Der Sohn des Menschen am Kreuz
Vers 14. Aber kann Gott Wohlgefallen an den Menschen haben, so wie die Dinge stehen? Können Menschen, so wie sie in ihrer Sünde sind und Feinde Gottes durch all ihre bösen Werke, Miterben Christi sein? Es ist unmöglich. Etwas anderes, Grundlegendes ist nötig: die Erlösung. Der Mensch, der mit tausendmal grösserer Sünde beladen ist als jener, die zur unwiderruflichen Vertreibung aus dem irdischen Paradies führte - der Mensch, der so weit gegangen war, dass er sich der Verwerfung Gottes, der Gnade und des Sohnes Gottes schuldig machte - kann so, wie er ist, niemals das himmlische Paradies betreten. Es ist unmöglich.
Wenn also Christus als Mensch die Herrlichkeit, die in den Ratschlüssen Gottes das Teil von Menschen ist, besitzen sollte, wenn Er Miterben haben und sie in das Haus seines Vaters einfuhren sollte, musste Er sie erlösen und sie gemäss der Herrlichkeit Gottes reinigen. Ebenso musste Er die Schöpfung vom Joch, unter das die Sünde sie gebracht hatte, und von der Herrschaft Satans erlösen. Es geht hier um den Zustand der Erben und ihre Befreiung von Tod und Verdammnis. Wenn nun der Sohn des Menschen uns vorgestellt wird, werden seine Leiden und sein Tod immer wieder erwähnt.
Als Messias wurde Er auf der Erde von seinem Volk verworfen. Doch die Folge davon war, dass Er in die ausgedehntere Sphäre des Sohnes des Menschen eintrat, als das Haupt der ganzen Schöpfung und in besonderer Weise als das Haupt jener, deren Er sich nicht schämt, sie Brüder zu nennen. Doch dazu war Erlösung nötig. Wir lernen dies aus Matthäus 16,20.21, und noch deutlicher aus Markus 8,29-31 und Lukas 9,20-22, mit den Folgen, die sich für uns daraus ergeben.
Auch im Johannes-Evangelium wollte der Vater, dass die Herrlichkeits-Titel des Herrn Jesus auf dieser Erde bezeugt würden. Als Sohn Gottes wurde Er durch die Auferstehung des Lazarus verherrlicht; als Sohn Davids durch seinen Einzug in Jerusalem auf einem Eselsfohlen. Schliesslich, als einige Griechen, die nach Jerusalem gekommen waren, um anzubeten, sich an die Jünger wandten, weil sie Jesus sehen wollten, antwortete Er: «Die Stunde ist gekommen, dass der Sohn des Menschen verherrlicht werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht» (Kap. 12,23.24).
So finden wir in allen Evangelien, dass der Messias dem Sohn des Menschen Platz macht. Aber überall sehen wir, dass der Sohn des Menschen durch den Tod gehen musste, um in seine neue und umfassende Stellung der Herrlichkeit einzutreten. Er hätte zwölf Legionen Engel haben können, doch dann wären Gottes Ratschlüsse, wie sie in der Schrift offenbart sind, nicht erfüllt worden. Christus wäre ohne Miterben geblieben.
Wir haben schon bemerkt, dass in diesem Kapitel das Leben oder das Werk, das dies für uns bewirkt, immer im Zusammenhang mit seiner gegenwärtigen und persönlichen Anwendung vorgestellt wird. Beide Dinge werden uns als das, was sie in ihrer Natur sind, gezeigt und nicht in Bezug auf das Ausmass ihrer Auswirkung. Sie werden auf uns persönlich angewandt, und zwar als Mittel, um entweder am Reich oder an den himmlischen Dingen teilzuhaben. Die Erhöhung des Sohnes des Menschen am Kreuz hier auf der Erde entspricht sowohl der Seite unserer Bedürfnisse als auch der Seite Gottes, also der Offenbarung der himmlischen Dinge, die der Sohn des Menschen herabgebracht hat, und dem, was sich im Himmel befindet. Wir müssen das Kreuz vor dem Hintergrund eines Gottes betrachten, der vollkommen offenbart worden ist.
Mit der Kreuzigung Jesu wurde nicht nur der den Juden verheissene Messias verworfen, womit das Recht auf die Erfüllung der Verheissungen für jene, die es besassen, aber das Gesetz übertreten hatten, verloren ging. Auf Golgatha wandte sich der Hass des Menschen gegen Gott, der sich in Güte offenbart hatte. Nun ging es nicht mehr bloss um Sünden und um das Übertreten des Gesetzes, sondern um das Verwerfen der Gnade, nachdem sündige Taten und Gesetzesübertretungen bereits vorhanden waren. Der Mensch wollte Gott um keinen Preis haben (Kap. 15,22-24). Trotzdem konnte die Sünde des Menschen die Gnade Gottes nicht zerstören.
Doch, wenn Christus als Sohn des Menschen die Angelegenheit des Menschen übernahm, musste Er auch die Konsequenzen davon auf sich nehmen, denn Gott machte Ihn für unser Tun verantwortlich (Heb 2,10). Damit wir an den himmlischen Dingen teilhaben konnten, musste der Sohn des Menschen erhöht werden, und zwar gemäss der Herrlichkeit Gottes, in Verbindung mit dem, was Ihn so sehr verunehrt hat. Christus hat dies vollbracht, indem Er selbst zur Sünde gemacht wurde und alle unsere Sünden getragen hat. Wir hätten fern von Gott in unseren Sünden sterben müssen; aber Er nahm unseren Platz ein, indem Er als Mensch alles aus der Hand seines Vaters empfing und Ihm in allem gehorchte.
Er nahm Knechtsgestalt an, und doch ist Er, gemäss der Gerechtigkeit und den Ratschlüssen Gottes, rechtmässiger Herr über alles geworden. Er ist es, den niemand erkennt als nur der Vater, und der uns doch den Vater offenbart hat. Er hat sich ganz zu uns herabgeneigt, ist wahrer Mensch geworden, obwohl Er sagen konnte: «Ehe Abraham wurde, bin ich.» Von Ihm können unsere Zunge und unser Verstand nur in unvollkommener Weise sprechen, und doch ist Er der Schöpfer aller Dinge. Aber als Mensch nimmt Er den höchsten Platz in der Schöpfung ein. Er kam, um uns himmlische Dinge zu offenbaren, und lebte als Mensch darin, während Er sich gleichzeitig fortwährend in den himmlischen Örtern aufhielt. So war es möglich, dass Er als Mensch auf dieser Erde war und uns gleichzeitig das Himmlische in all seiner Frische offenbaren konnte.
Der Sohn des Menschen wird als Mensch, gemäss den Ratschlüssen Gottes, Haupt über alles im Himmel und auf der Erde sein. Als Er auf der Erde war, war Er bereits Messias und Sohn Gottes und wurde als solcher verworfen (Ps 2). Nun muss Er die weiter reichende Stellung als Sohn des Menschen einnehmen. Als Sohn des Menschen ist Er über die Werke Gottes gesetzt, und alles ist seinen Füssen unterworfen (Ps 8). So finden wir Ihn auch in Daniel 7, wo Er zu dem Alten an Tagen gebracht wird, um das Reich zu empfangen.
Die Tatsache, dass Er alle Dinge geschaffen hat, wird uns im Kolosser-Brief als Beweggrund angegeben, dass Er in der Schöpfung der Erstgeborene ist. In erster Linie nimmt Er diesen Platz ein, um die Sorgen der Schöpfung vor Gott zu tragen, um die Sühnung für unsere Sünden zu sein, sie für immer auszulöschen, damit wir nicht verloren gehen müssen.
Am Kreuz wurde Er, der Sünde nicht kannte, von Gott zur Sünde gemacht, und zwar auf eine absolute Weise. Dort wurde absoluter Gehorsam in vollkommenster Weise sichtbar. «Aber damit die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und so tue, wie mir der Vater geboten hat» (Joh 14,31). Er musste auf das Kreuz erhöht werden. Die Notwendigkeit dafür lastete auf uns. Die Gerechtigkeit - das eigentliche Wesen Gottes - verlangte, dass die Sünde weggetan werden sollte. Doch der Sünder konnte seine eigene Sünde nicht wegtun. Wie hätte er dies auch tun können, da er schon so schwer damit beladen war? Doch der Sohn des Menschen, von den Menschen verworfen, wurde vor Gott erhöht, um zur Sünde gemacht zu werden. Er war ganz allein vor Gott, ohne dass Ihm jemand oder etwas zur Seite gestanden wäre.
Es ging hier nicht länger um das Judentum oder um die Verheissungen, sondern um die Befriedigung der Ehre Gottes an diesem Ort. Es war der letzte Adam, der nicht ungehorsam war, als Er alle Segnungen Gottes geniessen konnte, und der selbst dann gehorsam war, als Er nicht nur in Todesnot war, sondern auch den Fluch und das Verlassensein von Gott erduldete - Er, der ewig in der Liebe des Vaters und in vollkommener Heiligkeit gewohnt hatte. Niemand kann solches ausloten. Trotzdem müssen wir sagen: Seine unendlichen Leiden waren nötig im Blick auf das, was wir waren; sie waren notwendig, wenn die Ehre Gottes gewahrt bleiben und wir gerettet werden sollten. Je mehr wir erkennen wer Er ist, desto mehr empfinden wir die Tiefe des Abgrunds, in den Er hinabstieg. Doch gerade darin konnte Er sagen: «Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wieder nehme» (Joh 10,17). Die Herrlichkeit Gottes ist offenbart worden, und zwar auf eine nie dagewesene Weise.