Es wurde bereits ‒ wenn auch nur kurz ‒ erklärt, dass ein Grund des Geistes Gottes, die Bergpredigt aus ihrem historischen Platz in Matthäus zu lösen,
der zu sein scheint, dass das ganze Evangelium nach dem Grundsatz geschrieben wurde, die Juden zu überzeugen und ihnen zu zeigen, wer Jesus war. Er war ihr Messias (ein Mensch, aber Jahwe), der Herr, der Gott Israels. Tatsächlich werden hier die Aussprüche, die Er bei verschiedenen Gelegenheiten tat, zusammengefasst.
Außerdem sollten die Juden überzeugt werden, dass Er entsprechend den Prophezeiungen ‒ und durch die Wunder bezeugt ‒ der Messias war. So finden wir hier die moralischen Grundsätze und Wege, die sowohl für seine Person als auch für seine Lehre gelten.6
Um seiner Lehre ein größeres Gewicht zu verleihen, hat der Geist Gottes aus meiner Sicht zuerst die Taten der Wunderkräfte, die die allgemeine Aufmerksamkeit erregten, in einer allgemeinen kurzen Schilderung wiedergegeben. Der Bericht wurde verbreitet, so dass es keinen Entschuldigungsgrund für den Unglauben gab. Man konnte nicht argumentieren, dass es nicht ausreichend bekannt war und Gott die Trompete nicht laut genug geblasen habe. Die Stämme Israels konnten sie hören. Ganz im Gegenteil: In ganz Syrien hatte sich sein Ruf verbreitet, und große Volksmengen folgten Ihm von Galiläa, der Dekapolis, Jerusalem, Judäa und von jenseits des Jordans. All dies wird hier vorgestellt und am Ende von Kapitel 4 zusammengefasst.
Und so wie es diese Zusammenfassung der Wunder Christi gibt, die zeitlich zu unterschiedlichen Zeiten geschahen, wie ich annehme, dass auch so die Bergpredigt nicht notwendigerweise eine fortlaufende Rede war, sondern durch Zeit oder Umstände unterbrochen war. Doch der Heilige Geist hat es für angebracht gehalten, sie so zusammenzufügen, dass sie die ganze moralische Einheit der Lehre Christi über das Reich der Himmel wiedergibt, und besonders so, dass sie den irdischen Ansichten des Volkes Israel entgegenwirkt.
Lukas hingegen wurde vom Heiligen Geist inspiriert, die Fragen, die bestimmten Teilen der Rede zugrundelagen, und die Umstände, die sie begleiteten, vorzustellen. Andererseits ließ er bestimmte Teile dieser Rede weg und verband sie mit Ereignissen, die von Zeit zu Zeit im Dienst unseres Herrn geschahen, wobei die tatsächlichen Begebenheiten auf diese Weise moralisch passendmit irgendeiner besonderen Lehre unseres Herrn verknüpft wurden. An einigen Stellen des Lukasevangeliums nimmt sich der Geist Gottes die Freiheit, nach seiner souveränen Weisheit bestimmte Teile wegzulassen und hier und da Teile einzufügen, jeweils entsprechend dem Gegenstand, den Er im Auge hatte. Das große Merkmal des Lukasevangeliums, das es vom Anfang bis zum Ende durchzieht, ist sein moralisches Ziel. Wir können daher völlig verstehen, wie passend es war, dass bei bestimmten Gelegenheiten im Leben Christi die entsprechenden praktischen Kommentare seiner Redendort hinzugefügt wurden.
Was nun die Rede selbst betrifft, so spricht der Herr hier eindeutig als der Messias, der Prophet und König der Juden. Aber außerdem stellt man durchweg fest, dass die Bergpredigt die Verwerfung des Königs voraussetzt. Das wird noch nicht deutlich dargelegt, aber das liegt allem zugrunde. Der König hat das Empfinden für den wahren Zustand des Volkes, das kein Herz für Ihn hatte. Daher gibt es einen gewissen Hauch von Trauer, der die Rede durchzieht. Das muss echte Frömmigkeit in der Welt, so wie sie ist, immer kennzeichnen: Eine seltsame Sache für Israel und besonders seltsam im Mund des Königs, der solch eine Macht besaß, dass Er alles, wenn es nur darum gegangen wäre, seine Mittel einzusetzen, in einem Augenblick hätte verändern können. Die Wunder, die jedes seine Worte begleiteten, bewiesen, dass es nichts gab, was außerhalb seiner Reichweite lag, wenn es nur eine Frage seiner selbst war. Aber wir werden in allen Wegen Gottes finden, dass Er zwar immer seine Ratschlüsse ausführt – so dass, wenn Er ein Königreich voraussagt und es in die Hand nimmt, um es aufzurichten, Er es sicherlich vollenden wird. Dennoch stellt Er den Gedanken zuerst dem Menschen, Israel, vor, weil sie sein auserwähltes Volk waren. Der Mensch hat also die Verantwortung, das anzunehmen, was den Gedanken Gottes entspricht, oder es abzulehnen, bevor Gnade und Macht seine Pläne zur Ausführung bringen.
Doch der Mensch versagt immer, ganz gleich, was Gottes Absicht sein mag. Seine Absicht ist gut, sie ist heilig und wahr. Sie erhöht Gott, erniedrigt aber den Sünder. Das gefällt dem Menschen nicht. Er empfindet, dass er zu nichts gemacht ist, daher verwirft er alles, was seine Eitelkeit nicht befriedigt. Der Mensch stellt sich unweigerlich gegen die Gedanken Gottes: Folglich gibt es Schmerz und Leid, ja, sogar die Ablehnung Gottes. Und das Wunderbare ist ‒ das beweist die Geschichte der Welt ‒, dass Gott sich zurückweisen und beleidigen lässt. Er erlaubt dem armen, schwachen Menschen, dem Wurm, seine gütigen Angebotezurückzuweisen und seine Güte abzulehnen. Er gebraucht alles, was Gott gibt und verheißt, in seinem eigenen Stolz und Ruhm gegen die Majestät und den Willen Gottes. All dies ist die Wahrheit über den Menschen, und das durchzieht diese gesegnete Rede unseres Herrn. Während Er nun den Charakter des Volkes deutlich macht (was der große Sinn des ersten Teils dieses Kapitels ist), das dem Reich der Himmel entsprechen würde, verkündet Er, dass ihr Charakter durch seinen eigenen geformt werden muss. Wenn es eine Abneigung und Verachtung der Menschen für das gab, was von Gott war, zeigt Er, dass diejenigen, die Ihm wirklich angehören, eine Gesinnung und eine Art und Weise haben müssen, die durch seine eigene charakterisiert ist und das in Gemeinschaftmit Ihm.
Ich sage hier nur „Mitempfinden“, weil von der Wahrheit eines göttlichen Lebens, das dem Gläubigen gegeben wird, in dieser Rede nichts zu finden ist. Die Erlösung wird nichterklärt, weil sie nicht das Thema der Bergpredigt ist. Wenn also jemand wissen will, wie er gerettet werden kann, sollte er hier nicht mit dem Gedanken suchen, eine Antwort zu finden. Sie kann darin nicht gefunden werden, weil der Herr das Reich der Himmel und die Art von Menschen vorstellt, die für dieses Reich passend sind. Es ist klar, dass Er von seinen eigenen Jüngern spricht und deshalb nicht zeigt, wie jemand, der von Gott entfremdet ist, aus einer solchen Lage befreit werden kann. Er spricht über Heilige, nicht über Sünder. Er konnte darlegen, was seinem Herzen entspricht; das ist keineswegs der Weg, wie jemand, der sich bewusst von Gott entfernt hat, in die Nähe Gottes gebracht werden kann.
Die Bergpredigt behandelt nicht die Errettung, sondern den Charakter und das Verhalten derer, die Christus angehören – dem wahren und doch verworfenen König. Aber wenn wir diese Glückseligpreisungen genau untersuchen, werden wir darin eine erstaunliche Tiefe und auch eine schöne Ordnung finden.
6 Ein dritter Punkt, den ich hier hinzufügen möchte, war von immenser Bedeutung, um die Folgen seiner Verwerfung seitens der Juden deutlich zu machen, nicht nur für sie, sondern auch für die Heiden; das heißt, die Veränderung der Haushaltung, die sich aus dieser erhabenen Tatsache ergab.↩︎