Behandelter Abschnitt Daniel 6,11-14
Daniel missachtet das Gebot des Königs
„Und als Daniel erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus. Und er hatte in seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie und betete und lobpries vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte. Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und flehend vor seinem Gott. Dann traten sie hinzu und sprachen vor dem König bezüglich des königlichen Verbots: Hast du nicht ein Verbot aufzeichnen lassen, dass jedermann, der innerhalb von dreißig Tagen von irgendeinem Gott oder Menschen etwas erbitten würde außer von dir, o König, in die Löwengrube geworfen werden sollte? Der König antwortete und sprach: Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist. Hierauf antworteten sie und sprachen vor dem König: Daniel, einer der Weggeführten aus Juda, achtet weder auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal am Tag sein Gebet“ (6,11–14).
Doch was tut Daniel angesichts eines solchen Befehls? Wird er ihm gehorsam sein? Oder wird er sich, wie seine drei Freunde in der Gefangenschaft, dem königlichen Geboten widersetzen? Wer könnte bezweifeln, was er tun würde, wenn man betrachtet, wie treu er sowohl zu Nebukadnezar als auch zu Belsazar gesprochen hatte? Darüber hinaus liefert die Tatsache, dass er innerhalb des Bereiches seiner Verantwortung und Treue gegenüber seinem Herrscher so gut gedient hatte, dass selbst seine Feinde keinen Anklagegrund finden konnten, eine Garantie dafür, dass er als Diener des Gottes des Himmels nicht weniger gewissenhaft in dem Bereich sein würde, in dem Gott über ihm steht. Darius – wenn er auch überlistet worden war – war aus dem Bereich seiner Autorität herausgestiegen und war in dem Erlass dieses Befehls in den Kreis Gottes eingedrungen, in dem der Mensch weder ein Recht noch einen Platz hat.
Wenn Daniel daher ein gutes Gewissen Gott gegenüber behalten wollte, so hatte er keine andere Wahl als die Unterwerfung unter das erlassene Gebot zu verweigern. Daher, „als Daniel erfuhr, dass die Schrift aufgezeichnet war, ging er in sein Haus. Und er hatte in seinem Obergemach offene Fenster nach Jerusalem hin; und dreimal am Tag kniete er auf seine Knie und betete, und lobpries vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte.“
Was für ein Schauspiel! Ein Mann aus einem anderen Volk, Zielscheibe der Bosheit der Chaldäer, der seine Erhöhung durch das Wohlgefallen des Königs genoss, fordert – koste es, was es wolle – die Macht des gesamten Königreiches heraus, weil er seinem Gott nicht untreu sein wollte! Und man beachte, dass der von ihm eingeschlagene Kurs keineswegs eine Zurschaustellung war. Er setzte seine Gewohnheit fort, „wie er vorher getan hatte“. Er hätte seine Fenster schließen und der Beobachtung entgehen können, doch wenn er dies getan hätte, so wäre es unter den gegebenen Umständen so gewesen, als würde er den Befehl des Königs beachten. Seine Fenster waren immer offen nach Jerusalem gewesen, und sie mussten es weiterhin sein. Daniel betete also durch die Gnade Gottes ungeachtet der Konsequenzen zu dem Herrn – morgens, mittags und abends – „wie er vorher getan hatte“.
Es gab einen Grund dafür, dass die Fenster nach Jerusalem geöffnet waren. Bei der Einweihung des Tempels hatte Salomo in Bezug auf das Volk gebetet für den Fall, dass es in die Gefangenschaft geführt werden sollte in das Land des Feindes, nah oder fern: Und wenn sie umkehren „zu dir mit ihrem ganzen Herzen und mit ihrer ganzen Seele in dem Land ihrer Feinde, die sie gefangen weggeführt haben, und sie beten zu dir nach ihrem Land hin, das du ihren Vätern gegeben, nach der Stadt, die du erwählt hast, und dem Haus, das ich deinem Namen gebaut habe: so höre im Himmel, der Stätte deiner Wohnung, ihr Gebet und ihr Flehen, und führe ihr Recht aus“ (1Kön 8,48-49). Daniel stützte sich also auf das sichere Wort Gottes, indem er so betete, der der Herr hatte zu Salomo gesagt: „Ich habe dein Gebet und dein Flehen gehört, das du vor mir gefleht hast“ (1Kön 9,3).
Daniel war kein „geheimer Nachfolger“. Seine Gebetsgewohnheiten waren bekannt, und folglich wussten seine Feinde, wie sie herausfinden konnten, ob er dem Befehl gehorchen würde oder nicht.
„Da liefen jene Männer eilig herbei und fanden Daniel betend und flehend vor seinem Gott, wie er vorher getan hatte“. Die Bezeichnung „jene Männer“ wird zweifelsohne erneut (wie in V. 6; siehe auch die Verse 16 und 25) verwendet, um die göttliche Beurteilung ihres boshaften Verhaltens auszudrücken. Doch sie hatten ihr Ziel erreicht. Ihr böser Plan hatte bis hierhin gefruchtet, und während sie sich über ihren Erfolg freuten, „nahten sie und sprachen vor dem König bezüglich des königlichen Verbots“. Hatte nicht seine Majestät, so erkundigten sie sich, den Befehl unterzeichnet?
Der König antwortete: „Die Sache steht fest nach dem Gesetz der Meder und Perser, das unwiderruflich ist.“ Ach! Der König war in den Händen dieser skrupellosen Männer. Er hatte ihre Schmeichelei angenommen, und nun war er ihr hilfloser Sklave geworden. Er selbst legte sich unverhofft seine eigenen Ketten an. Nachdem sie den Herrscher in ihrem Vorhaben befestigt hatten, fuhren sie damit fort, die Absicht ihrer bösen Herzen zu offenbaren, und die von ihnen verwendeten Worte verrieten die Tiefe ihrer Gräueltat. Sie sprachen vor dem König: „Daniel, einer der Weggeführten von Juda, achtet nicht auf dich, o König, noch auf das Verbot, das du hast aufzeichnen lassen; sondern er verrichtet dreimal des Tages sein Gebet.“