Behandelter Abschnitt Lk 10,38-42
Wir kommen hier zu einem neuen Abschnitt des Evangeliums. Der Geist Gottes stellt uns, jetzt ganz allgemein gesprochen, zwei Dinge vor Augen: Erstens den unaussprechlichen Wert des Wortes Gottes und insbesondere des Wortes Jesu; zweitens, wie wir ein anderes Mal sehen werden, den Platz und die außerordentliche Bedeutung des Gebets für uns. Aber dann gibt es viele Dinge, die im Zusammenhang mit jedem dieser Themen zu betrachten sind, von denen wir jetzt nur das erste betrachten wollen.
Es gibt einen moralischen Vergleich zwischen den beiden Schwestern, die den Herrn liebten. Die, die das bessere Teil wählte, war die, deren Herz am meisten am Wort als Bindeglied zwischen ihr und Gott festhielt. Jeder wird durch das Wort der Wahrheit von Gott gezeugt, denn es ist der Same des unvergänglichen Lebens, das Wort, das lebt und ewig bleibt. Aber es ist noch viel mehr als das. Es ist das Mittel zum Wachstum, zur Reinigung auf dem Weg, zur Freude an Gott und folglich Tag für Tag zum geistlichen Segen.
Das wurde sehr deutlich in dem Unterschied zwischen Martha und Maria. Sie waren leibliche Schwestern, beide gläubig und Jesus liebte beide. Dennoch gab es einen Unterschied; und die Hauptursache und der Beweis dafür zwischen den beiden war die höhere Wertschätzung, die Maria für das Wort Jesu hatte. Das Wort Gottes hat eine formende Kraft über den Verstand und die Zuneigung, und es ist erwiesen, dass die, die den Herrn am meisten schätzt und Ihm am wirklichsten und in der wahrsten Gemeinschaft dient, die größte Wertschätzung für sein Wort hat. Das finden wir als allgemeines Prinzip an anderer Stelle in der Schrift: „Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten“ (1Joh 5,3), und besonders in Johannes 14,23: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten“; aber hier kommt es praktisch im Fall von Martha und Maria zum Ausdruck: „eine gewisse Frau aber, mit Namen Martha, nahm ihn in ihr Haus auf“ (V. 38). Sie erkannte Ihn voll und ganz als den Messias an. In Marthas Herz war der Glaube an die Gabe Gottes; aber sie sah in Ihm nicht mehr als einfach nur den Messias. Ihr Glaube reichte nicht weiter. „Und diese hatte eine Schwester, genannt Maria, die sich auch zu den Füßen Jesu niedersetzte und seinem Wort zuhörte“ (V. 39).
Maria zeichnet sich nicht durch eine solche Aufnahme des Herrn, durch liebevolle Zuwendung und Gastfreundschaft aus, obwohl sie zweifellos auf einem Wachsen aus dem Glauben beruhen. Maria setzte sich zu den Füßen Jesu nieder und hörte seinem Wort zu. Manche mögen das für einen weit geringeren Liebesbeweis halten; aber für Jesus war es der unvergleichlich annehmbarere von beiden. Martha erwies Jesus die Ehre, wie es eine gläubige, rechtschaffene Jüdin tun konnte; sie betrachtete sich selbst als jemand, der Ihm als König untertan war, und war so glücklich, wie es ihr Glaube zuließ, den Herrn am Tag seiner Erniedrigung in ihrem Haus zu empfangen; aber ihre Schwester saß zu seinen Füßen und hörte sein Wort.
In ihrem Fall ging es nicht so sehr darum, was sie für den Herrn tat, sondern sie hatte ein solches Empfinden für seine Größe und Liebe, dass es für sie das Wichtigste war, zu seinen Füßen zu sitzen (eine Haltung weitaus größerer Demütigung, als Martha sie je eingenommen hatte) mit dem Bewusstsein der göttlichen Fülle, die in Ihm für sie da war. Sie hörte sein Wort; aber Martha war „beschäftigt mit vielem Dienen“ (V. 40). Wie viele gibt es, die gern dem Herrn dienen, aber viel mehr von ihrem eigenen Tun für Ihn erfüllt sind als von dem, was Er für sie und in Ihm selbst ist! Das täuscht viele. Sie messen den Glauben an ihrer eigenen Geschäftigkeit und Aktivität. Aber in Wahrheit steckt darin immer ein großes Stück des eigenen Ichs. Wenn wahre Demut vorhanden ist, mag viel getan werden, aber es gibt wenig Lärm. Maria saß zu Jesu Füßen und hörte seinem Wort zu. „Martha aber war sehr beschäftigt mit vielem Dienen; sie trat aber hinzu und sprach: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein gelassen hat zu dienen? Sage ihr nun, dass sie mir helfen soll“ (V. 40). Es war also nicht nur eine große Portion Selbstherrlichkeit in Martha, sondern sie fühlte sich ständig von anderen übersehen und gehindert. Der Geist des Egoismus misst an sich selbst und kann eine Liebe nicht würdigen, die größer ist als seine eigene und die sich in Wegen und Formen äußert, die in seinen Augen keine Schönheit haben. Deshalb hatte Maria nicht das Wohlgefallens Martha, sondern war sie beunruhigt: Warum hat Maria ihr nicht geholfen? Marthas Gedanken kreisten um sich selbst. Hätte sie an Jesus gedacht, hätte sie Ihm nicht mehr diktiert, als sie sich über Maria beklagte. „Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester mich allein gelassen hat, zu dienen? Sage ihr nun, dass sie mir helfen soll.“
Welch ein Mangel an Liebe und Demut! Sie überlässt es nicht einmal dem Herrn, sie zu leiten. Das eigene Ich ist immer gefangen und wichtig, und ebenso schnell dabei, anderen etwas zuzuschreiben, wie es sich selbst anmaßt, was ungebührlich ist. „Sage ihr nun, dass sie mir helfen soll.“ Sie vergisst, dass sie nur die Dienerin des Herrn war. Wer war sie, dass sie Ihn kommandieren wollte? Martha war voller Eifer, aber auf ihre eigene Art und Weise (um nicht zu sagen: mit ihrem eigenen Willen) im Dienst für Christus.
Jesus aber antwortet mit der Würde, die Ihm eigen war, und mit der Liebe, die immer das Ziel vor Augen hat (denn es gibt nichts, was so sehr ins Auge sticht wie echte Zuneigung), die aber zugleich die Wahrhaftigen vor denen rechtfertigt, die sie missverstehen. Er liebte sie in der Tat beide und sagt als Antwort: „Martha, Martha! Du bist besorgt und beunruhigt um viele Dinge“ (V. 41). Sie war zuerst mit sich selbst beschäftigt. Sie hätte nicht so ängstlich und sorgenvoll sein sollen. Martha wusste nicht, was Paulus so gut wusste: „eins aber tue ich“ (Phil 3,13).
Es gab niemanden, der so mit vielen Dingen beschäftigt war der Apostel; es gab nie einen anderen mit einem solchen Herzen für die Versammlung. Auch war er glücklich dabei, seine Hände zu gebrauchen, Zelte herzustellen, weil er anderen nicht zur Last fallen wollte, obwohl er als Apostel Christi ein Recht darauf hatte. Was war es, das ihn durch all seine beispiellosen Mühen und Leiden trug, so dass er nicht abgelenkt war und doch glücklich war? Der Grund war, dass eine Person, das einzig würdige Objekt, sein Herz erfüllte und beherrschte. Das machte ihn inmitten der tiefsten Bedrängnisse durch und durch glücklich.
Dies „eine“ ist genau das, was für das Kind Gottes nötig ist, und genau das, was Martha praktisch nicht hatte. Es war nicht so, dass sie nicht an den Herrn glaubte; aber sie hatte auch ihre eigenen Vorstellungen. Die Natur war stark. Das jüdische Empfinden und die Tradition hielten sich hartnäckig; alle diese Dinge wirkten aktiv in ihrem Geist; und für eine solche Person war die Aufnahme des Herrn Jesus nicht nur eine Frage, Ihm Ehre zu erweisen, sondern auch, selbst Ehre zu empfangen. In solchen Fällen vermischt sich das eigene Ich immer, mehr oder weniger, sogar mit dem Wunsch, Jesus gegenwärtigen Respekt zu erweisen. „Eins aber ist nötig. Denn Maria hat das gute Teil erwählt, das nicht von ihr genommen werden wird“ (V. 42). Es gibt nichts Vergleichbares. Das gute Teil ist, Christus und sein Wort zu schätzen, nicht zu denken, was Maria für den Herrn tun könnte, sondern was der Herr für Maria tun könnte. Alles für ihre Seele vom Herrn zu empfangen, anstatt Ihn in ihr Haus aufzunehmen, war Marias Anliegen. Das war das Einzige, was sie brauchte – es war Christus selbst. Er ist alles, und Maria empfand das. Dieses „gute Teil, das nicht von ihr genommen werden soll“ – es ist ewig. Marthas Ehre verging; sie stand kurz vor dem Ende, denn bald würde Jesus nicht mehr nach dem Fleisch bekannt sein, sondern, wenn überhaupt, in einer höheren Herrlichkeit als der des Messias erkannt werden müssen. Daher konnte die Möglichkeit, Ihn mit einem gastfreundlichen Herzen zu empfangen, bald nicht mehr Marthas Anteil sein; denn an seinem Kreuz würde sie notwendigerweise verkürzt werden und verschwinden. Aber Marias Stellung des demütigen Glaubens beim Hören seines Wortes konnte immer sein. Sogar im Himmel wird das Wesentliche davon nicht verlorengehen. Die Gemeinschaft mit Jesus, die Freude an Jesus, die Demut des Herzens vor Jesus, wird immer wahr sein; sie ist der Teil der wahren Ergebenheit und der tiefsten Liebe. So groß Glaube und Hoffnung auch sein mögen (und ihr Wert kann auf der Erde nicht überschätzt werden), so ist doch letztlich die Liebe das, was ewig bleibt, und die Liebe jetzt steht im Verhältnis zur Kraft des Glaubens und der Hoffnung. Alle diese Dinge waren in Marias Herzen unvergleichlich reicher und stärker als im Herzen Marthas, und dies, weil Christus ihr Herz erfüllte – dieses eine, das nötig ist.