Ein Traum, aber nichts Träumerisches.
Ein Sprichwort sagt: Träume sind Schäume. Das ist gewiß in den meisten Fällen wahr, und doch nicht immer. Wir wissen z. B., welchen Einfluß ein schweres Abendbrot auf das Traumleben hat, oder daß viele, die des Tages eine Leiche sahen, in der Nacht von ihr träumten. Ehe die Bibel Gemeingut der Menschen war, bediente sich Gott öfters der Träume (Hiob 33,15). So redet der erste Traum der Schrift über Israels Zukunft (l. Mose 15), und der zweite bringt die herzerquickende Übergabe des Jakob, als Folge des Traumes (1. Mose 28). Man denke an die Träume Josefs, Daniels, die Nachtgesichte Sacharjas, und wie sie in Erfüllung gingen. Auch das Neue Testament bringt Träume, und das ausgerechnet aus der Geschichte des Herrn (Mt 2,13,19). Viel auf Träume zu geben, ist gefährlich, aber sie ganz zu verwerfen, ist auch nicht recht; denn das Wort: "Eure Ältesten werden Träume haben", ist ein Teil der Pfingstverheißung (Joel z. 28). Obiger Vers 19 enthüllt einen Traum aus dem wichtigsten Zeitpunkt der Weltgeschichte, und an diesem wollen wir bestimmt nicht vorübergehen.
I. Gott hat auf mancherlei Weise geredet (
Das ist besonders wahr in Verbindung mit dem Tode des Herrn. Daneben
redete Gott auf verschiedene Weise und zu allen Beteiligten. So z. B.
durch den machtvollen Einzug in Jerusalem, die Auferweckung des Lazarus,
durch Erdbeben und Finsternis, und in diesem Vers durch einen Traum.
Wohl starb der Herr nach den Schriften, aber alle Beteiligten sollten
vor diesem Verbrechen ernstlich gewarnt werden. So wurde Judas gewarnt
(Mt 26,24), ferner jene Schar (Mt 26,55), die Hohenpriester (
II. Die einzige Verteidigungsstimme.
Diese war von einer Frau! Zwar sind da jene Töchter Jerusalems, die den Herrn beweinen, aber wo sind a11 die Nachfolger? Wo ist Petrus, der mit Ihm sterben wollte, und wo blieben jene Glieder des Hohen Rates, Nikodemus und Josef von Arimathia? Da ist keiner genannt, der gegen die Kreuzigung protestiert hätte. Doch siehe, da tritt plötzlich eire einfache Magd in den Gerichtssaal. Sie ist eine Beauftragte und soll mit einer eiligen Botschaft zum Richter gehen, ihn über die Person des Verurteilten aufklären und Fürsprache für Ihn einlegen.
III. Ich habe viel gelitten im Traume um Seinetwillen.
Frau Pilatus erging es wie einst Daniel in seinen Nachtgesichten, auch sie war sehr beunruhigt. Worin ihre Leiden bestanden, wissen wir nicht. Die Tatsache jedoch, daß sie in ihrer Botschaft "...diesem Gerechten" hervorhebt (nicht etwa diesem Liebenden oder Demütigen), zeigt, daß der Schwerpunkt des Traumes nach dieser Seite hin lag. Schaute ihr Auge Ihn gar als Richter, und ihren Mann unter den zu Richtenden? Erschrocken wachte sie auf, rief ihre Magd und erzählte ihr den Traum. Auch diese ist tief ergriffen, und beide sind sich eins, sofort zu handeln und Pilatus ernstlich zu warnen.
IV. Der Zeitpunkt der Warnung.
Eile tat not, aber kein Augenblick war günstiger als jener. Zum rechten Warnen gehört der rechte Zeitpunkt. Die Magd erschien gerade, als Christus und Barabbas vor der Volksmenge standen und alles in höchster Spannung war. Die kurze, dringende Botschaft, die sie überbrachte, wurde angehört. Frau Pilatus hatte offenbar den Traum erst, nachdem ihr Mann zur Verhandlung gegangen war, sonst hätte sie ihn ihm selbst erzählt. Da die Römer Morgenträume als bestimmt eintreffend hielten, mußte diese Botschaft Pilatus sehr bemühen. "Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten" machte Pilatus viel zu schaffen. Frau Pilatus sagte nicht: befriedige die Juden, indem du Jesus etwas strafst, nein, sie sagt: "Habe du nichts zu schaffen. Es ist, als sage sie: Denke an dich, an deine Stellung, an dein Weib, und daran, was es bedeutet, einen Unschuldigen kreuzigen zu lassen. Pilatus sollte vor diesem furchtbaren Verbrechen bewahrt werden, und da die dringende Warnung noch zur rechten Zeit kam, steigerte das seine Verantwortung. Die Warnung kam an ihn wie jenes "Mene Tekel" an Belsazar, und gewiß zitterte er ebenso wie jener. Wie treu ist Gott, und noch heute warnt Er Menschen vor dieser Sünde.
V. Der traurige Mißerfolg.
Schwer bedrängt kehrte Pilatus nach kurzer Unterbrechung zur Verhandlung zurück. Die Juden waren indessen nicht träge und peitschten das Volk auf. Pilatus war dazu im schlechten Ruf. Viele Klagen gingen über ihn nach Rom. Man denke nur an sein angerichtetes Blutbad in Lk 13. Die Bemerkung, daß, wenn er diesen loslasse, er nicht mehr des Kaisers Freund sei, traf ihn tief. Daneben aber tönte es in seinem Herzen: "Habe du nichts zu schaffen mit diesem Gerechten." Die Folgen des Sündenlebens sind immer schwer. Gern hätte er Jesus frei gesprochen, wenn er sich nicht selbst dadurch verklagt hätte. Die Sünde wird stets den Menschen schwächen. So verurteilt Pilatus den Herrn mit offenen Augen. Wohl sagt er: "Ich bin schuldlos an dem Blute dieses Gerechten", aber das entschuldigte ihn nicht. Er wußte, daß am Herrn keine Schuld war, und wäscht sich vor dem Volk die Hände, aber das wusch die Tat nicht weg. Hoffen wir, daß er sich später Herz und Hände in Besserem als Wasser gewaschen hat