Behandelter Abschnitt Dan 6,11-19
Dan 6,11-19 - Die Löwengrube
Beglückt und voller Schadenfreude eilten die Feinde zum König und beschuldigten den Propheten der Übertretung des neuen Gesetzes. Sie verloren keine Zeit und beantragten vor allem die sofortige Aburteilung. Während Daniel noch auf seinen Knien lag und sich wie ein David, als man ihn steinigen wollte, im Herrn stärkte (1Sam 30,6), bliesen die Räte dem König die Ohren schont voll.
Die Anklage (Vers 12-16). Wie schlau die Gegner es anstellten! Sie wiesen nach Vers 12-13 zunächst nur auf einen namenlosen Gesetzesübertreter hin; und wollten, wie man sagt, zwei Fliegen mit einem Schlag fangen ‑ den König und Daniel. Kaum hatten sie des Königs Urteil vernommen, nannten sie Daniel mit Namen. Man kann sich nun vorstellen, in welche innere Qual sie damit den König gebracht hatten und wie sichtlich bewegt er war (Vers 15). Doch, das Wort des Königs gilt! „Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, welches unwiderruflich ist.“ Wird er nun den Buchstaben erfüllen, oder ihre List durchkreuzen? Als König hatte er sicherlich auch das Recht, Gesetzesübertreter zu begnadigen. Schwer mußte der König die Folgen seines Hochmuts und seiner Eitelkeit tragen, denn diese Versuchungen hatten ihn zweifellos veranlaßt, das Gebetsverbot in Kraft zu setzen. Die Fürsten ließen dem König keine Ruhe, sondern drängten auf ihn ein, wie die Hohenpriester und Schriftgelehrten einst auf Pilatus, als er gedachte den Herrn frei zu geben, andererseits aber ständig zum Urteil der Kreuzigung getrieben wurde. Beide, Pilatus und Darius wurden letzten Endes aus Feigheit und Nachgiebigkeit zum Mörder. Die Feinde Daniels kannten kein Pardon, ihr Haß zu dem Frommen war entschieden größer als alle angebliche Liebe zu ihrem schwachen König, den sie moralisch überwältigt hatten. Noch nie hatte Darius eine Unterschrift von solcher Folgenschwere, wie die des neuen Gesetzes, gegeben. Er mußte, im Gewissen geschlagen, wie Pilatus bekennen: „,Ich finde keine Schuld an ihm.“ ‑
Ein grausamer Befehl (Vers 16). „Dann befahl der König, daß man Daniel hole und in die Löwengrube werfe.“ Welch ein wehmütiger Anblick ‑ Daniel, der erste Mitarbeiter des Reiches, zusammen mit dem König und seinen Räten schreiten zum Löwengraben! Dieser greise Prophet, der so vielen Staatsakten beiwohnte, dessen Weisheit und Demut so oft bewundert wurden, ging wie ein Verbrecher zur Todesstätte. Der Gang der Schmach nach dem Rat der Gottlosen ‑aber der Triumphzug nach dem Rat des Höchsten, der regiert. Ja, der Glaube ist der Sieg, der den Tod verachtet! Und König Darius, wie ist es dir zumute? Lügst du dir auf diesem schweren Gang vor: ich bin unschuldig an dem Blute dieses Gerechten, wie später Pilatus? Kannst du als König, des Ansehens wegen, nicht um Verzeihung bitten, und aus Daniels Mund ein mitleidvolles „Vergeben“ ermöglichen? ‑Am Ende rafft sich der König doch noch zu einem schmerzlichen, entlastenden Abschiedsgruß auf; stellt dem Propheten das denkbar beste ,Zeugnis aus, und wünscht ihm Errettung aus dem Rachen der Löwen: „Dein Gott, welchem du ohne Unterlaß dienst, Er möge dich retten!“ (Vers 16). Dieser Ausspruch war im gewissen Sinne eine Ermunterung für Daniel, weil der König, wenn auch schwach, doch an die mögliche Rettermacht des Gottes Israels glaubte. Die Feinde hatten Daniel wegen Gottesglauben mit List überliefert, und gerade auf diesen Glauben stellte nun Daniel felsenfest ab. Sollte derselbe Gott, der seine Freunde aus des Feuers Glut errettete, an Macht verloren haben? Niemals! Nachdem nun das Furchtbare geschehen und Daniel in den Löwengraben geworfen war, versiegelte der König selbst den Zugang, damit in der Sache Daniels nichts verändert würde. Das war nicht von ungefähr, er kannte die Bosheit der Feinde. Sie wären imstande gewesen, ihn zu töten, nachdem Gott ihn bewahrt hatte. Hier möchten wir eine kleine Parallele ziehen. Daniel wurde aus Neid lebend in die Grube geworfen; die Öffnung derselben mit einem Stein verschlossen und versiegelt (Vers 18). Gott selbst verteidigte Seinen Diener und hat ihm Seinen Engel (Einzahl) zum Schutze gesandt. Daniel überwand im Vertrauen zu seinem Gott die Schrecken des Todes und wurde siegreich hervorgeholt. ‑ In noch größerem Maße war der Sieg unseres Herrn Jesus Christus, als er ebenfalls aus Neid überliefert wurde. Schon getötet (also ohne jede Hoffnung auf Leben) wurde Sein heiliger Leib in die Gruft gesenkt, die Öffnung derselben ebenfalls mit einem Stein verschlossen und versiegelt (Mt 27,66). Gott verteidigte gleichsam den Leib Seines Sohnes; denn er ließ nicht zu, daß Sein Heiliger die Verwesung sehe (Psalm 16,10). Siegreich überwand der Herr Jesus den Tod selbst und ging triumphierend, ohne Menschenhilfe aus der Gruft hervor. Ein Engel beschützte die Gruft.
Zwei gewaltige Gegensätze. Welche meinen wir? Daniel im Löwengraben und der König in seinem Palast! Die Schrift zeigt uns beider Ergehen. Daniel, der stets innige Gemeinschaft mit Gott pflegte, erlebte sie in bisher nicht gekannter Weise. ‑Der Herr öffnete Daniel die Augen und er sah den Engel, der der Löwen Rachen verstopfte. Die Feinde werden schon dafür gesorgt haben, daß die Löwen recht hungrig waren. Gott jedoch sparte den Hunger der Löwen für Daniels Feinde auf! Daniel selbst war sich klar, daß wenn Gott nicht eingreife, er von den Löwen verzehrt werde. Und befreite ihn Gott nicht, so wäre es dennoch eine Befreiung gewesen, nämlich die, durch den Tod zu jener besseren Auferstehung zu gelangen. Daniel war von den Feinden bitter gehaßt, von Gott aber heiß geliebt und vom Engel treu bewahrt. Nie hätte Daniel jene Nacht in seinem Leben missen wollen, sie hat gewiß; zu den denkwürdigsten gezählt. Gott ersparte Daniel so wenig die harten Wege wie Johannes dem Täufer, oder dem Herrn Jesus selbst, weil Er mit jedem einzelnen Seine eigenen Wege und Gedanken hat. Sollte Gott u n s harte Wege führen, so wollen wir genau wie ein Daniel mit der Gegenwart Gottes rechnen und ihm den Ausgang überlassen. Alle Wege Gottes sind heilsam, ob sie, wie bei Daniel, zur Befreiung, oder wie bei andern, zum Tode führen. Daniel wußte, als er im Graben ankam, daß er unter dem Schirm des Höchsten stand und daß der Engel des Bundes die umgibt, so Ihn fürchten (Psalm 34,8; 91,1 f.).
Und was war mit dem König in seinem Schloß? Beachten wir, wie er die Nacht zubrachte (Vers 18). Mag sein, daß er schon auf dem Heimwege seine Feigheit bereute und tief bedauerte, den Feinden Daniels nachgegeben zu haben. Er kannte das Gebot: „Du sollst nicht töten“, und das besonders in diesem Falle, da er die Hintergründe durchschaut hatte. Alle Hofveranstaltungen wurden abgesagt. Der König brachte die Nacht mit Fasten zu. Der sonst so hell erleuchtete Palast lag wie in dunkler Trauer. Der König hatte nun Zeit, über diese seine schwere Sünde, als Folge seines Hochmuts nachzudenken. Er sah ein, wie unrecht er seinem ergebenen Freunde getan hatte. Ohne allen Zweifel war die Nacht sehr lang für ihn, denn schon mit der Morgendämmerung eilte er zur Grube. Es trieb ihn einfach zu Daniel. Gewiß hatte Daniel im Löwengraben in Gemeinschaf t mit einem Engel die weit bessere Nacht, als der König in seinem Palast. „Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“
Und nun noch einen Blick auf die Feinde Daniels. Wie werden sie jene Nacht verbracht haben? Im Schwelgen und Festen, in Triumphesfeiern über den lästigen Frommen! Möglicherweise hatten sie schon darüber beraten, wer nun den leeren Präsidentensitz besetzen sollte? Oder hatte gar einer mit bangem Ahnen an die merkwürdige Geschichte vom Feuerofen gedacht? Mußte einer am sicheren Tode des Propheten zweifeln? Die Gottlosen haben keinen Frieden, ihre Freuden sind von kurzer Dauer, ihr Sieg wird immer zur Niederlage. Aber alle, die von Herzen dem Herrn vertrauen, sind nie im Nachteil, wie groß auch der Jubel der Feinde vorübergehend sein mag.
Aus Keller: „Der Prophet Daniel“, entnehmen wir noch folgendes: „ Viel hat die bildende Kunst sich gerade mit diesem Kapitel beschäftigt. Schon in der älteren deutschen Malerei finden wir aus den Leiden Daniels unter Darius Bilder voll zarter Empfindung und tiefer, geheimnisvoller Bedeutung, und zwar fast immer in Beziehung zum Erlösungsleiden unseres Heilandes. Die schönste Darstellung aber bietet uns ein gottbegnadeter Künstler unserer Zeit, der am 5. Juli 1887 verstorbene Maler Carl Gottfried Pfannschmidt, in seiner im Jahr 1879 veröffentlichten Bilderfolge: ,Das Leiden des Propheten Daniel'. Es sind sechs Bilder. Das erste Blatt: Der auf seinem Söller betende und von seinen Feinden belauschte Daniel ‑ ein weissagendes Vorbild des in Gethsemane betenden und dabei von Judas verratenen Erlösers. Das zweite Blatt: Daniel gefesselt vor dem König Darius, der ihn so gern freisprechen möchte, und schließlich ihn doch zum Tode verurteilen muß ‑ wie Jesus gefesselt vor Pontius Pilatus, der auch alles aufbietet, ihn nicht verurteilen zu müssen, und ihn am Ende doch in den Kreuzestod schickt. Das dritte Blatt: Daniel wird dem Tode in die Löwengrube übergeben ‑ wie Jesus dem Kreuzestode. Das vierte Blatt: Der Stein wird versiegelt, der Stein vor der Pforte der Löwengrube ‑ wie der Stein am Grabe Christi. Das fünfte Blatt: in der Morgenfrühe eilt der König zum Graben und findet Daniel lebendig wie die Frauen in bei Morgenfrühe zum Grabe eilen und Christum auferstanden finden. Das sechste Blatt: Die Feinde Daniels werden gerichtet - wie die Feinde Christi auch dem Gericht nicht entgehen. ‑ Es bringt reiche Frucht, in diese Bilder sich zu versenken und von diesem Maler sich das Kapitel in seiner Sprache auslegen zu