Behandelter Abschnitt Hld 6,13
„Kehre um, kehre um, Sulamith; kehre um, kehre um, dass wir dich anschauen! – Was wollt ihr an der Sulamith schauen? - Wie den Reigen von Machanaim“ (oder von zwei Heeren) (Hld 6,13).
Die Jungfrauen stimmen jetzt wieder voll Bewunderung in den Chor ein. Sie wünschen, mehr von der Schönheit, Vollkommenheit und Herrlichkeit der Braut zu sehen. Sie ergeht sich mit dem König im Nussgarten. Kostbares Vorrecht! Die Jungfrauen nennen sie mit einem neuen Namen: „Kehre um, kehre um, SuIamith!“ Sulamith ist die weibliche Form des Namens Salomo. Das ist bedeutungsvoll. Die Vereinigung ist geschehen; die lange unterbrochenen Beziehungen sind wiederhergestellt; die Gnade hat ein vollkommenes Werk in der Braut getan.
Der Herr kann Sich ihr jetzt völlig offenbaren, und sie wirft die Strahlen Seiner Herrlichkeit ungetrübt zurück: „sie ist schön wie der Mond, rein wie die Sonne“. Sie steht in der wolkenlosen Gunst des Königs und besitzt und genießt Seine ganze Liebe. Wahrlich, darin kann das Herz vollkommen und ewig ruhen. Nichts könnte höher und gesegneter sein. Ruhst auch du in dieser Liebe, meine Seele? in der bewussten und tief empfundenen Liebe deines Geliebten? Er hat Sich dir offenbart; Sich Selbst dir geschenkt; was könnte Er mehr tun? Im Himmel kann es keinen solchen Ausdruck Seiner Liebe geben, wie er hier auf der Erde in dem Kreuz ans Licht getreten ist. Das Blut, das auf den Höhen Golgathas vergossen wurde, bildet den vollkommenen Ruheort für das Gewissen; die Liebe, die sich dort offenbart hat, den vollkommenen Ruheort für das Herz. Und alles das ist jetzt dein. „Glaube nur!“
Noch andere Jungfrauen fallen jetzt, wie es scheint, in den Chor ein und fragen: „Was wollt ihr an der Sulamith schauen?“ Die sofortige Antwort lautet: „Wie den Reigen von Machanaim“ (oder von zwei Heeren). Tirza, die Schöne, und Jerusalem, die Liebliche, werden vereint in ihr gesehen. Einige Ausleger haben gemeint, dass der Geist hier an den beständigen Kampf zwischen dem alten und dem neuen Leben in dem Gläubigen denke; aber wir halten dies für einen Irrtum. Der Ausdruck deutet keineswegs auf Kampf und Streit, sondern vielmehr auf Frieden und Freude, Einheit und Herrlichkeit hin. Dürfen wir hier nicht eher an die Wiedervereinigung des lange getrennten Hauses Jakobs unter dem Szepter des Friedensfürsten denken? Juda und Israel sind nicht länger zwei Nationen, die miteinander streiten, sondern sie erscheinen hier aufs innigste miteinander verbunden.
Wie der Reigen von Machanaim, so werden sie hier durch die liebende, friedliche (Sulamith bedeutet „die Friedliche“) Braut des wahren Salomo dargestellt. Diese Vereinigung wird sich im Beginn des tausendjährigen Reiches, der Herrschaft des Friedens, vollziehen. „Und der Neid Ephraims wird weichen, und die Bedränger Judas werden ausgerottet werden. Ephraim wird Juda nicht beneiden, und Juda wird Ephraim nicht bedrängen“ (Jes 11,13). Der König von Salem regiert, die zwölf Stämme sind wieder vereinigt, die Völker ihnen unterworfen – alles ist Friede und Segnung. Die Kriegstrompete hängt unbenutzt in der Halle, die Schwerter sind zu Pflugscharen, die Speere zu Winzermessern umgeschmiedet, und die Völker werden die Kriegskunst nicht einmal mehr lernen (Jes 2,4).
Doch abgesehen von der bildlichen Darstellung in unserem Kapitel möchte ich fragen: Ist es ein schriftgemäßer Gedanke, dass der Christ einen Kampf zwischen dem alten und dem neuen Leben zu führen hat?“ Sicherlich nicht. Der Kampf geht vor sich zwischen dem Fleisch und dem Geist. „Das Fleisch begehrt gegen den Geist, der Geist aber gegen das Fleisch“ (Gal 5,17). Es heißt nicht: „Das alte Leben gelüstet wider das neue, und das neue wider das alte.“ Wo dieser Gedanke festgehalten wird, muss die Erkenntnis über das Kreuz und das an ihm vollbrachte Werk sehr mangelhaft sein.
Der Apostel belehrt uns in Röm 6,1-11 in klarer, bestimmter Weise, dass unser alter Mensch mit Christus gekreuzigt worden ist, „damit der Leib der Sünde abgetan sei, dass wir der Sünde nicht mehr dienen“. Hieraus geht unzweideutig hervor, dass in Gottes Augen, und jetzt auch für den Glauben, unsere alte Natur am Kreuz zu ihrem Ende gekommen ist. Welch ein Trost für unsere Herzen! Wir wissen selbstverständlich aus eigener schmerzlicher Erfahrung, dass die alte Natur, die wir haben, noch existiert; und weiter, dass sich diese alte Natur, wenn wir nicht unaufhörlich über sie wachen und sie schonungslos verurteilen, sich als eine Quelle endloser Beunruhigung für uns und auch für andere erweisen wird.
Man kann sagen, dass das praktische Christentum aus zwei Dingen besteht: 1. aus der Ernährung des neuen Lebens durch die Beschäftigung mit Christus, und 2. aus der Verurteilung des alten Lebens, auf das Gott in feierlich-ernster Weise am Kreuz das Todesurteil geschrieben hat. Jemand möchte fragen: „Wie kann man denn gegen die Regungen dieser alten Natur wachen und sie richten?“ Der Apostel beantwortet diese Frage mit den Worten: „Ich sage aber: Wandelt im Geist, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen.“ Wir haben keine Kraft gegen die Natur, als nur im Heiligen Geiste und in der durch den Glauben festgehaltenen und verwirklichten Tatsache, dass das Fleisch nach den Gedanken Gottes gekreuzigt und für immer abgetan ist. Gepriesen sei der Name Dessen, der das Kreuz für uns erduldet hat! Dort ist unser alter Mensch mitgekreuzigt worden; dort wurde er gleichsam ans Holz genagelt, dort wurde für immer ein Ende mit ihm gemacht. An uns ist es, diese Tatsache im Glauben zu erfassen und in der Kraft und Freiheit, die uns der Glaube an diese Wahrheit verleiht, zu wandeln.
Bist du in das volle Verständnis dieser Grundwahrheit eingegangen, mein lieber Leser? Dann weißt du auch zu deinem ewigen Trost, dass von dem Augenblick an, da wir durch den Glauben an Christus Leben empfangen haben, unsere verdorbene Natur in der Schrift als tot betrachtet und behandelt wird. „Ihr seid gestorben“, sagt die Schrift; aber das ist, Gott sei Dank, nicht alles; wir lesen weiter: „und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (Kol 3,3). Wie sicher, wie wohl geborgen ist also jeder wahre Gläubige: „mit dem Christus in Gott“! Könnte unsere alte Natur oder irgendetwas, das zu ihr gehört, in Gott verborgen sein? Nein! Alles was von uns ist, ist vergangen, für immer dahin; alles was von Christus ist, bleibt – bleibt in all seiner unveränderlichen Vollkommenheit an dem besten Platz im ganzen Himmel, in Gott Selbst. Durch das Kreuz werden wir los von allem, was von uns ist; in der Auferstehung werden wir in den Besitz alles dessen eingeführt, was von Christus ist. In der neuen Schöpfung wird nie das kleinste Teilchen von der alten gefunden werden.
Der Apostel gibt uns im Galaterbrief eine eingehende Belehrung über diese Wahrheit. „Ich bin mit Christo gekreuzigt“, sagt er; „und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben“ (Gal 2,20). Paulus redet hier in einer Hinsicht von sich als tot, als gestorben, in einer anderen als lebend. Wie ist das zu verstehen? Nur durch den Glauben. Das alte „Ich, der alte Paulus, ist gestorben, mit Christus gekreuzigt; das neue „Ich“ ist sein neues Leben, Christus in ihm.
Das alte „Ich“ behandelt er als tot, als für immer abgetan; das neue Leben als sein einziges Leben jetzt, nachdem er geglaubt hat. „Christus lebt in mir.“ Die praktische Wirkung dieser Wahrheit, wenn sie im Glauben aufgenommen wird, ist unermesslich. Das eigene, böse, verderbte Ich, das für den natürlichen Menschen bei all seinem Tun Anfang, Mitte und Ende bildet, ist für den Glauben hinweg getan, und Christus ist an seine Stelle getreten. „Das Leben ist für mich Christus“; das heißt: Christus ist für mich Anfang, Mitte und Ende, mein ganzer Lebensinhalt. Wir wissen wohl, dass Paulus sein natürliches Leben, das Leben, das er stets als Mensch besessen hatte, nach wie vor behielt; aber das Leben, in dem er lebte, war ein ganz und gar neues – Christus lebte in ihm. „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20).
Alles dieses ist dem Grundsatz nach heute ebenso wahr von jedem Gläubigen, wie einst von dem Apostel, obgleich es sich in uns nicht so deutlich offenbaren mag. Aber vergessen wir nicht: zunächst muss der Glaube an die Wahrheit vorhanden sein, ehe ein Leben in der Kraft, die dieser Glaube verleiht, erwartet werden kann. Indes steht deutlich geschrieben: „Die des Christus sind, haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und den Begierden“ (Gal 5,24). Beachten wir es wohl! Es heißt nicht: sie kreuzigen es, sondern sie haben es gekreuzigt. Und von wem wird das gesagt? Von weit geförderten Christen, von Männern und Vätern in Christus? Nein, es heißt einfach: „die des Christus sind“. Es ist ebenso wahr von dem Kindlein, wie von dem Jüngling oder dem Vater in Christus. Was war es, das am Fluchholz gekreuzigt werden musste? War es etwas, das Christus angehörte? Nein, es war das alte, böse „Ich“, das ans Kreuz genagelt und in Christus hinweggetan werden musste. Und dass dies geschehen ist, dafür sei Sein heiliger Name ewiglich gepriesen!
Gott gebe allen Seinen teuer erkauften Kindern Gnade, sich diese Wahrheit im Glauben zuzueignen, zu wandeln in der Freiheit und Kraft des Heiligen Geistes, und stets beschäftigt zu sein mit dem auferstandenen und verherrlichten Christus!