Behandelter Abschnitt Hld 6,1
„Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter sich gewandt? Und wir wollen ihn mit dir suchen“ (Hld 6,1).
Gesegnet und mannigfaltig sind die Resultate, wenn die Seele sich hingebend mit Christus beschäftigt. Sich selbst aus den Augen zu verlieren und Ihn zum Gegenstand der Betrachtung zu haben, ist der erste Segen; und wahrlich, es ist ein großer Segen! Was kann Gläubige, die in einen niedrigen, dürren Seelenzustand geraten sind, am raschesten und wirksamsten daraus befreien? Wenn die Seele sich für sich selbst mit Christus beschäftigt und von Ihm mit anderen redet. Die Erfahrung der Braut erläutert diese Wahrheit in treffender Weise. Ihr anfänglicher Fehler bestand ohne Zweifel darin, dass sie begann, an sich selbst zu denken und um sich selbst besorgt zu sein. Sich mit sich selbst beschäftigen führt stets zur Selbstgenügsamkeit. „Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?“ (Hld 5,3). Sobald aber von den Töchtern Jerusalems der Vorzug ihres Geliebten vor anderen Geliebten in Zweifel gezogen wird, kommt sie wieder dahin, an Ihn allein zu denken und von Ihm allein zu reden; und indem sie das tut, wird zunächst ihre eigene Seele wiederhergestellt, und dann erreicht sie einen Grad der Gemeinschaft, von dem sie früher keine Vorstellung hatte. Ferner redet sie mit solcher Liebe von der fleckenlosen Schönheit ihres Herrn, dass die Töchter Jerusalems durch die Herrlichkeit Seiner Person angezogen werden und begehren, Ihn zu sehen und kennen zu lernen.
Doch das Zeugnis der Braut für Christus trägt noch eine andere Frucht, die wir nicht unbeachtet lassen dürfen. Die Töchter Jerusalems ziehen den ganz natürlichen Schluss, dass der Bräutigam Seine Braut verlassen haben müsse, nicht dass sie Ihn verlassen habe. Da sie die Braut in solch glühenden Ausdrücken von Ihm reden hören, können sie sich gar nicht vorstellen, dass sie selbst sich jemals aus Seiner Nähe entfernen konnte. War Er so herrlich, so von ihr geliebt, bewundert und geschätzt – wie konnte dann ihr Auge sich von Ihm abwenden? wie konnte ihr Herz aufhören, sich Seiner zu erfreuen? wie konnte sie jemals Seiner müde werden? Sie fragen deshalb: „Wohin ist dein Geliebter gegangen, du Schönste unter den Frauen? wohin hat dein Geliebter sich gewendet?“ und sie bieten sich an, Ihn mit ihr zu suchen. Welch ein scharfer, schneidender Vorwurf lag in diesem Anerbieten für die Braut! und wie tief muss ihr jetzt so empfindsames Herz ihn gefühlt haben!
Indem sie von der Schönheit ihres Herrn geredet hatte, hatte sie sich selbst ihr Urteil gesprochen. So ist es immer. Wenn das Herz außer Gemeinschaft mit Christus ist, so scheint alles gegen uns zu sein und unsere Wege zu verurteilen. Ist die Seele aber wiederhergestellt, so dient alles nur dazu, unsere Demütigung zu vertiefen und den Grad unserer Gemeinschaft zu erhöhen. Das Herz, das eben erst vom Lobe des Geliebten übergeströmt ist, frohlockt jetzt in Ihm. Das Auge der Braut ruht auf Ihm; sie weiß, wo Er ist und was Er tut. Seliger Augenblick! Alles ist Licht und Freude. Jetzt kann sie ihren Gefährtinnen sagen, wo Er zu finden ist.