Glückselig sind die Barmherzigen. Mt 5,7.
Wir sahen bereits, daß die Seligpreisungen einer Leiter gleichen, die mit jener untersten Stufe, "glückselig sind die Armen im Geiste", anfängt. Diese erste Seligpreisung ist und bleibt Ausgangspunkt aller weiteren. Sie sieht zuerst ihr ganzes Elend und Zukurzkommen Gott gegenüber, und aus diesem fließt dann das Erbarmen dem Nächsten gegenüber. Es ist hier ähnlich wie bei dem Gesetz, das auch zwei Grundzüge trägt, nämlich Liebe von ganzem Herzen zu Gott und zu dem Mitmenschen. Gott, der sich eines Armen im Geiste angenommen hat, hat ihm dadurch seine Nächstenpflicht tief ins Herz gelegt. Die Hungernden nach Gerechtigkeit Gottes streben danach, den Nächsten zu lieben.
I. Was ist Barmherzigkeit?
Barmherzigkeit ist ein tiefes Mitgefühl, ein tiefer Schmerz, den der Herr beim Anblick der Not und des Elends des Menschen empfindet. Das Herz wird tief bewegt davon, und fühlt des andern Schmerz wie seinen eigenen. Barmherzigkeit ist Mitfühlen, Mittragen und Mitleiden, vor allem aber Mithelfen. Erbarmen und Liebe sind das Herz wahren Christentums. Bloße Wohltätigkeit oder Humanität sind nicht in der Geschichte von David und Mephiboseth (2Sam 9).
II. Das große Beispiel der Barmherzigkeit.
Dieses ist und bleibt Jesus. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter erblicken wir Ihn selbst. Er ist der Samariter, der sich des Ärmsten annimmt. Sein Verhalten beim Anblick von Leiden, Hunger, Not und innerer Bedürfnisse offenbaren uns Seine Barmherzigkeit. Dabei konnte Er sich völlig selbst vergessen. Eigene Müdigkeit und Hunger galten nicht als Entschuldigung, Sein "Ich muß wirken" sehen wir besonders nach dieser Richtung ausgeprägt. Von Ihm lernte Paulus, der sagte: "Ich nehme nicht Rücksicht auf mein Leben" (Apg 20,24).
III. Die Wurzel der Barmherzigkeit.
Sie befindet sich nicht im natürlichen Herzen, sondern sie ist etwas durch den Heiligen Geist Angezogenes (Kol 3,12). Sie ist nur da, wo das steinerne Herz beseitigt wurde. Die Welt kennt zwar auch gewisse Güte, Freundlichkeit und Barmherzigkeit, aber keine christliche Barmherzigkeit. Unsere modernen Wohlfahrtseinrichtungen verschiedenster Art sind Handlungen des natürlichen Menschen, um auch seine Tugenden zu zeigen und sich zu rühmen. Dazu ist gezwungenes Geben keine Barmherzigkeit.
IV. Die Tätigkeit der Barmherzigkeit.
Der ganze Mensch geht darin auf. Der Verstand plant die Werke der Liebe, und die Zunge verwendet sich in ihrem Dienst. Die Hände schaffen fleißig das Gute, und die Füße eilen dem Dürstigen zu Hilfe Die Barmherzigkeit eilt allen zu Hilfe. Sie zeigt sich:
a) denen, die sich in äußerer Not befinden.
Das sind die Hungrigen, Nackten, Heimatlosen, Waisen, Witwen und die
Kranken. Wir fertigen sie nicht nur mit einem warmen Wunsch ab (
b) denen mit inneren Bedürfnissen. Sie hilft nicht nur dem äußeren Menschen, sondern denkt vor allem an seine inneren Bedürfnisse. Innerlich bewegt war der Herr über jene, die wie Schafe ohne Hirten waren. Wir können nicht am Gefallenen, am Gestrandeten vorübergehen, und noch weniger zu Gericht über Irrende sitzen, sondern wir helfen ihnen zurecht (Gal 6,1).
c) denen, die die Widersacher der Kinder Gottes sind (Mt 5,44-45). Hier zeigt sich die höchste Auswirkung der Barmherzigkeit. Wir sehen sie besonders beim Herrn selbst am Kreuz (Lk 23,34). Stephanus handelt ganz ähnlich so (Apg 7,60). Auch Paulus bittet für solche (2Tim 1,16-18). Und wie lieblich ist das Bild Josefs, der hinging, seine Brüder zu suchen, die ihn so haßten (1. Mose 37,16) David schonte Saul und dem Flucher Schimei vergalt er nicht Böses mit Bösem. Reichlich ließ ihm Gott Barmherzigkeit zuteil werden, als er selbst in tiefster Not war (Ps 51)
V. Die Gründe christlicher Barmherzigkeit.
Sie ist ein Gebot. "Seid barmherzig wie Euer Vater" (Lk 6,36). Der Herr selbst hat uns im Gleichnis des Samariters gezeigt, wer unser Nächster ist und wie wir an ihm handeln sollen, hingehen und dasselbe tun.
1. Weil wir ständig Sein Erbarmen benötigen. Seine Erbarmungen umgeben uns auf Schritt und Tritt. Was würde aus uns, wenn Er Seine Güte plötzlich zurückzöge? Weil wir so von Seinem Erbarmen abhängen, üben wir aus Liebe getrieben selbst Barmherzigkeit. Es ist Seiner Erbarmungen wegen, daß wir nicht gar aus sind (Klgl 3,22).
2. Unser Bekenntnis verpflichtet uns dazu. Wir bekennen, Ihm zu folgen und sind darum schuldig zu wandeln wie Er. In allen Seinen Handlungen und Wegen sehen wir nur Liebe zum andern (1Joh 2,6).
3. Es ist die Bedingung, um dereinst selbst Erbarmen zu finden. Wer kein Erbarmen dem andern erzeigt, wird Gericht ohne Erbarmen finden (Mt 6,14-15; 18,32).
4. Weil Erbarmen üben ein großer Segen ist. Geben ist seliger als Nehmen. Welche Freude erfüllt uns stets, wenn wir andern dienen können. Welche Wonne, die Freudentränen Geretteter zu sehen und den neuen Wandel Wiederhergestellter.
VI. Der Lohn christlicher Barmherzigkeit.
Sie werden Barmherzigkeit erlangen, sichert der Herr zu. Diese Verheißung ist sehr weitgehend und umschließt alle Liebestätigkeit.
Sie erlangen Barmherzigkeit an jenem Tage; denn Er wird Sie dereinst öffentlich anerkennen (Mt 25,34-40). Er vergißt kein Liebeswerk der Seinen (Heb 6,10).
Sie sind mit einem schönen Namen genannt. Barmherzig genannt zu werden, heißt seinen Namen mit dem des Vaters der Erbarmungen, verbunden zu sehen (2Kor 1,3; Ps 112,9).