Behandelter Abschnitt Hld 6,11-12
„In den Nussgarten ging ich hinab, um die jungen Triebe des Tales zu besehen, um zu sehen, ob der Weinstock gesprosst hätte, ob die Granatbäume blühten. Unbewusst setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines willigen Volkes“ (Hld 6,11-12).
Wie selten geschieht es, dass der Weingärtner von der Fülle und Reife der Früchte seines Weinbergs überrascht dasteht. Enttäuschung, nicht Genugtuung, muss er nur zu oft für seine Mühe einernten. Und wir dürfen wohl sagen, dass es von jeher so gewesen ist mit Israel, dem Weinberg des Herrn. Doch hier ist es anders. Alles ist verändert, und in der lieblichsten Weise verändert. Die Gnade strahlt in herrlichem Glanz, der Glaube triumphiert, der Herr trägt den Sieg davon, und Sein Volk blickt auf Ihn und rechnet auf Ihn, auf Ihn allein. Alles ist reif in Juda für die Herrlichkeit.
Gesegneter Tag! Der Herr erblickt jetzt in Seinem Volk die reifen Früchte Seiner Gnade. Sein Herz frohlockt, ja es wird von dem Anblick ganz überwältigt. Es handelt sich nicht länger um die Wüste und Seine Verbindung mit dem Volk dort, sondern ein fruchtbarer Garten steht vor unseren Blicken mit den jungen Trieben des Tales, mit grünenden Reben und blühenden Granaten. Diese Früchte Seiner reichen, langmütigen Gnade bewegen den Herrn tief. Seine Liebe zieht Ihn hin zu Seinem jetzt so völlig veränderten und willigen Volk. „Unbewusst setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines willigen Volkes“ (Vergl. Ps 110,3). Wie wunderbar ist es, das Herz des Herrn so bewegt, so hingerissen zu sehen durch die Bereitwilligkeit Seines Volkes, Ihn aufzunehmen. – Wahrlich, diese Seite der Liebe unseres Herrn erfordert unsere tiefe, eingehende Betrachtung. ‘Welch ein Gedanke, dass der Herr des Himmels und der Erde durch Herzen, die nach Ihm verlangen, so völlig hingerissen und mit tiefer Freude erfüllt werden kann! Möchte doch jede bußfertige, aber ängstlich zweifelnde Seele dies hören und glauben. Wenn einmal die Tochter Zion die Füße ihres Herrn mit ihren Tränen benetzen wird, dann wird Er Sich von allem anderen abwenden und sie eilend trösten. Die Fülle Seines Herzens wird zu ihr ausströmen, und Vergebung, Heil und Frieden werden ihr ewiges Teil sein.
Im Neuen Testament begegnen wir manchem ähnlichen Beispiel von der Bereitwilligkeit unseres Herrn, dem schuldigen Sünder in Gnade zu begegnen. Gott hat von jeher so gehandelt; aber im Neuen Testament tritt uns die persönliche Liebe und Gnade Christi lebendiger entgegen. Nichts erfreut Sein Heilandsherz mehr, als einem armen, verlorenen Sünder Gnade zu erweisen und ihn zu erretten. Wandte Er Sich nicht um in dem Drängen und Schieben der Volksmenge, um die eine zu sehen, die den Saum Seines Kleides angerührt hatte? Sie hätte sich ebenso still und unbeobachtet wieder entfernen können, wie sie gekommen war; aber Seine Liebe wäre damit nicht befriedigt gewesen.
Der Vorgang musste ans Licht gezogen werden und er sollte zu ewigem Gedächtnis aufgezeichnet werden. Niemand war so tief an dem, was geschehen war, interessiert wie Er Selbst. Die Frau hatte im Glauben gleichsam die innersten Quellen Seines Herzens angerührt, und die Kraft, die in Ihm war, floss zu ihr aus. Doch der Herr wünschte sie selbst zu sehen und aus ihrem eigenen Munde zu hören, was sie erfahren hatte; und dann rief Er ihr die lieblichen Worte zu: „Tochter, dein Glaube hat dich geheilt; gehe hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage“ (Mk 5).
Gerade so erfreut und innerlich bewegt war Er durch den Schrei um Erbarmen aus dem Mund des blinden Bettlers (Lk 18). Er befand Sich auf einer wichtigen Reise, und eine große Volksmenge begleitete Ihn. Soll nun der ganze Zug stillstehen, weil ein armer Bettler um Hilfe ruft? Nein, die Vorangehenden bedrohen den Blinden, und gebieten ihm zu schweigen. Aber was tut der Sohn Davids? Sobald der Ruf Sein Ohr erreicht, steht Er still. Er geht keinen Schritt weiter. „Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich führen. Als er aber nahe gekommen war, fragte er ihn: Was willst du, dass ich dir tun soll?“ (Lk 18,40.41)
Welch ein Anblick! Ein armer, blinder Bettler, geleitet von mitleidiger Hand, und Jesus, auf ihn wartend! „Was willst du, dass ich dir tun soll?“ Der Herr beeilt Sich nicht, Sein Werk zu vollenden; Er zögert gleichsam, weil Ihn der ganze Vorgang so herzlich erfreut. Seine Seele ist tief bewegt; Er allein kannte den wunderbaren Ausgang der Sache. Aber welch eine Stellung für den armen, bedauernswürdigen Mann vor Ihm! Was würdest du vom Herrn erbeten haben, mein Leser, wenn du so vor Ihm gestanden hättest? Ist es nicht gerade so, als wenn der Herr gesagt hätte: „Bitte nur, um was du willst; ich stehe bereit, dir zu dienen und deiner Bitte zu entsprechen“? Der Bettler bittet nur um das, was er so schmerzlich entbehrt, um sein natürliches Augenlicht. „Er sprach: Herr, dass ich wieder sehend werde!“ Und der Herr? Er entspricht seiner Bitte nicht nur, sondern gibt ihm tausendmal mehr. „Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! dein Glaube hat dich geheilt (oder gerettet).“ Der Ausgang dieser Szene ist überaus herrlich. Der Geheilte folgt Jesus im Glauben nach und verherrlicht Gott; „und das ganze Volk, das es sah, gab Gott Lob“. Der ganze Vorgang ist ein schönes Bild von der Zeit des tausendjährigen Reiches.
Doch von allem, was uns im Neuen Testament berichtet wird, ähnelt die Geschichte von dem verlorenen Sohn wohl am meisten der Szene hier im Hohenlied. Die reuevolle Umkehr des Sohnes treibt den Vater in Eile zu ihm hin. Er Iäuft Seinem Sohn entgegen. „Als er aber noch ferne war, sah ihn sein Vater und wurde innerlich bewegt und lief hin und fiel ihm um seinen Hals und küsste ihn sehr.“ Die Liebe des Vaterherzens und der Wunsch des Sohnes, zu ihm zurückzukehren, kommen einander auf halbem Wege entgegen; und der Vater leitet den Sohn mit bewegtem Herzen der glücklichen Heimat zu.
Ähnlich wird es mit dem Bräutigam am Ende der Tage sein. Der tiefe Schmerz, die göttliche Betrübnis Seines Volkes in jener Zeit, besonders derer aus dem Stamm Juda, und ihr ernstes Verlangen nach der Ankunft des Messias wird Seine Liebe in Tätigkeit setzen und Ihn veranlassen, Sein Kommen zu beschleunigen. „Unbewusst setzte mich meine Seele auf den Prachtwagen meines willigen Volkes.“ Und indem Er die Leitung Seines Volkes übernimmt, wie ein Wagenlenker die Lenkung des Wagens, wird Er ihre völlige Befreiung bewirken und sie in Eile zu Herrlichkeit und Triumph führen.