Behandelter Abschnitt Hld 6,4
„Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich wie Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen (eig. befahnte Scharen)“ (Hld 6,4).
Welch ein Gruß ist das! Bedenke ihn wohl, mein Leser. Willst du das Herz Jesu kennen lernen, Seine geduldige Liebe, Seine unermüdliche Freundlichkeit, Seine unerschöpfliche Güte, so verweile hier einen Augenblick und sinne über jene Worte nach. Sicher ist es von hohem Interesse, der Bedeutung der hier gebrauchten Vergleiche: Tirza, Jerusalem und Kriegsscharen, nachzuforschen; aber siehe zu, dass die Beschäftigung mit diesen Dingen deine Gedanken nicht von der Person des Herrn Jesus ablenke. Ich bezweifle nicht, dass jene Vergleiche der unmittelbare Ausdruck Seiner Liebe sind; aber wenn es so ist, dann lass sie dir zu Strömen dienen, die dich zu ihrer Quelle zurückführen.
Verweile nicht zu lange bei dem Strom; die Quelle ist besser. Die Wirkung jedes wahren Dienstes am Wort ist, dass die Seele in unmittelbare Berührung mit der Person Christi gebracht wird. Der Wunsch des Feindes und die Wirkung jeder falschen Lehre gehen dahin, etwas zwischen die Seele und Christus zu stellen. Tirza ist nicht mehr; Jerusalem, die geliebte Stadt, war Jahrhunderte hindurch niedergetreten und ist es zum Teil auch heute noch; Judas Banner war bis vor wenigen Jahren zusammengerollt; aber das Herz, das einst Seine Freude an diesen bedeutungsvollen Symbolen fand, ist unveränderlich dasselbe geblieben. Suche darum vor allem das Herz Jesu kennen zu lernen. „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3).
Gottes Liebe in Christus zu dem Sünder zu kennen ist das Beste, das ich je kennen lernen kann; denn dann kenne ich den ewig sprudelnden Born, die Urquelle alles Segens. Wie oft mag Christus Selbst aus dem Auge verloren sein, obwohl die Seele mit der Wahrheit beschäftigt ist. Wache gegen diese Gefahr, meine Seele!
Kehren wir jetzt zu dem Gruß des Herrn zurück. „Du bist schön, meine Freundin, wie Tirza, lieblich wie Jerusalem, furchtbar wie Kriegsscharen.“ Beachten wir, dass dies die ersten Worte sind, die der Herr nach ihrem traurigen Abirren an Seine Braut richtet. Seine Lippen haben holdselige Worte für ihre wiederhergestellte Seele: „Du bist schön, meine Freundin.“ Fürwahr, das ist Jesus Selbst. Wer könnte Seine Liebe beschreiben? Sind wir in dieser Atmosphäre zu Hause, mein lieber Leser? Stehen wir nicht mit staunender Bewunderung einer solchen Liebe gegenüber? O lasst uns Ihn betrachten, der so redet, und vor Seinem erfreuten Herzen die von ihren Irrwegen zurückgekehrte Braut sehen. Lasst uns suchen, die anbetungswürdige Gnade unseres Herrn besser zu verstehen.
Wie lauteten Seine letzten Worte an Seine träge, schlaftrunkene Braut? „Tue mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht.“ Nichts könnte zärtlicher und rührender sein als diese Worte; aber sie blieben in jenem Augenblick von ihr völlig unbeachtet. Infolgedessen geriet sie für eine Zeit in einen betrübenden Zustand. Aber jetzt finden wir sie völlig wiederhergestellt und glücklich. Sie hat wieder volles Vertrauen zu der Liebe ihres Herrn. „Ich bin meines Geliebten, und mein Geliebter ist mein“, so lautet die freudige Sprache ihrer Seele. Wird Er denn gar nichts mit ihr reden über ihre Verirrung und ihre törichte Handlungsweise? Wird Er nicht wenigstens in Seinem Benehmen etwas kühl gegen sie sein, damit sie vor Ihm beschämt dastehe? Ach nein; denn Er sieht, dass sie ihr Tun aufrichtig bereut.
Der Herr vergibt nicht nur, sondern Er vergisst auch alle unsere Vergehungen, wenn wir sie bereuen. Er kommt jeder bußfertigen Seele mit dem vollen Ausdruck Seiner Gnade entgegen. Sobald die Seele ihren wahren Platz vor Ihm einnimmt, kennt Er keinen Rückhalt mehr, sondern öffnet ihr bereitwillig den reichen Schatz Seiner Liebe. Betrachten wir z. B. das kananäische Weib (Mt 15). Kaum hat sie den Platz einer armen Heidin eingenommen, die Fluch und Tod verdient hatte, als auch schon der volle Segensstrom aus Seinem Herzen ihr zufließt. Er preist selbst ihren Glauben mit den stärksten Ausdrücken: „O Frau, dein Glaube ist groß; dir geschehe, wie du willst.“ Er hält nichts zurück; sie wird gesegnet nach dem ganzen Begehr ihres Herzens. Betrachten wir auch die große Sünderin zu den Füßen Jesu im Hause Simons und den verlorenen Sohn in den Armen des Vaters.
„Du bist schön, meine Freundin.“ Nicht ein klagendes oder vorwerfendes Wort kommt über die Lippen des Bräutigams; nicht die leiseste Frage an die Braut, wo sie inzwischen gewesen sei oder was sie getan habe. Seine Liebe ist vollkommen, und Seine Gnade ist gleich der Nachsicht Seiner Liebe. Der Herr will gnädig sein entsprechend der Liebe Seines Herzens. Er sagt, dass die Braut schön sei wie Tirza, lieblich wie Jerusalem. Tirza bedeutet „Lieblichkeit, Anmut“. Es war die Residenzstadt der Könige von Israel ehe Samaria gebaut wurde, so wie Jerusalem der Wohnsitz der Könige von Judäa war. Jerusalem ist, wie wir wissen, in der Schrift bekannt wegen ihrer mannigfaltigen Herrlichkeit. Es heißt von ihr: „Schön ragt empor, eine Freude der ganzen Erde, der Berg Zion, an der Nordseite, die Stadt des großen Königs. Gott ist bekannt in ihren Palästen als eine hohe Festung“ (Ps 48,3.4).
Tirza war, wie bemerkt, die Hauptstadt der zehn abtrünnigen Stämme; aber die beiden Königreiche, Israel und Juda, werden in den Tagen der zukünftigen Herrlichkeit wieder unter einem Haupt vereinigt sein und nie wieder getrennt werden. Was uns hier in bildlicher Weise vorgestellt wird, lehren die Propheten in den deutlichsten Ausdrücken. So spricht der Herr, Herr: Siehe, ich werde die Kinder Israel aus den Nationen herausholen, wohin sie gezogen sind, und ich werde sie von ringsumher sammeln und sie in ihr Land bringen. Und ich werde sie zu einer Nation machen im Land, auf den Bergen Israels, und sie werden allesamt einen König zum König haben; und sie sollen nicht mehr zu zwei Nationen werden und sie sollen sich fortan nicht mehr in zwei Königreiche teilen“ (Hes 37,21.22).
Wenn so die zwölf wieder vereinigten Stämme ihren Messias zum König haben werden, dann wird die Herrlichkeit des Volkes groß sein. Es wird „furchtbar sein wie Kriegsscharen“. Dieser Vergleich erweckt nicht den Gedanken des Erschreckenden, sondern des Überwältigenden, Ehrfurchtgebietenden, gleich einer glänzenden Kriegerschar, die mit wehenden Fahnen dahin zieht. Der König erkennt an, dass die Herrlichkeit Seines geliebten, so in eins vereinigten Volkes Ihn überwältige.