Behandelter Abschnitt Hes 17,1-6
Wir haben hier eine weitere der anschaulichsten Darstellungen unseres Propheten über die tatsächliche Lage der Dinge im Volk Gottes, über den drohenden Untergang wegen der Gottlosigkeit des Königs (und dies auch in dem Eid des Herrn mit dem heidnischen Oberhaupt; V. 18), und schließlich über das Königreich des Messias, das, in seiner ersten Vorstellung das niedrigste, zu gegebener Zeit von Gott über die ganze Erde erhöht wird. Obwohl wir also keinen geringen Zusammenhang zwischen dem letzten Teil und solchen Vorhersagen wie denen von Jesaja 11 und 53; Daniel 2,34.35.44.45 und Micha 5 haben, hat die Prophezeiung hier ihre eigenen, sehr deutlichen Merkmale, wie jede dieser Prophezeiungen auch.
Und das Wort des HERRN erging an mich, indem er sprach: Menschensohn, gib ein Rätsel auf und rede ein Gleichnis zum Haus Israel und sprich: So spricht der Herr, HERR: Ein großer Adler mit großen Flügeln, langen Schwingen, voll buntfarbigen Gefieders, kam zum Libanon und nahm den Wipfel einer Zeder weg. Den obersten ihrer Schösslinge brach er ab und brachte ihn in ein Händlerland, in eine Stadt von Kaufleuten setzte er ihn. Und er nahm vom Samen des Landes und setzte ihn in ein Saatfeld, er brachte ihn zu vielen Wassern, behandelte ihn wie einen Weidenbaum. Und er wuchs und wurde zu einem üppigen Weinstock von niedrigem Wuchs, damit seine Ranken sich zu ihm hinwendeten und seine Wurzeln unter ihm wären; und er wurde zu einem Weinstock und trieb Äste und breitete sein Laubwerk aus (17,1–6).
Der große Adler ist kein anderer als der König von Babel, den Gott in souveräner Weisheit zum Oberhaupt des heidnischen Reichssystems machte, nachdem sich Israels moralischer Ruin und seine Rebellion gegen den Herrn erwiesen hatte. In der Tat hatte bereits ein anderer Prophet ein ähnliches Bild von Nebukadnezar verwendet (Jer 48,40; 49,22). Aber hier ist es zu einem vollständigen Gleichnis ausgearbeitet, denn die Zeder auf dem Libanon bezeichnet das Königtum in Israel, das dem Haus Davids zustand, das nun wegen seiner Sünden dem Haupt der Nationen unterworfen war. Jojakim ist der König von Juda, der hier als der abgebrochene oberste Zweig beschrieben wird, den Nebukadnezar mit sich nach Babel nahm, der damals berühmtesten Stadt des Altertums, nicht nur wegen ihrer Pracht, sondern auch wegen ihres Handels (Jes 13,19; 43,14). Und nicht nur das; denn der Eroberer setzte über Jerusalem einen anderen König ein, jedoch aus dem Samen des Landes, nicht einen fremden Herrn, sondern aus dem Haus Davids, Mattanja, den Onkel („Bruder“) des verbannten Königs, unter dem neuen Namen Zedekia, den ihm sein heidnischer Herr gab.
Dort hätte Zedekia unter der Lehnspflicht gegenüber dem babylonischen König der Könige gedeihen können. Aber die einzige Bedingung, unter der Gott Frieden und ein gewisses Maß an Wohlstand gesichert hätte, war die Unterwerfung unter das heidnische Reich, wobei er es als Gottes Züchtigung seines Volkes wegen seines unheilbaren Ungehorsams und seiner Könige anerkannte. Zedekia war wie ein Weidenbaum, der aber an großen Wassern stand. Seine Sicherheit lag darin, sich in entschiedener Vasallentreue zu Nebukadnezar zu fügen und sich unter die mächtige Hand Gottes zu demütigen; oder nach dem Bild, das verwendet wird, ein sich ausbreitender Weinstock von niedrigem Wuchs, mit Zweigen, die dem zugewandt sind, der sie gepflanzt hat, und mit ihren Wurzeln unter ihm. So hätte der Weinstock nicht nur Reben und Wurzeln, sondern auch Früchte hervorbringen können.