Behandelter Abschnitt Lk 24,41-52 „Und seine Eltern gingen alljährlich am Passahfest nach Jerusalem. Und als er zwölf Jahre alt war und sie nach der Gewohnheit des Festes hinaufgingen“ (V. 41.42). Dies ist ihr alljährlicher Besuch in Jerusalem, der erklärt, dass sie in Bethlehem waren, als die Weisen aus dem Morgenland heraufkamen. Sicherlich war die Ankunft nicht unmittelbar nach der Geburt des Kindes. Es kann kaum bezweifelt werden, dass es bei einem ihrer regelmäßigen Besuche in der Folgezeit gewesen sein muss, als sie nicht nur nach Jerusalem hinaufgingen, sondern, wie wir verstehen können, sie sich in Bethlehem, das in ihren Augen jetzt mehr als je zuvor das größte Interesse als Geburtsort des Kindes hatte, das ihnen geschenkt worden war – des Messias. Bei diesem Besuch, mindestens ein Jahr nach seiner Geburt, kamen die Magier hinauf und fanden das junge Kind mit Maria, seiner Mutter, und überreichten Ihm ihre Gaben. Und dies erklärt die Tatsache, dass Herodes, als er es herausfand, befahl, die Kinder von zwei Jahren und darunter zu töten. Das hätte er, grausam wie er war, wohl kaum getan, wenn das Kind gerade erst geboren worden wäre; aber weil mindestens ein Jahr oder mehr vergangen war, befahl er, um sich seiner Sache sicher zu sein, alle Kinder von zwei Jahren und darunter zu töten, „entsprechend der Zeit, die er von den Magiern genau erfragt hatte“ (Mt 2,16).
Dies verursacht auf den ersten Blick eine Schwierigkeit, weil das Kind wieder in Bethlehem gesehen wird, während uns gesagt wird, dass sie in Nazareth lebten. Aber es gibt wirklich nichts, was den schwächsten Gläubigen stutzig machen könnte. Lukas stellt die Verbindung her, indem er uns von der jährlichen Rückkehr nach Jerusalem berichtet, während Matthäus uns die zusätzliche Begebenheit des Besuchs der Magier in Bethlehem gemäß der Prophezeiung beschreibt. Nichts wäre einfacher gewesen, als wenn sie sich, als sie in Jerusalem waren, nach Süden nach Bethanien gewandt hätten – nichts wäre natürlicher gewesen, als dass sie den Ort des wichtigsten Ereignisses in ihrem Leben wieder besuchen würden. In der Tat war seit Beginn der Welt noch nie etwas von derartigem Interesse wie die Geburt Jesu geschehen. Sie sollte in den Schatten gestellt werden durch das größere und ganz und gar unvergleichliche Werk seines Kreuzes. Doch dieses war noch nicht gekommen.
Als nächstes wird uns berichtet, dass, als Er zwölf Jahre alt war, eine bemerkenswerte Illustration seiner Jugendtage stattfindet: „... und die Tage vollendet hatten, blieb bei ihrer Rückkehr der Knabe Jesus in Jerusalem zurück; und seine Eltern wussten es nicht. Da sie aber meinten, er sei unter der Reisegesellschaft, kamen sie eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und den Bekannten; und als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn. Und es geschah nach drei Tagen, dass sie ihn im Tempel fanden, wie er inmitten der Lehrer saß und ihnen zuhörte und sie befragte“ (V. 43‒46).
Einen moralisch ansprechenderen Anblick gibt es selbst in Gottes Wort nirgends. Gerade in dem Alter, in dem weder die Einfalt des Kindes noch der ausgeprägte gesunde Menschenverstand des Mannes vorhanden ist, finden wir Jesus so beschäftigt. Andere in demselben Alter waren zweifellos in einer solchen Stadt mit ihrem Spiel oder dem Genuss der Neugier beschäftigt und vergeudeten die wertvollste Zeit, die nie wiederkehren kann, bevor die Hektik des menschlichen Lebens beginnt und der große Kampf, in dem sich so viele ständig verlieren.
Jesus hingegen fand sich bescheiden und gleichzeitig voller Weisheit und nutzte die goldene Gelegenheit, indem er sich in die Mitte der Lehrer setzte und ihnen sowohl zuhörte (ein Beweis für seine Demut) als auch Fragen stellte, ein Beweis für sein Interesse an der Heiligen Schrift. Es war nicht genug, dass der Herr, Herr sein Ohr morgens weckte, um zu hören wie die Belehrten; es war nicht genug, dass Er Ihm die Zunge der Belehrten gab, damit Er wisse, wie Er ein Wort zur rechten Zeit zu dem Müden redet (Jes 50,4). Aber hier ist es das Ohr und die Zunge des Belehrten im Gebrauch der Mittel, die jedem Kind in Israel zur Verfügung stehen. Wie sehr Er auch unmittelbar von Gott gelehrt sein mochte, hier saß Er dennoch inmitten der Lehrer Jerusalems und hörte sie sowohl an als Er ihnen auch Fragen stellte. Er belehrte sie nicht, obwohl Er als der Sohn Gottes vollkommen kompetent und persönlich dazu berechtigt war.
Zweifellos waren gerade seine Fragen sehr lehrreich, wie man sie in dieser Welt noch nie gehört hatte. Dennoch zeigt dieses schöne Bild die vollkommene Angemessenheit des Kindes Jesus. Denn obwohl Er Gott war, war Er Mensch; und nicht nur Mensch, sondern in diesem besonderen Stadium seiner Menschheit, als Jugendlicher, zeigt Er alle Ehrerbietung gegenüber denen, die älter waren als Er selbst. Hätte Er nach dem Recht gehandelt, dass Er der Herr dieses Tempels war, hätte Er das Wort Maleachis aufgreifen können, das von seinem Kommen dorthin in Macht und Herrlichkeit zeugte. Er hätte als der Herr darlegen können: „Und plötzlich wird zu seinem Tempel kommen der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehrt: Siehe, er kommt, spricht der Herr der Heerscharen. Wer aber kann den Tag seines Kommens ertragen, und wer wird bei seinem Erscheinen bestehen? Denn er wird wie das Feuer des Schmelzers sein und wie die Lauge der Wäscher. Und er wird sitzen und das Silber schmelzen und reinigen; und er wird die Kinder Levi reinigen und sie läutern wie das Gold und wie das Silber, so dass sie dem Herrn Opfergaben darbringen werden in Gerechtigkeit“ (Mal 3,1‒3). Aber nein; Er, der Meister, findet sich dort als Jünger des Wortes Gottes, als jemand, der nicht von sich aus austeilt, sondern im Gegenteil den Gewinn des Wortes sucht, das auf den Lippen dieser Lehrer lag. Es war ja schließlich das Wort seines Vaters: Also hört Er sie und stellt ihnen Fragen. „Alle aber, die ihn hörten, gerieten außer sich über sein Verständnis und seine Antworten“ (V. 47). So führten seine Fragen zur Offenbarung der göttlichen Wahrheit; so noch mehr seine Antworten, wie daraus ersichtlich ist, dass sie ihm auch Fragen stellten.
Und als seine Eltern „ihn sahen, erstaunten sie sehr; und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (V. 48.49).
So hatte unser Herr von früher Jugend an das Bewusstsein, der Sohn Gottes zu sein, der über allen irdischen Ansprüchen steht. Aber genau wie die Gnade das Gesetz anerkennt, so anerkennt der ewige Sohn seine menschliche Stellung als Kind Marias. Er behauptete und bewies, dass Er in seinem eigenen Bewusstsein wirklich der Sohn des Vaters war und dass Er folglich mit den Angelegenheiten seines Vaters beschäftigt sein musste. Es stand Ihm nicht zu und war Ihm nicht möglich, den Willen seines Vaters beiseitezuschieben. Das war der erste Gegenstand vor seinem Herzen. Aber trotz all dieser Ergebenheit als Sohn Gottes, trotz der Tatsache, dass seine Eltern nicht verstanden, was Er sagte, ging Er mit ihnen nach Nazareth hinab, „und er war ihnen untertan. Und seine Mutter bewahrte alle [diese] Worte in ihrem Herzen“ (V. 51). „Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe und an Gunst bei Gott und Menschen“ (V. 52). So haben wir diesen erneuten Hinweis auf das Wachstum des Herrn, sowohl äußerlich als auch innerlich. Wie können wir solche Andeutungen damit in Einklang bringen, dass Er selbst Gott war, obwohl er Mensch war? Ganz offensichtlich war Er immer vollkommen, aber dann war Er der vollkommene das kleine Kind und der vollkommene Junge, wie wir auch finden werden, dass Er zu gegebener Zeit der vollkommene Mensch sein wird. Zu jedem gegebenen Zeitpunkt war Er absolut vollkommen, und doch wuchs Er. Er entwickelte sich vom kleinen Kind zum Jüngling und vom Jüngling zum erwachsenen Menschen. Und so war es, dass, während Er heranwuchs, die Vollkommenheit in völliger Harmonie mit seinem Wachstum war und sich sowohl Gott als auch den Menschen gegenüber so erwies. Wenn schon das unbefleckte und heilige Kind in den Augen Gottes kostbar war, dann erst recht als Jugendlicher und vor allem in der entwickelten Reife eines Menschen.
Es ist also so, dass, während alles vollkommen war und immer so war, diese Vollkommenheit dennoch einen Fortschritt zuließ: „Und Jesus nahm zu an Weisheit und an Größe und an Gunst bei Gott und Menschen“ (V. 52). Aber all dies, so können wir feststellen, entspricht genau dem Geist und der Absicht unseres Evangelisten und findet sich in der Tat nur in diesem Evangelium.