Behandelter Abschnitt Lk 11,1-4
Aber so gesegnet es auch sein mag, Jesus im Glauben aufzunehmen und in der Freude der Liebe zu seinen Füßen zu sitzen, um mehr und mehr von Ihm zu hören, darf das Gebet nicht vergessen werden. Es hat einen unschätzbaren Wert für uns hier auf der Erde. Wir beten in dieser Welt. Im Himmel ist es die Anbetung, die aus dem Herzen hervorströmt. Nicht, dass die Anbetung für uns jetzt nicht bedeutend wäre, denn sie ist das größte Vorrecht, in das der Christ gebracht wird, während er auf der Erde ist. Ein Christ nimmt damit den Geist und die Beschäftigung des Himmels vorweg. Er wird immer noch ein Anbeter sein, wenn er verherrlicht ist; aber er ist bereits hier ein Anbeter, denn jetzt ist die Stunde, „da die wahrhaftigen Anbeter den Vater in Geist und in der Wahrheit anbeten werden; denn der Vater sucht solche als seiner Anbeter“ (Joh 4,23).
Doch bevor jemand irgendetwas anbeten kann, von dem man sagen könnte, dass es die Kraft des Geistes ist, ist das Gebet die frühe und gewohnheitsmäßige Quelle Tag für Tag; und nachdem die christliche Anbetung begonnen hat, bleibt das wahre Gebet und muss immer für unsere Bedürfnisse und Wünsche hier auf der Erde sein.
Die Jünger empfanden ihr Bedürfnis nach Gebet. Sie wurden durch die Tatsache dazu angeregt, dass Johannes seine Jünger das Beten lehrte – sie waren aus Gott geboren; aber trotz alledem fehlte ihnen die Kraft zum Gebet, sie waren darin schwach. „Und es geschah, als er an einem gewissen Ort war und betete“ (V. 1a). Keiner betete so abhängig von seinem Gott und Vater wie Jesus; kein Evangelist schildert dies so sehr wie Lukas, und folglich auch nicht unter so vielen verschiedenen Umständen.
Da sprach, als er aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er sprach aber zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name; dein Reich komme; unser nötiges Brot gib uns täglich; und vergib uns unsere Sünden, denn auch wir selbst vergeben jedem, der uns schuldig ist; und führe uns nicht in Versuchung (11,1b–4).
Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich im Wesentlichen um dasselbe Gebet handelt, das wir bei Matthäus haben, und zwar zur selben Zeit und am selben Ort. Lukas hält sich nicht an die bloße historische Reihenfolge der Ereignisse, ebenso wenig wie Matthäus. Aber es gibt diesen Unterschied in der Art und Weise, wie Lukas und Matthäus Tatsachen oder Anweisungen des Herrn wiedergeben: Matthäus bringt das, was unser Herr sagt, in eine bestimmte Reihenfolge und lässt die Anlässe weg, die sie hervorgerufen haben. Lukas bringt seine Anweisungen in ihrer moralischen Reihenfolge mit den Tatsachen, die sie illustrieren. So erwähnt Lukas das Gebet an dieser Stelle, nachdem er das Wort Jesu gehört hat; denn das göttliche Wort ist es, das die Erkenntnis Jesu für den Gläubigen bringt, so wie das Gebet die Hinwendung des Herzens zu dem ist, der uns Barmherzigkeit geschenkt und gezeigt und sie uns in seinem Wort offenbart hat. Ein Mensch muss glauben, bevor er betet. „Wie werden sie nun den anrufen, an den sie nicht geglaubt haben?“ (Röm 10,14). Niemand kann ohne das Wort Gottes glauben; aber wenn jemand das Wort Gottes empfangen hat, und sei es nur, um das Gewissen zu durchpflügen und das Herz anzuziehen, betet man.
So empfinden die Jünger zu dieser Zeit ihr Bedürfnis nach Gebet, und der Herr lehrt sie, wie sie beten sollen. Der Herr gab ihnen keine Gebete, die zu der neuen Lage und den Umständen passen, in die sie nach der Erlösung gebracht werden würden. Hätte Er Gebete über die Versammlung, den Leib Christi, oder das Wirken des Geistes durch die Glieder dieses Leibes vorgestellt, wäre es für sie völlig unverständlich gewesen. Die Gebete, die wir von Paulus im Nachhinein haben, passten nicht zu dem damaligen Zustand der Jünger, weil sie noch nicht in einem solchen Zustand waren. Das Verhalten, das zu einer verheirateten Frau mit ihrem Mann und so weiter passen würde, wäre bei einer Frau, die noch unverheiratet war, unschicklich. Für eine Frau, die nur verlobt ist, für die Kinder zu beten, die sie haben wird, wenn sie vielleicht nie welche haben wird, oder über den Haushalt, wenn der Hochzeitstag vielleicht nie kommt, wäre ganz offensichtlich unpassend. Der Herr Jesus passte das, was Er sagte, völlig dem Zustand und den Umständen derer an, die Er ansprach. Die Jünger hatten, obwohl sie vom Heiligen Geist belebt waren, den innewohnenden Geist nicht in der Weise empfangen, wie sie Ihn haben einmal würden; folglich konnten sie nicht wie auf diesem Grund beten.
Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass die Gabe des Heiligen Geistes eine Bekehrung ist. Als der Herr Jesus in den Himmel ging, sandte Er den Heiligen Geist herab. Die Gläubigen des Alten Testaments waren bekehrt, aber sie hatten nicht den Heiligen Geist wie alle, die seit Pfingsten auf dem Werk der Erlösung ruhen.
Die Jünger wollten wissen, wie sie beten sollten, und der Herr gab ihnen ein Gebet, das zu ihren damaligen Umständen passte. Nur der Geist Gottes hat einen Unterschied zwischen der Form bei Matthäus und bei Lukas gegeben. Eines ist so göttlich inspiriert wie das andere; nichts kann vollkommener sein, als beide es sind. Die Evangelien sind absolut vollkommen, jedes für seinen eigenen Zweck, und wir brauchen sie alle. Der Unterschied in ihrer Gestaltung wirkt sich auf das Gebet aus, wie auch auf alles andere.
Unser Herr unterrichtet die Jünger dann, wie sie sich an ihren Vater wenden können. Dies ist das erste und sehr bedeutsame Wort des Gebetes. Wenn Gläubige Gott jetzt mit den Titeln Jahwe oder Allmächtiger Gott ansprechen, vergessen sie dabei nicht, dass sie Christen sind? Als Gott mit Einsicht als Allmächtiger angesprochen wurde, war das in den Tagen Abrahams und der Patriarchen. Es waren die Tage der Verheißung. Später, als das Volk Israel herausgerufen und unter das Gesetz gestellt wurde, war Er als Jahwe-Gott bekannt. Jetzt ist es der Vater, als den ihn der Christ kennt (2Kor 6,18). Lukas sagt einfach Vater (nicht „unser Vater, der du bist im Himmel“, wie es bei Matthäus heißt).
Die erste Bitte lautet: „Vater, geheiligt werde dein Name.“ Der Wunsch ist, dass das Herz in jedem Fall Gott zum Gegenstand macht; wie wir bei Jakobus hören, „die Weisheit, die von oben herabkommt, ist zuerst rein, dann friedfertig“ (Jak 3,17). Sie richtet das Herz zuerst auf Gott aus und sucht seine Ehre. „Vater, geheiligt werde dein Name“. Das ist und sollte das Hauptanliegen des erneuerten Geistes sein, dass der Name des Vaters in allem geheiligt wird. Alles andere muss sich dem unterordnen. „Vater, geheiligt werde dein Name.“
Die nächste Bitte ist, dass sein Reich kommen möge. Es ist nicht das Reich des Sohnes des Menschen, das Reich Christi, von dem hier die Rede ist, sondern das Reich des Vaters. Es heißt nicht „mein Reich komme“, sondern dein Reich komme. Das Reich des Vaters wird vom Reich des Sohnes des Menschen unterschieden. Es ist die Sphäre, in der die himmlischen Heiligen wie die Sonne scheinen werden. Das Reich des Sohnes des Menschen ist die Sphäre, in der Ihm alle Völker, Nationen und Sprachen dienen werden und aus der die Engel seiner Macht alles entfernen werden, was sich gegen Gott erhebt (Mt 13,41). Himmel und Erde werden beide unter den Herrn Jesus gestellt werden, wenn Er kommt. Beide werden das Reich Gottes bilden. Aber das Reich des Vaters ist die obere Abteilung, und das Reich des Sohnes des Menschen ist die untere (vgl. Joh 3,3.12). Der Herr lehrt sie, für das Reich des Vaters zu beten. Das ist gesegnet und vollkommen. Der Sohn würde die Kinder des Vaters lehren, mit Ehrfurcht und Freude auf die Herrlichkeit des Vaters zu warten. Das war die belebende Quelle jedes Gedankens und Empfindens seines eigenen Herzens. Aber das Reich des Vaters ist nicht die gesamte Szene der Herrlichkeit.
Deshalb fügt Er an anderer Stelle hinzu: „dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf der Erde“ (Mt 6,10). Obwohl der Satzteil bei Lukas mit hervorragender Autorität weggelassen wurde, ist es zweifellos im Matthäusevangelium zu lesen, weil das zukünftige Königreich sowohl die Erde als auch den Himmel einbeziehen wird. Dies bestätigt die Unterscheidung zwischen dem Reich des Vaters und dem des Sohnes. Nicht nur der Himmel soll gesegnet werden, sondern auch die Erde. Alles soll in der Tat unterworfen werden, so wie alles unter seine Füße gelegt wird, und zwar als sein Anspruch. Es ist der Wille Gottes, dass sich alles vor dem Sohn beugt und der Gekreuzigte erhöht wird. Der Sohn liebte es, den Vater zu verherrlichen, und Er hat es getan, koste es, was es wolle. Und der Vater wird sein Ziel erreichen, „damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,10.11).
Dann kommt eine Bitte, die die Abhängigkeit von Gott für unsere gewöhnliche Not ausdrückt: „unser nötiges Brot gib uns täglich“. Dabei geht um das reine und einfache Bedürfnis des Leibes. Das Wort „täglich“ ist im Englischen ein sehr unvollkommener Ausdruck des ursprünglichen Begriffs. Ἐπιούσιος bedeutet eigentlich unser „ausreichendes“ Brot, offensichtlich ein ausdrücklich für diesen Gedanken gebildetes Wort im Gegensatz zum Überfluss. Man kann nicht, ohne die Weisheit des Herrn infragezustellen, um mehr als die Genügsamkeit bitten. Man sollte nicht nach mehr suchen, auch nicht vom Herrn des Himmels und der Erde. Er befiehlt mir, um Brot zu bitten, das für jeden Tag ausreicht. Und doch ist es ganz im Sinn dessen, der, nachdem Er fünftausend Menschen mit den fünf Broten und den zwei Fischen gespeist hatte, den Jüngern befahl, die übriggebliebenen Brocken aufzusammeln, damit nichts verlorenging. Und dann und so wurden tatsächlich zwölf Körbe gefüllt. Wie leicht hätte es Ihm, von dem alles gegeben wurde, erscheinen können, seine Macht erneut auszuüben! Er wollte nicht, dass auch nur ein Krümel weggeworfen wird, denn Er hatte unbegrenzte Macht. Was für eine Lektion für uns!
Als nächstes kommt das Bedürfnis der Seele: „und vergib uns unsere Sünden“. Es heißt nicht einfach „unsere Schulden“ (wie in Mt 6): ein Jude würde das verstehen; aber Lukas, der besonders für Heiden schreibt, lässt die Jünger sagen: „vergib uns unsere Sünden“. Das bezieht sich nicht auf die Vergebung eines Sünders, wenn er zum ersten Mal zur Erkenntnis des Herrn kommt, sondern auf den Jünger unter der täglichen Regierung seines Vaters. Wie irreführend ist es also, dass ein unbekehrter Mensch wie ein Kind Gottes um Vergebung bittet! Nach dem Evangelium ist der Weg für den Unbekehrten, die Vergebung der Sünden zu empfangen, der Glaube an das Blut Jesu, indem er das Evangelium selbst annimmt. Der übliche Gebrauch davon ist, die ganze Wahrheit zu verwirren, indem man alle, die Welt und die Kinder Gottes, vermischt, als ob sie gleich Jünger wären, die herankommen und um Vergebung für ihre täglichen Sünden bitten.
Hier ist nur von der Vergebung eines Kindes die Rede, von der Beseitigung dessen, was die Gemeinschaft hindert; nicht von dem, was das Evangelium den Schuldigsten, die an den Heiland und Herrn glauben, mitteilt, sondern von der täglichen Vergebung, die der Gläubige braucht. Sie ist also das gewohnheitsmäßige Bedürfnis der Seele, so wie es das tägliche Brot für den Leibes war. „Denn auch wir selbst vergeben jedem, der uns schuldig ist“. Das ist bemerkenswert, weil es offensichtlich voraussetzt, dass jemand bereits eine vergebende Gesinnung hat, und die hat niemand wirklich, außer dem, dem durch die Gnade Gottes vergeben ist. Und daran hält Gott seine Kinder fest. Wie kann ein Mensch, der einem anderen nicht vergibt, so tun, als ob er die Vergebung seiner eigenen Sünden vor Gott genießt? Es gibt eine gerechte Regierung seitens unseres Vaters, und die besondere Sünde, die den Herrn betrübt, wird nicht vergeben, bis wir sie Ihm bekennen. „Wenn ihr aber nicht vergebt“, sagt unser Herr in Markus 11,26, „so wird euer Vater, der in den Himmeln ist, auch eure Vergehungen nicht vergeben.“ Es ist das das Pflegen einer Gesinnung, die dem Geist des Herrn völlig entgegengesetzt ist.
Wenn es in einer Familie ein Kind gäbe, das sich auf einem Weg des Eigenwillens befindet, wäre das gegenseitige Wohlwollen für eine Zeit lang ausgeschlossen. So ist es auch mit Gott, unserem Vater; wenn es einen anhaltend schlechten Geist gegenüber einem anderen gäbe, so lange verzeiht der Vater nicht als eine Frage der Gemeinschaft und des täglichen Umgangs mit sich selbst. Es ruiniert die Einsicht in die Schrift, wenn man das alles zu einer Frage im Blick auf die Ewigkeit macht. In den Briefen des Neuen Testaments nimmt das Heilmittel oder die Pflicht unter solchen Umständen nicht so sehr die Form der Bitte um Vergebung an, sondern die des Bekenntnisses, was viel tiefer geht. Um Vergebung zu bitten ist einfach genug und schnell getan (wie du vielleicht von deinem Kind lernst); einen Fehler in seiner ganzen Schwere zu bekennen, ist ein sehr demütigender Vorgang, und wenn nicht mit dem Ziel der Vergebung und der Wiederherstellung der Gemeinschaft, ist es eine Beleidigung Gottes. Zu bekennen, sich selbst zu richten, geht also weit über das Bitten um Vergebung hinaus.
Der letzte Satz hier lautet: „und führe uns nicht in Versuchung.“12 Das Herz, das seine eigene Schwäche kennt, breitet sein Verlangen vor dem Herrn aus; es empfindet das Bedürfnis, bewahrt zu werden, nicht, auf die Probe gestellt zu werden.
Der einzig richtige und wahre Weg, die Gedanken Gottes zu verstehen, und die beste Ehrerbietung der Schrift, ist immer und nur an dem festzuhalten, was unzweifelhaft von Ihm selbst ist. Das bedeutet nicht, etwas von der Schrift wegzunehmen; es bedeutet, das abzulegen, was nicht Schrift ist. Wir finden diese Worte ganz zurecht in Matthäus; wir gewinnen durch ihre Auslassung hier, anstatt zu verlieren. Es stellt sich die Frage, warum sie in Matthäus zu finden sind und hier weggelassen werden? „Erlöse uns von dem Bösen“ bezieht sich, wie ich glaube, auf den Bösen und die Darstellung seiner Macht, die ein Jude immer vor Augen haben sollte, jene ungeheure Stunde, die als endgültige Vergeltung über die Nation kommen wird, bevor sie für die Herrschaft Christi befreit werden. Da Lukas die Heiden im Blick hat, wurde dies natürlich und klugerweise ausgelassen. Die Befreiung von dieser Geißel wäre für sie weniger spürbar und kaum verständlich gewesen, da der irdische Teil des Tausendjährigen Reiches aus einem ähnlichen Grund verschwindet. Was allgemein und moralisch ist, bleibt hier.
12 „Erlöse uns von dem Bösen“ wird in den ältesten Abschriften ausgelassen.↩︎