, μὴ ἅψῃ (eine einzelne vorübergehende Handlung), sondern μή μου ἅπτου, „Rühre mich nicht an“; es ist ein allgemeines und andauerndes Verbot, und dies, um den Überrest darzustellen, der aus seinen Verbindungen als Juden herausgenommen und in eine neue Beziehung nicht nur zu Christus im Himmel, sondern durch Ihn zu seinem Vater und Gott gesetzt wurde; im Gegensatz zu denen, die den Überrest darstellen, dem es erlaubt ist, Ihn als ein Zeichen seiner Wiederkunft in leiblicher Gegenwart für das Königreich zu berühren.
Aber da ist noch mehr. „Geh aber hin zu meinen Brüdern.“ Er schämt sich nicht, die Jünger seine Brüder zu nennen. Er hatte den Weg dafür bereitet; Er hatte über Israels rebellische Ablehnung ihres Messias gesagt: „denn wer irgend den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“ (Mt 12,50). Jetzt, bei der Vollendung seines Sühnungswerkes, erkennt Er endgültig diese gesegnete Frucht davon an, nicht nur Sünden, die dem Glauben kraft seines vergossenen Blutes vergeben werden, sondern Gläubige, die auf die innigste Weise mit Ihm selbst, dem auferstandenen Menschen und Sohn Gottes, verbunden sind. Sie sind seine Brüder, denen Er nach Psalm 22,23 nicht nur den Namen des Herrn, sondern auch den des Vaters kundtut. Denn nun waren sie nicht nur lebendig gemacht, sondern mit Christus lebendig gemacht. Sie standen in Ihm, der von den Toten auferstanden war, als solche, denen alle Schuld vergeben war. Und sie lernen, dass sie so in Beziehung zu Christus in seinem neuen Platz als im Zustand des Menschen nach dem göttlichen Ratschluss für die Ewigkeit stehen, wobei alle Frage der Sünde triumphierend am Kreuz beantwortet wurde, nicht für Ihn, der das nicht brauchte, sondern für den Gläubigen, der alle mögliche Not in Schuld und einer bösen Natur und einem anklagenden Feind und einem heiligen, gerechten Richter hatte, er tritt in seine eigene gesegnete und ewige Beziehung zu seinem Vater und Gott ein. „und sprich zu ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott“ (V. 17).
Es war ein Moment von unvergleichlicher Tiefe: Der Sohn, der auferstanden ist, nachdem Er das Gericht über unsere Sünden an seinem eigenen Leib auf dem Holz getragen und Gott verherrlicht hat, nicht nur in Bezug auf den Gehorsam im Leben, sondern bis hin zum Tod für die Sünde, sendet am Auferstehungsmorgen durch jemanden, von dem er zuvor sieben Dämonen ausgetrieben hatte, eine Botschaft von der neuen und unvergleichlichen Glückseligkeit, die er durch seinen Tod und seine Auferstehung für sie erworben hatte, an seine (durch Unglauben verzweifelten) Jünger. Zweifellos ist Er der auferstandene Messias aus dem Samen Davids, und die gewissen Gnaden Davids sind durch seine Auferstehung gesichert, wie sich in dem Königreich, das Israel zu gegebener Zeit wiederhergestellt wird, erweisen wird. Aber das muss in Gottes Weisheit aufgeschoben werden und dem weitaus tieferen Zweck weichen, der jetzt zum Vorschein kommt, nämlich der Berufung der Kinder Gottes, Erben Gottes und Miterben Christi, in die Erkenntnis und den Genuss und das Zeugnis seiner selbst und seines Sohnes durch den Heiligen Geist, was gewöhnlich als Christentum bezeichnet wird. Es konnte nicht vorher sein, auch nicht nur, weil Er nach dem Fleisch und durch die Verheißung mit Israel in Beziehung stand, bis sie ihren unendlich gepriesenen König durch Unglauben, aber schuldhaft und unentschuldbar, gründlich verachtet und verworfen hatten; sondern weil Gott allein aufgrund der Erlösung durch seinen Tod frei sein konnte, die von ihren Sünden befreiten und mit Ihm lebendig gemachten Kinder zu bilden und zu versammeln, ob Jude oder Nichtjude. Nun, da Er gestorben war, konnte Er viel Frucht bringen; und hier verkündet Er die Tatsache so würdig für sich selbst wie für den Gott, der Ihn in Liebe jenseits allen menschlichen Denkens gesandt hat. „Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott.“
Wie armselig und blass sind die Träume der Menschen sogar in ihren höchsten Bestrebungen, verglichen mit der einfachen Wahrheit, die der Herr sprach und zu den Seinen sandte! Doch nichts Geringeres konnte seine Liebe befriedigen, die ihre Macht demonstrieren musste, indem sie zuerst mit unseren Sünden hinabstieg. Er litt für sie vor Gott, und stieg als Nächstes in die Herrlichkeit hinauf. Er gab uns so weit wie möglich seine eigene Stellung als Söhne und Heilige, denn alles Bösen und alle Schuld für war für immer vor Gott weggetan. Sie waren geläuterte Anbeter, die kein Gewissen mehr von Sünden hatten.
Dies war nicht nur eine Hoffnung, die erfüllt werden sollte, wenn Er wiederkommt, um uns zu sich zu nehmen, sondern die Wahrheit einer wirklich existierenden Beziehung, die jetzt am Tag der Auferstehung verkündet und seinen Jüngern gesandt wurde, damit sie sie in vollem Umfang erkennen und genießen konnten, wie es in seiner eigenen Himmelfahrt in die Gegenwart des Vaters im Himmel versprochen wurde. Sie gilt für alle Gläubigen, bis Er wiederkommt: Wenn doch alle sie als ihren einzig wahren Platz in Ihm kennen würden! Dennoch hat die Gnade der Wahrheit in unseren Tagen neue Kraft gegeben, wenn auch durch Boten, die nicht mehr Grund haben, sich zu rühmen, als Maria Magdalene, die damals mit der Nachricht zu den Jüngern kam, dass sie den Herrn gesehen habe (V. 18); Üblicherweise wird gelesen, dass sie den Herrn gesehen hatte und Er diese Dinge zu ihr gesprochen hatte. Aber wir dürfen und sollen uns unseres auferstandenen Herrn rühmen, und eines solchen Platzes für den Gläubigen in Ihm. „Über einen solchen werde ich mich rühmen“, sagte einer, der größer war als wir alle; „über mich selbst aber werde ich mich nicht rühmen, es sei denn der Schwachheiten“ (2Kor 12,5). Über einen Menschen in Christus ist es gut, sich zu rühmen, nur können wir nicht erwarten, dass die das tun, die nicht einmal begreifen, was das bedeutet, und die durch eine Ausdrucksweise jüdischer und heidnischer Vorstellungen, der gemeinhin systematische Göttlichkeit genannt wird, so verdorben sind, dass sie in der Tat langsam lernen. Wenn wir die Wahrheit kennen, mögen wir die Gnade haben, nicht nur in ihr zu wandeln, sondern auch auf die zu warten, die sie nicht kennen, damit vielleicht die Gnade und die Wahrheit endlich ihren Weg gewinnen und die Gläubigen ihre wahre Glückseligkeit in Christus erfahren.
Die Botschaft des Herrn war nicht vergeblich. Die Jünger versammelten sich an jenem Auferstehungstag unter Ausschluss der Welt, und Jesus stand in ihrer Mitte. Es ist das schöne, vorwegnehmende Bild der Versammlung, wie man genauer sehen kann, wenn man auf die Einzelheiten eingeht.