Behandelter Abschnitt Hld 8,1-14
Das Schlusskapitel scheint den Gegenstand und das Prinzip des Liedes zusammenfassend darzustellen, nachdem ihre Zuneigung völlig zu Tage getreten ist, von der der Sprecher wünscht, sie möge ohne Tadel und in aller Reinheit befriedigt werden, wie es gewiss sein wird, wenn sie die Braut des Messias wird. Kein Wunder, wenn ihr Herz nach einem Rückblick auf ihr schmerzliches Fehlverhalten in der Vergangenheit und auf seine einst verachtete Herrlichkeit eine erneute Bestätigung brauchte.
O wärest du mir wie ein Bruder, der die Brüste meiner Mutter gesogen hat! Fände ich dich draußen, ich wollte dich küssen; und man würde mich nicht verachten. Ich würde dich führen, dich hineinbringen in das Haus meiner Mutter, du würdest mich belehren; ich würde dich tränken mit Würzwein, mit dem Most meiner Granatäpfel.
Seine Linke sei unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasse mich.
Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, dass ihr weder weckt noch stört die Liebe, bis es ihr gefällt!
Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich auf ihren Geliebten stützt? Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt. Dort hat mit dir Wehen gehabt deine Mutter, dort hat Wehen gehabt, die dich geboren hat.
Lege mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegelring an deinen Arm! Denn die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahs. Große Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses für die Liebe geben wollte, man würde ihn nur verachten.
Wir haben eine Schwester, eine kleine, die noch keine Brüste hat; was sollen wir mit unserer Schwester tun an dem Tag, da man um sie werben wird? Wenn sie eine Mauer ist, so wollen wir eine Zinne aus Silber darauf bauen; und wenn sie eine Tür ist, so wollen wir sie mit einem Zedernbrett verschließen.
Ich bin eine Mauer, und meine Brüste sind wie Türme; da wurde ich in seinen Augen wie eine, die Frieden findet.
Salomo hatte einen Weinberg in Baal-Hamon; er übergab den Weinberg den Hütern: Jeder sollte für seine Frucht tausend Sekel Silber bringen. Mein eigener Weinberg ist vor mir; die tausend sind dein, Salomo, und zweihundert seien den Hütern seiner Frucht.
Bewohnerin der Gärten, die Genossen horchen auf deine Stimme; lass sie mich hören!
Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche auf den duftenden Bergen! (V. 1‒14).
Es zieht sich durch den Geist der Prophetie, wie im ganzen Alten Testament und wieder in der Offenbarung, nachdem das gegenwärtige Erweisen der Gnade vorüber ist und die verherrlichten Gläubigen im Himmel gesehen werden, von denen Gott etwas Besseres voraussah. Das Zeugnis Jesu kehrt, wie uns gesagt wird, noch einmal zu jenem prophetischen Charakter zurück, der nicht anders als von alters her sein konnte, bevor Er kam und die Verwerfung vonseiten seines eigenen Volkes erlitt, darin aber auch die Erlösung vollbrachte und als der Erstgeborene aus den Toten in der Höhe Haupt des Leibes, der Versammlung, wurde. Aber Er hat infolgedessen den Heiligen Geist ausgegossen, der in ihr als die Kraft der tatsächlichen Beziehung wohnt und der Gemeinschaft in einer Weise, die jenseits des Beispiels ist, außer seiner eigenen, als Er hier auf der Erde war: Nur dass Er sie als das Siegel der persönlichen Annahme hatte, wir allein durch Gnade durch sein Werk und in Ihm als die Geliebten angenommen sind. Aber das erneuerte Juda, der gottesfürchtige Überrest, wird prophetisch und durch manch notwendige Lektion der Erfahrung auf den Platz in der Liebe des Messias schauen, der vorherbestimmt ist. Und was folgt, beschreibt, wie dies geschehen wird.
Nach einer letzten Aufforderung an die Töchter Jerusalems gibt es eine neue Vision der Braut, die aus der Wüste heraufkommt und sich auf ihren Geliebten stützt. Einst war das Volk aus der Wüste heraufgekommen, nicht ohne Wunder göttlicher Güte und Macht; aber alles war vergeblich, denn sie stützten sich nicht auf den Herrn oder seinen Christus, sondern auf sich selbst und das Gesetz, was für den sündigen Menschen, und solche waren sie, nur Tod und Verdammnis bedeuten kann. Ganz anders wird es sein, wenn die kommende Generation daraus hervorgeht und sich auf den Geliebten stützt.
Was bewirkt eine solch große Veränderung? „Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt. Dort hat mit dir Wehen gehabt deine Mutter, dort hat Wehen gehabt, die dich geboren hat“ (V. 5). Wie in Hohelied 2,3 bemerkt wurde, ist mit diesem Baum Christus gemeint; und Er hat sie aus ihrem langen Schlummer aufgeweckt und ihr das Leben gegeben, das allein das Leben Gottes ist (vgl. Mich 5,3). Erst dann wird der Rest seiner Brüder zu den Kindern Israels zurückkehren. Die Verwerfung des Herrschers, des geschlagenen Richters Israels, war für die Zeit verhängnisvoll: Sie wurden deshalb aufgegeben, und Gott führt seine himmlischen Ratschlüsse in Christus und der Versammlung aus, bis zu dem Tag, an dem Israel die für den Messias bestimmte Braut hier auf der Erde gebiert, und das jüdische Bindeglied neu gebildet wird, nicht unter dem Gesetz, das Zorn bewirkt, sondern durch den Glauben, damit es der Gnade gemäß sei und in Gottes Macht stehe und nicht aus menschlicher Schwäche verderbe.
Dann wird in der Tat das Gebet erhört und Zion als Siegel auf das Herz und den Arm des Messias gesetzt werden: Wie stark und eifersüchtig ist seine Liebe! Das ist die Antwort darauf an jenem Tag. Tod und Scheol haben nur seine Liebe bewiesen; die Flammen Jahs haben sie erprobt, Wasser und Fluten konnten sie nicht auslöschen, nicht gekauft und über jeden Preis erhaben, so dass alles, was der Mensch geben könnte, im Angesicht dieser Liebe völlig verachtenswert ist.
Wer aber ist die „kleine Schwester“ (V. 8–10), wenn Jerusalem so erneuert wird? Es ist das Haus Israel, wie es scheint; denn sie werden später ebenfalls die Segnung empfangen. Sie haben wegen ihres Götzendienstes gelitten, wie später Juda; aber sie sind nicht wie Juda aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, um Christus abzulehnen, noch werden sie den Antichrist annehmen. Folglich nimmt das Handeln der Gnade mit Israel nach und nach nicht den tiefen und vergeltenden Charakter an, der das Teil Judas sein wird (vergleiche dazu das Vorbild von 1. Mose 42-45, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gibt, insbesondere Ruben auf der einen und Juda auf der anderen Seite).
Die Anspielung auf Salomo und seinen Weinberg in Baal-Hamon wird damit deutlich. Als Herr der Heerscharen wird der Friedenskönig an jenem Tag seine weit ausgedehnte Fruchtsphäre an seine Diener, die Hüter, vermieten lassen, und die Könige von Tarsis und der Inseln werden Tribut zahlen; die Könige von Scheba und Seba werden Geschenke bringen; ja, alle Könige werden vor Ihm niederfallen, alle Nationen werden Ihm dienen. Zweifellos wird die Braut ihren besonderen Weinberg haben, der gehütet wird (vgl. Hld 1,6); aber den Ertrag wird sie dem Messias zu Füßen legen, was auch immer der Gewinn anderer dabei sein mag. Die Braut missgönnt anderen die Stimme des Bräutigams nicht mehr; sie wird zu sehr in seiner Liebe ruhen, um daran zu zweifeln; aber sie wünscht, sie an jenem Tag selbst zu hören. Die letzten Verse wiederholen den Ruf nach dem Kommen des Geliebten.
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P.S. Es mag den Leser interessieren zu wissen, dass der Codex Sinaiticus, einer der ältesten erhaltenen Zeugen der Septuaginta, die ihrerseits die älteste Version des hebräischen Originals ist, das Lied in vier Abschnitte unterteilt, die jeweils in kleinere Teile untergliedert sind, die kurz die Sprecher und Umstände im Verlauf angeben.
Die vier Abschnitte sind:
1,15–3,5
3,6–6,3 und
6,3–8,13
Der Leser, der neugierig auf die Ansicht des Kopisten ist, kann das alles in der Nr. des Journal of Sacred Lit. für April 1865 nachlesen. Es mag hier genügen, als Beispiel die Überschriften des kleineren Teils unter § 1 (Hld 1,1-14). zu geben:
Vers 2, die Braut;
Vers 4, die Braut zu den Jungfrauen;
Vers 4, die Jungfrauen sprechen, und verkünden dem Bräutigam wieder den Namen der Braut;
Vers 5, die Braut;
Vers 7, die Braut zu Christus, dem Bräutigam;
Vers 8, der Bräutigam zu der Braut;
Vers 10, die Jungfrauen zur Braut;
Vers 12, die Braut zu sich selbst und zu dem Bräutigam.
Es ist daher klar, dass dieses bedeutende Dokument in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts die Anwendung des Bräutigams auf Christus bezeugt und nicht auf Salomo, noch weniger auf einen Hirten des Nordreichs (Hitzig) oder irgendjemand anderen. Das Lied wurde dann zumindest von einigen ohne Zögern ehrfürchtig und gläubig gelesen.
Aber es gibt eine andere Schlussfolgerung, die, wenn sie stichhaltig ist, noch bemerkenswerter ist, aus der Überschrift von Kapitel 4,16: „die Braut bittet den Vater, dass ihr Bräutigam herabkomme“; das wird so verstanden, dass es auf die jüdische Erwählung als die Braut im Urteil des Kopisten hinweist. Nun war unter den so genannten Vätern in jenem Zeitalter und seither die Vorstellung vorherrschend, sie mit der Kirche zu identifizieren, obwohl es, wie Theodoret uns wissen lässt, auch damals nicht an Individuen fehlte, die ihren geistlichen Bezug leugneten. Origenes, gelehrt, aber unsicher und sogar ungezügelt, hatte gelehrt, dass der Bräutigam das Wort Gottes ist und die Braut entweder der einzelne Gläubige oder die Kirche. Die alten Juden hielten an seinem allegorischen Charakter fest, wobei Gott der Bräutigam und Israel die Braut war. Hätten sie an den Messias (der Gott ist) geglaubt und den gottesfürchtigen jüdischen Überrest der Zukunft gesehen, den Gegenstand seiner wiederherstellenden Liebe am jüngsten Tag, wäre es genauer gewesen. Aber das wäre die Wahrheit gewesen, die in dem verworfenen, aber verherrlichten Christus bekannt ist, und unvereinbar mit dem Judentum, wie es war und ist.
Nur der Christ erkennt die Wahrheit, denn er hat Christus und das Leben in Ihm und den Heiligen Geist, der in alle Wahrheit einführt. Ach, wie viele, die diesen Namen tragen, geben seine Vorrechte auf und verfallen in einen Skeptizismus, der schuldiger ist als das Heidentum oder Judentum! Es ist der Geist des Abfalls, der im Vormarsch ist.