Behandelter Abschnitt Lk 11,1-54
Wie schon des Öfteren bemerkt, ist der Herr Jesus in diesem Evangelium bemüht, alle Übungen des menschlichen Herzens und Gewissens in das Licht Seiner Gedanken zu stellen, damit wir so das Urteil Gottes, das ja auch stets Sein eigenes ist, über uns selbst erfahren. Die ersten Verse dieses Kapitels, die das Gebet behandeln, einen Gegenstand höchsten Interesses für uns, bestätigen dies aufs Neue.
Das Gesetz forderte im Allgemeinen nicht das Gebet, weil es den Menschen auf seine eigene Kraft stellte und ihn erprobte, ob sie bei ihm vorhanden war. Das Gebet hingegen entspringt gerade dem Bewusstsein unserer Kraftlosigkeit und Abhängigkeit. Allerdings waren im Gesetz zwei Formen des Gebets vorgesehen, von denen die eine Schuldlosigkeit und die andere Gehorsam voraussetzte (5Mo 21,7.8 und 5. Mose 26,13). Diese beiden Arten des Gebets waren also jener Haushaltung angemessen, mit der sie in Verbindung standen.
Der Dienst Johannes‘ des Täufers ging über das Gesetz hinaus, indem er verkündigte: „Alles Fleisch ist Gras“ (Jes 40,6). Wenn wir nun hier hören, dass Johannes seine Jünger beten lehrte, so können wir ohne Frage annehmen, dass er, wie es auch das Gesetz tat, ihre Herzen mit Empfindungen zu erfüllen suchte, die der Stellung entsprachen, zu der sein Dienst sie hinführte. In derselben Weisheit handelt hier auch der Herr. Er lehrt sie ein Gebet, das dem Charakter ihres Glaubens und ihrer Hoffnung entsprach, wozu Er sie gebracht hatte. Das alles war vollkommen, weil es für die Jünger passend und zeitgemäß war; denn sie hatten gerade zu Ihm gesagt: „Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte.“
Dieses Gebet wäre aber nicht so vollkommen oder zeitgemäß, wenn es auch der Ausdruck jenes größeren Lichtes wäre, in das wir seitdem gebracht worden sind. Der Herr Jesus war damals noch nicht als der Hohepriester unseres Bekenntnisses in Sein himmlisches Heiligtum eingegangen, und der Heilige Geist war noch nicht auf der Erde. Daher wird Sein eigener Name in diesem Gebet nicht erwähnt, wie Er später selbst sagt: „Bis jetzt habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen.“ Aber durch Seinen Zusatz: „An jenem Tag werdet ihr bitten in meinem Namen“ (Joh 16,24.26) werden wir belehrt, dass es einen Fortschritt in dem Charakter des Gebets der Heiligen geben sollte. So ist es in der Tat geschehen. Die Gebete, welche die Apostel später durch den Heiligen Geist für die Gläubigen taten, enthalten weit höhere Gedanken und tiefere Bitten als dieses Gebet, so vollkommen es zweifellos an seinem Platz ist (siehe z. B. Eph 1,3; Kol 1 und andere Stellen).
Wir sollten daher die Vollkommenheit dieser Form des Gebets ruhig anerkennen, weil es damals zeitgemäß war, aber auch geistlich genug sein, um zu verstehen, dass der Herr es nicht den Gläubigen unserer Tage gab. Hiermit soll keineswegs gesagt werden, dass man es nicht mehr gebrauchen sollte; denn es mag Zeiten geben, wo die Seele ihre Bitten darin ausgedrückt findet. Aber wer seine neue Stellung im Heiligen Geist und in Verbindung mit einem verherrlichten Herrn ganz versteht und es darum nicht benutzt, macht sich sicherlich nicht der Missachtung des Gebets des Herrn schuldig.
Er ist der Herr des Tempels, und es ist ohne Frage unsere ganze Freude, Ihn als solchen anzuerkennen. Aber der Herr hat jetzt den Heiligen Geist als die lebendige Kraft im Tempel gegeben, der ihn mit wahrer, geistlicher Anbetung erfüllt, mit unaussprechlichen Seufzern, mit Gebet, Flehen, Fürbitte und Danksagung im Geist der Sohnschaft, der da ruft: „Abba, Vater!“ Derselbe Herr des Tempels hat es jetzt anders verordnet, und wir sind gehorsam, wenn wir mit Ihm auf diesem Weg voranschreiten. Was damals die Herrlichkeit Seines Hauses bildete, sind heute „armselige Elemente“, weil der Herr weitergegangen ist und Jerusalem mit seiner Anbetung hinter sich gelassen hat. Es geziemt uns nicht, mit Bewunderung rückwärts auf die „schönen Steine“ zu schauen, nachdem der Herr bereits auf den Ölberg gestiegen ist.
In den folgenden Versen, in dem Gleichnis von dem Freund, der um Mitternacht um Brot bittet, zeigt uns der Herr dann den Wert oder den Erfolg des Gebets und, durch die Gegenüberstellung eines menschlichen Vaters mit dem himmlischen Vater, die Gewissheit oder die Zuversicht des Gebets. Diese Gewissheit ist zweifacher Art: Einmal ergibt sie sich aus der Liebe der verwandtschaftlichen Beziehungen und zum anderen aus der vollkommenen Güte Gottes selbst.
Unsere Herzen sollen mit unerschütterlicher Zuversicht erfüllt sein, wenn wir den Herrn und Seinen Segen suchen.
Bevor wir weitergehen, sei noch auf den Ausdruck „von innen“ (V. 7) aufmerksam gemacht, der voll großer sittlicher Belehrung zu sein scheint. Er deutet wohl einen Mangel an jenen herzlichen Gefühlen an, die stets bei uns vorhanden sein sollten, wenn wir um etwas gebeten werden. Als Mose in Ägypten war, „ging er aus“, um den Lastarbeiten seiner Brüder zuzusehen, und Nehemia, obwohl er am persischen Hof war, weinte über die Verwüstung der Stadt und der Begräbnisstätte seiner Väter. Beide waren „innen“, aber ihr Glaube trieb sie „hinaus“. Ihre Umstände machten die Glaubensprüfung umso schwerer, aber ihren Sieg auch desto glänzender und ungewöhnlicher. Es ist gefährlich, sich mehr oder weniger „innen“ zu bewegen, damit man nicht, wenn man seine eigene Lage betrachtet, sagte „Meine Kinder sind bei mir im Bett; ich kann nicht aufstehen und dir geben.“ Von „innen“ hören wir schwerlich die Not eines Bruders „draußen“, sehen kaum die Lasten Israels und fragen nicht nach den Verwüstungen Zions.9
Die Verse 14 bis 54 geben uns andere wertvolle Belehrungen entsprechend dem Charakter dieses Evangeliums. Der Herr muss sich zwei Anklagen seitens Seiner Feinde anhören. Was das für Ihn gewesen sein muss, können wir ahnen, wenn wir daran denken, dass der Hohn stets Sein Herz brach. Aber der Herr bringt beide Beschuldigungen mit der Kraft eines großen Lehrers auf den Kopf oder, besser gesagt, auf das Gewissen Seiner Ankläger zurück. Einige sagten: „Durch Beelzebub, den Obersten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus.“ Sie beschuldigen Ihn also, in dem, was Er tat, mit Satan verbündet zu sein. Andere forderten ein Zeichen aus dem Himmel, sie bezweifelten, dass Seine Taten der Beweis Seiner Verbindung mit Gott seien. Der Herr entlarvt ihre Bosheit und stellt ihren eigenen Zustand bloß, damit sie erkennen möchten, dass nicht in Ihm, sondern in ihnen selbst der Teufel wirkte und daher vollkommene Finsternis war. Er war der „Finger Gottes“ und die „Lampe auf dem Lampenständer“. (V. 20 u. 33).
Die Beweisführung des Herrn ist wunderbar einfach und kraftvoll. Es ist beachtenswert, dass Er in Vers 26 die Belehrung über den „unreinen Geist“ nicht wie in Matthäus 12,45 ausdrücklich auf Israel anwendet.
Sein Bitten. Dieser Unterschied ist für die beiden Evangelien bezeichnend. In Lukas belehrt und erzieht der Herr Seine Jünger, Er bringt ihre Herzen und Gewissen in Übung. Im Johannes-Evangelium dagegen stellt Er Sich selbst vor und offenbart Sich selbst. Deshalb redet Er dort von Seinem Platz und Seinem Dienst hinsichtlich der Gabe des Heiligen Geistes.
Dieser Unterschied steht in Übereinstimmung mit dem streng jüdischen Charakter des Matthäus- Evangeliums. So wird hier bei Lukas das Urteil über den Zustand jener Generation im Haus, während einer der menschlichen Begegnungen des Sohnes des Menschen, ausgesprochen (V. 37 bis 54), während bei Matthäus das gleiche Urteil in der Autorität des Sohnes des Menschen gewissermaßen vom Thron des Gerichts ausgeht (Mt 23), ein Unterschied, der in lebendiger Weise die Verschiedenartigkeit der beiden Evangelien kennzeichnet.
Die Gedanken des Herrn erfahren jedoch eine Unterbrechung. Was Er gesagt hat, scheint sich mit moralischer Kraft auf das Herz einer Zuhörerin gelegt zu haben, denn „als er dies sagte, dass eine gewisse Frau aus der Volksmenge ihre Stimme erhob und zu ihm sprach: Glückselig der Leib, der dich getragen, und die Brüste, die du gesogen hast!“ Das war ein Zeugnis für die Kraft der Worte unseres göttlichen Lehrers, wie Er uns in diesem Evangelium vorgestellt wird.
Ein gleiches Zeugnis wird Ihm etwas später zuteil. Denn wiederum heißt es: „Während er aber redete, bittet ihn ein Pharisäer, dass er bei ihm zu Mittag essen möge.“ Auch dieser Mann war augenscheinlich durch die Macht Seiner Worte berührt worden, vielleicht nicht von den gleichen Zuneigungen beseelt wie die Frau, aber jedenfalls lädt er Ihn in sein Haus ein.
Aufs Neue ist Er, sobald Er das Haus betritt, der große Lehrer, der den religiösen Stolz und die finstere Heuchelei derer rügt, die Er dort findet. Schließlich unterbricht Ihn einer der anwesenden Gesetzgelehrten, der die Wahrheit der Vorwürfe fühlt, in gleicher Weise und sagt zu Ihm: „Lehrer, indem du dies sagst, schmähst du auch uns.“ Aber das Licht bleibt seinem Wesen und Werk treu und macht die es umgebende Finsternis offenbar, bis die Feindschaft dieser Finsternis sich völlig erhebt und Schriftgelehrte und Pharisäer zusammen auf Ihn eindringen und Er das Licht zurückzieht, dessen Heiligkeit ihnen unerträglich geworden war.
9 Auf einen Unterschied zwischen den Evangelien sei noch hingewiesen. In der entsprechenden Stelle des Matthäus- Evangeliums sagt der Herr, dass der Vater denen, die Ihn bitten, „Gutes“ geben wird, hier dagegen: den „Heiligen Geist“. Im Gegensatz zum Johannes-Evangelium wiederum sagt der Herr hier, dass der Heilige Geist auf unser Bitten hin gegeben wird, in Johannes 14,16 dagegen, auf Sein Bitten. Dieser Unterschied ist für die beiden Evangelien bezeichnend. In Lukas belehrt und erzieht der Herr Seine Jünger, Er bringt ihre Herzen und Gewissen in Übung. Im Johannes-Evangelium dagegen stellt Er sich selbst vor und offenbart sich selbst. Deshalb redet Er dort von Seinem Platz und Seinem Dienst hinsichtlich der Gabe des Heiligen Geistes.↩︎