Behandelter Abschnitt Jer 26
Der zweite Teil des Buches Jeremia beginnt mit Kapitel 26 und zeichnet sich dadurch aus, dass der Prophet eher besondere Umstände aufgreift als den allgemeinen Beweis für die Ungerechtigkeit der Juden und der Nationen, die sie alle in einen Zustand der Unterwerfung unter Nebukadnezar gebracht haben.
Im Folgenden finden wir den moralischen Grund im Einzelnen. „Im Anfang der Regierung Jojakims, des Sohnes Josias, des Königs von Juda, geschah dieses Wort von Seiten des Herrn, indem er sprach: So spricht der Herr.“ Josia war es, in dessen Regierungszeit die Reformation stattfand, wie wir festgestellt haben. Die Reform erweckte in frommen Gemütern eine vorübergehende Hoffnung auf eine dauerhafte gottgewollte Veränderung im Volk, aber das war eine trügerische Hoffnung. In der Tat sollten wir niemals solche Hoffnungen hegen.
Wenn der Verfall erst einmal eingesetzt hat, kann es eine vorübergehende Besserung und Segen geben, und es kann sogar eine Vertiefung des Segens geben, wenn das Böse größer wird. Das Licht, das Gott treuen Einzelpersonen gewährt, mag immer heller werden, wie Lichter an einem dunklen Ort. Aber wenn das Böse erst einmal die Masse derer durchdringt, die den Namen des Herrn tragen, verdirbt es wie ein Sauerteig nur immer mehr. Der Mensch kann seinen Fortschritt nicht aufhalten, und Gott selbst nimmt den Sauerteig nicht weg. Gott lässt zu, dass sich das Böse in seiner Intensität und Anmaßung entwickelt, damit sein Gericht notwendig wird und von denen, die das Geheimnis des Herrn tragen, als solches empfunden wird.
Wenn die Herzen der Gottesfürchtigen unter dem vorherrschenden Bösen gebeugt sind, werden sie wie Jeremia in ein größeres Verlangen nach sich selbst und nach ihrer eigenen Absonderung vom Bösen geführt, und andererseits rufen sie viel ernster zu Gott für ihre Nation, als wenn die Dinge mit äußerer Fairness und Anstand weitergingen. So wird ein doppeltes Gutes bewirkt. Die Kinder Gottes lernen, das Böse mit einem tiefen und heiligen Hass zu hassen, und auf der anderen Seite misstrauen sie sich selbst und schauen von der Erde weg zum Herrn, um Hilfe und Befreiung zu erhalten. Diese beiden Wirkungen werden durch den Geist Gottes besonders in bösen Tagen in ihnen gewirkt.
Die große Krise in der nationalen Geschichte, die vor uns liegt, fällt in die Tage Jojakims, und sie hätte nicht früher eintreten können. Unter Josia gab es eine äußere Zurückhaltung des Bösen. Die Gottesfurcht des Königs wirkte sich auf die Nation aus und brachte ihr einen Segen Gottes ein, aber als sein Sohn Jojakim auf dem Thron saß, fand sich im Volk kein moralischer Grund für die Gunst Gottes.
Daher: „So spricht der Herr: Tritt in den Vorhof des Hauses des Herrn und zu allen Städten Judas, die kommen, um im Haus des Herrn anzubeten, rede alle die Worte, die ich dir geboten habe, zu ihnen zu reden; nimm kein Wort davon weg; vielleicht werden sie hören und ein jeder von seinem bösen Wege umkehren: So werde ich mich des Übels gereuen lassen, das ich ihnen zu tun gedenke wegen der Bosheit ihrer Handlungen“ (Jer 26,2.3).
Dies ist ein neuer Auftrag in einem geänderten Sinn, der dem Propheten erteilt wurde. Jeremia hatte, wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, bereits seine große Berufung erhalten. Jetzt, am Anfang des zweiten Teils des Buches, wendet er sich erneut an das Volk und ermahnt es, kein einziges Wort von dem, was Gott durch ihn zu sagen hat, zu schmälern. „Und sprich zu ihnen: So spricht der Herr: Wenn ihr nicht auf mich hört, dass ihr in meinem Gesetz wandelt, das ich euch vorgelegt habe, dass ihr auf die Worte meiner Knechte, der Propheten, hört, die ich zu euch sende, früh mich aufmachend und sendend (ihr habt aber nicht gehört), so will ich dieses Haus wie Silo machen, und diese Stadt werde ich zum Fluch machen allen Nationen der Erde. Und die Priester und die Propheten und alles Volk hörten Jeremia diese Worte reden im Haus des Herrn“ (V. 4–7).
Wir sehen, dass nach dieser Warnung eine Spaltung im Volk eintrat. Einige hörten auf die Worte Jeremias und verteidigten ihn (V. 17–24); andere verhärteten sich gegen ihn und trachteten ihm nach dem Leben, wobei die Priester am heftigsten waren. „Und es geschah, als Jeremia alles zu Ende geredet, was der Herr geboten hatte, zu dem ganzen Volk zu reden, da ergriffen ihn die Priester und die Propheten und alles Volk und sprachen: Du musst gewisslich sterben“ (V. 8).
Sie waren entrüstet, dass der Prophet ankündigte, dass der Herr seinen heiligen Tempel verderben sollte. Es schien ihnen, als würden seine Warnungen vor dem Gericht des Herrn Segen über die Nation und seine Erwählung Israels zu seinem Volk in Frage stellen. Belegten seine Worte nicht, dass Jeremia weniger Vertrauen und weniger Glauben an den Herrn hatte als sie? „Und als die Fürsten von Juda diese Worte hörten, gingen sie hinauf aus dem Haus des Königs zum Haus des Herrn und setzten sich in den Eingang des neuen Tores des Herrn. Und die Priester und die Propheten redeten zu den Fürsten und zu allem Volk und sprachen: Diesem Mann gebührt die Todesstrafe, denn er hat wider diese Stadt geweissagt, wie ihr mit euren Ohren gehört habt“ (V. 10.11). Die Fürsten von Juda zeigten mehr Gewissen als das Volk oder die Priester oder die Propheten. Die Priester beeinflussten das Volk, wie es gewöhnlich der Fall ist, und die Fürsten, die Männer von unabhängigerem Verstand waren und weniger von den Gefühlen der Masse beeinflusst wurden, waren bis zu einem gewissen Grad von dem Gewicht und der Ernsthaftigkeit der Warnungen des Propheten beeindruckt.
So spricht Jeremia zu allen Fürsten und zum ganzen Volk. Er mahnt jetzt nicht die Priester und die Propheten an; sie waren durch und durch verstockt und dem Bösen verfallen; aber er appelliert an die Fürsten einerseits und an das Volk andererseits, das ja doch einfältig war. Und er sagt: „Der Herr hat mich gesandt, um gegen dieses Haus und gegen diese Stadt all die Worte zu weissagen“ (V. 12). Er weissagte nicht aus einem persönlichen Gefühl heraus. Er wurde nicht von privater Feindseligkeit getrieben. Sicherlich dachten sie nicht, dass Jeremia Gefallen an der Zerstörung seiner eigenen Stadt und des Heiligtums des Herrn finden würde. „Und nun macht gut eure Wege und eure Handlungen, und hört auf die Stimme des Herrn, eures Gottes: so wird der Herr sich des Übels gereuen lassen, das er über euch geredet hat“ (V. 13). Jeremias Prophezeiungen sind an Bedingungen geknüpft, mehr als alle anderen, außer der von Jona. Jona stellte keine Bedingung auf: „Wenn ihr Buße tut, wird Gott Ninive verschonen.“ Aber Jeremia stellt die Bedingung: „und hört auf die Stimme des Herrn, eures Gottes: so wird der Herr sich des Übels gereuen lassen, das er über euch geredet hat“ (V. 13).
Aber der Grund, warum Jeremias Prophezeiungen an Bedingungen geknüpft sind, liegt darin, dass er mehr als alle anderen Propheten auf das bevorstehende Gericht über Israel und die Nationen durch Nebukadnezar anspielt. Und da dieses Gericht zeitlich vorübergehend war, ist die Prophezeiung an eine Bedingung geknüpft. Wenn das Kommen des Herrn Jesus Christus und das Gericht, das Er vollstrecken wird, das herausragende Thema vor dem Geist des Heiligen Geistes bilden, werden keine Bedingungen der Buße ausgedrückt. Dort hat Gott deutlich die Vollendung des schrecklichen Abfalls der Menschen vor Augen – der Juden, der Heiden und, wie wir jetzt hinzufügen können, auch der Christenheit. So wie also das Maß der zu richtenden Bosheit gewiss ist, so ist auch das Kommen des Herrn, um diese Bosheit zu richten, gewiss. Es ist ein klar umrissenes Ereignis, und soweit mir bekannt ist, wird dieses Kommen zum Gericht niemals an Bedingungen geknüpft. Es gibt keine Warnung, wie zum Beispiel: „Wenn ihr umkehrt, wird der Herr nicht kommen.“ Es wäre in der Tat eine Art von Entehrung des Herrn Jesus.
Aber da in diesem Fall nur ein irdisches Werkzeug eingesetzt werden sollte, um die Gerichte zu verhängen, können wir den Herrn gut verstehen, wenn Er sagt: „Wenn ihr Buße tut, werde ich nicht diesen Nebukadnezar von Babylon schicken, um euch niederzuschlagen.“ Das ist, wie mir scheint, der Grund, warum dieses Merkmal bei Jeremia häufiger vorkommt als anderswo. Außerdem ist es zwar völlig falsch, Jeremias Prophezeiungen ausschließlich auf die Tage Nebukadnezars anzuwenden, aber es bleibt wahr, dass der historische Nebukadnezar in diesem Buch mehr im Vordergrund steht als irgendwo sonst in der Schrift. „Und die Fürsten und das ganze Volk sprachen zu den Priestern und zu den Propheten: Diesem Mann gebührt nicht die Todesstrafe; denn er hat im Namen des Herrn, unseres Gottes, zu uns geredet. Und Männer von den Ältesten des Landes erhoben sich und sprachen zur ganzen Versammlung des Volkes und sagten: Micha, der Moraschtiter, hat in den Tagen Hiskias, des Königs von Juda, geweissagt und zum ganzen Volk von Juda gesprochen und gesagt: So spricht der Herr der Heerscharen: ,Zion wird als Feld gepflügt werden, und Jerusalem wird zu Trümmerhaufen und der Berg des Hauses zu Waldeshöhen werden‘“ (V. 16–18). Was geschah mit Micha? Haben sie ihn als Verräter behandelt? Wurde Micha zum Tod verurteilt? Nein, wurde er nicht.
Nun war dieses Beispiel aus Hiskias Regierungszeit umso auffälliger und eindrucksvoller, weil Micha die Zerstörung Jerusalems und des Tempels in den Tagen eines guten Königs prophezeit hatte (Jer 3,12). Sicherlich war seine Prophezeiung daher überraschender als Jeremias Vorhersage derselben Sache in den Tagen eines schlechten Königs. Die Verteidigung des Propheten war also vollständig. „Haben denn Hiskia, der König von Juda, und ganz Juda ihn getötet? Hat er nicht den Herrn gefürchtet und den Herrn angefleht, so dass der Herr sich des Übels gereuen ließ, das er über sie geredet hatte? Und wir wollen eine so große Übeltat gegen unsere Seelen begehen“ (V. 19).
Auf den Fall Michas folgte ein weiterer. Urija, der Sohn Schemajas aus Kirjat-Jearim, der im Namen des Herrn gegen die Stadt Jerusalem und das Land Juda prophezeite. „Und als der König Jojakim und alle seine Helden und alle Fürsten seine Worte hörten, suchte der König ihn zu töten. Und als Urija es hörte, fürchtete er sich und floh, und er kam nach Ägypten. Da sandte der König Jojakim Männer nach Ägypten, Elnathan, den Sohn Akbors, und Männer mit ihm nach Ägypten. Und sie brachten Urija aus Ägypten und führten ihn zu dem König Jojakim; und er erschlug ihn mit dem Schwert und warf seinen Leichnam auf die Gräber der Kinder des Volkes. Doch die Hand Achikams, des Sohnes Schaphans, war mit Jeremia, dass man ihn nicht in die Hand des Volkes gab, um ihn zu töten“ (V. 21–24). Während also die größte Gefahr bestand, dass Jeremia den Märtyrertod erleiden würde, wie es bei Urija der Fall war, wachte der Herr über ihn. Es war eine Ehre für Urija, zu sterben, aber es war eine Gnade für Juda, dass Jeremia nicht hingerichtet wurde.