Behandelter Abschnitt Hld 5,11-16
In Hld 4 zählt der Bräutigam, bei der Beschreibung der Schönheiten der Braut, sieben Züge auf. Wenn die Braut hier ein Bild von ihrem Geliebten entwirft, kommt sie bis zu zehn. Die bedeutungsvollen Zahlen drei und sieben finden sich so in Ihm vereinigt. Werfen wir jetzt einen kurzen Blick auf jede einzelne Schönheit.
„Sein Haupt ist gediegenes, feines Gold“ (Hld 5,11a).
Durch dieses gediegene, feine Gold mag zunächst eine erhabene Majestät angedeutet sein, wie in Dan 2,38: „Du bist das Haupt von Gold“. Dann aber wird das Gold in der Schrift oft als das Bild göttlicher Gerechtigkeit angewendet, in Verbindung mit der Person Jesu, wie z. B. in Jes 11,5 und Off 1,13. Von Ihm lesen wir auch: „Siehe, ein König wird regieren in Gerechtigkeit; und die Fürsten, sie werden nach Recht herrschen“ (Jes 32,1).
„Seine Locken sind herabwallend (oder gewellt), schwarz wie der Rabe“ (Hld 5,11b).
Die wallenden schwarzen Locken des Bräutigams stehen hier offenbar im Gegensatz zu dem langen schönen Haar der Braut, das Er mit einer Herde Ziegen vergleicht, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern. Während das lange Haar der Frau, obwohl es ihr zur Zierde und zum Schmuck gegeben ist, ein Zeichen ihrer Schwachheit und Unterwürfigkeit ist, deutet die Fülle rabenschwarzer Locken bei dem Bräutigam jedenfalls auf jugendliche Kraft und Frische hin. Von Ephraim heißt es in Hos 7,9: „Fremde haben seine Kraft verzehrt, und er weiß es nicht; auch ist graues Haar auf sein Haupt gesprengt, und er weiß es nicht.“ Aber an dem Herrn und König Ephraims werden nimmermehr Zeichen der abnehmenden Kraft gesehen werden.
Er ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit. – Manche denken auch, dass „das gediegene, feine Gold“ auf die Gottheit Christi hindeute, während sie in den „wallenden Locken“ eine Anspielung auf Seine Menschheit erblicken. Wie dem auch sei, jedenfalls ist dem Herzen des Gläubigen keine Wahrheit köstlicher als die Vereinigung der vollkommenen Menschheit unseres hochgelobten Heilandes mit Seiner ewigen Gottheit. Er ist „der Christus, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Vergl. Röm 9,5 und Kol 1,15-19).
„Seine Augen sind wie Tauben an Wasserbächen, badend in Milch, eingefasste Steine“ (Hld 5,12).
In Off 5,6 sagt Johannes von dem Lamm, das er inmitten des Thrones sieht, dass es „sieben Augen habe, die die sieben Geister Gottes sind, die gesandt sind über die ganze Erde“. Die Zahl sieben bedeutet bekanntlich göttliche Fülle und Vollkommenheit, und die sieben Augen bezeichnen hier eine vollkommene, göttliche Einsicht. „Denn Augen des Herrn durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist“ (2Chr 16,9). Der Gläubige hat nichts zu fürchten von dem durchdringenden Blick dieses Auges von siebenfältigem Glanz; für ihn ist das Auge des Herrn sanft, freundlich und lieblich wie die Augen von „Tauben an Wasserbächen“. – Wie schön ist es auch, die Richtung zu sehen, in die dieses Auge blickt! „Mein Auge auf dich richtend will ich dir raten“ (Ps 32,8). Was ist so ausdrucksvoll wie das Auge und welch ein Auge ist das Auge des Geliebten für die Seinigen. Sanft wie Taubenaugen, hell und klar wie in Wasser gebadet, weiß wie Milch, glänzend wie Edelsteine.
„Seine Wangen sind wie Beete von Würzkraut, Anhöhen von duftenden Pflanzen“ (Hld 5,13a).
Blühende Schönheit, Wohlgeruch und Lieblichkeit werden durch diese Vergleiche vorgestellt. Welch ein Unterschied zwischen den vergangenen Tagen demütiger Niedrigkeit, in der Jesus auf Erden wandelte, und den kommenden Tagen wunderbarer Herrlichkeit. Die Tochter Zion hat in ihrer Blindheit Ihn einst verachtet und verworfen, gerade weil Er in solch niedriger Gestalt in ihrer Mitte erschien und Sich dem Willen des Menschen unterwarf, der Feindschaft ist gegen Gott. Ach! sie sahen Ihn, und da war kein Aussehen, dass sie Ihn begehrt hätten. Sein Aussehen war entstellt, mehr als irgendeines Mannes, und Seine Gestalt, mehr als der Menschenkinder. Er Selbst sagt durch den Mund des Propheten Jesaja: „Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel“ (Vergl. Jes 50,6; 52,14; 53,2.3). Und im Propheten Micha lesen wir: „Mit dem Stab schlagen sie den Richter Israels auf die Wange“ (Hld 5,14). Aber wegen all dieser Feindschaft und Grausamkeit wird die Tochter Zion dereinst herzlich betrübt sein. Die Decke wird dann von ihrem Herzen weggenommen werden. Wie sie einst von dem Angesicht Moses verschwand, wenn er sich der Stiftshütte zuwandte, so wird sie von den Herzen der Israeliten verschwinden, wenn sie Den anschauen werden, den sie durchstochen haben. Und statt zu sagen:
„Er hatte kein Aussehen, dass wir ihn begehrt hätten“, wird es von Ihm heißen: „Alles an ihm ist IiebIich.“ Die einst geschlagenen, angespienen Wangen werden dann dem Herzen des Volkes wie „Beete von Würzkraut“, wie „Anhöhen von duftenden Pflanzen“ erscheinen. O was wird die Gnade, die anbetungswürdige Gnade Gottes bewirken. Welche Triumphe wird Seine erlösende, vergebende Liebe feiern! – O Herr, beschleunige diesen herrlichen, glückseligen Tag tausendjähriger Freude!“
„Seine Lippen (sind) Lilien, träufelnd von fließender Myrrhe“ (Hld 5,13b). Wir werden bei diesem Vergleich wohl an die wunderschöne rote Lilie des Ostens zu denken haben; aber der Gläubige kennt auch die Wahrheit jenes gesegneten Wortes: „Holdseligkeit ist ausgegossen über deine Lippen“ (Ps 45,3). Sie träufeln von fließender, süß duftender Myrrhe. Die Lippen Jesu, und sie allein, können der beunruhigten Seele Frieden zusprechen. Wahrer Friede wird nicht eher gekannt und genossen, bis man Ihm, und Ihm allein, Sein Ohr geschenkt hat. Der Herr Selbst sagt durch den Propheten: „Der Herr Herr hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten“; und: „Neigt euer Ohr und kommt zu mir; hört, und eure Seele wird leben“ (Jes 50,4; 55,3).
„Seine Hände (sind) goldene Rollen, mit Topasen besetzt“ (Hld 5,14 a). Bei diesem Bild richten sich die Gedanken unwillkürlich auf die Werke dieser mächtigen, herrlichen Hände, auf ihr Wirken in der Schöpfung, in der Vorsehung und in der Erlösung. Das Gold und die Edelsteine deuten wohl auf die Schönheit, Gerechtigkeit, Dauerhaftigkeit und Vollkommenheit dieser Werke hin. „Die Taten seiner Hände sind Wahrheit und Recht, zuverlässig sind alle seine Vorschriften, festgestellt auf immer, auf ewig, ausgeführt in Wahrheit und Geradheit“ (Ps 111,7.8). Und der Glaube kann jetzt von diesen mächtigen Händen, in der Sprache der geliebten Sulamith, sagen: „Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich.“ Glückselig, dreimal glückselig alle, die in diesen ewigen Armen der Liebe ruhen! Ihre Wohnung ist der Gott der Urzeit, und unter ihnen sind ewige Arme (5Mo 33,27). „Die Liebe hört nimmer auf.“
„Sein Leib (ist) ein Kunstwerk von Elfenbein, bedeckt mit Saphiren.“ (Hld 5,14 b) Der Leib umschließt die inneren Teile des Menschen, die Eingeweide, das Herz u. a., so dass wir hier vielleicht an die tiefen und zärtlichen Gefühle des Herrn für die Seinigen denken dürfen. „Wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide“ (Ps 22,15). Die blaue Farbe des Saphirs erweckt den Gedanken an den himmlischen Charakter Seiner Gefühle. „Und sie sahen den Gott Israels; und unter seinen Füßen war es wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit“ (2Mo 24,10). Rein und weiß wie das Elfenbein, hoch und herrlich wie der Himmel; so ist das Mitgefühl; das Erbarmen und die Liebe unseres hochgelobten Herrn. Darum ermahnt der Apostel die Philipper: „Wenn es nun irgendeine Ermunterung gibt in Christus, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgend innerliche Gefühle und Erbarmungen, so erfüllt meine Freude, dass ihr gleich gesinnt seid, dieselbe Liebe habend, einmütig, eines Sinnes“ (Phil 2,1.2).
„Seine Schenkel (sind) Säulen von weißem Marmor, gegründet auf Untersätze von feinem Gold“ (Hld 5,15). Unter diesem Bilde wird in der Schrift gewöhnlich der Wandel dargestellt. „Alle Pfade des Herrn sind Güte und Wahrheit“ (Ps 25,10). In den „Säulen von weißem Marmor“ erblicken wir wohl die Stärke, die Beständigkeit und Dauerhaftigkeit aller Regierungswege des Herrn, während die „Untersätze von feinem Gold“ andeuten, dass göttliche Gerechtigkeit alle diese Wege charakterisiert. Göttliche Gerechtigkeit, allmächtige Kraft und Pfade der „Güte und Wahrheit“ sind die Kennzeichen des großen Königs von Zion. „Dein Thron, o Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und das Szepter der Aufrichtigkeit ist das Szepter deines Reiches. Du hast Gerechtigkeit geliebt und Gesetzlosigkeit gehasst; darum hat Gott, dein Gott, dich gesalbt mit Freudenöl über deine Genossen“ (Heb 1,8.9). „Und in den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, das in Ewigkeit nicht zerstört und dessen Herrschaft keinem anderen Volk überlassen werden wird; es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber in Ewigkeit bestehen“ (Dan 2,44).
„Seine Gestalt (ist) wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern“ (Hld 5,15 b). Nachdem die Braut ihren Geliebten von Kopf bis zu Fuß beschrieben hat, redet sie jetzt von Seiner ganzen Erscheinung, von der Gesamtheit aller jener herrlichen Züge; und diese Gestalt ist wie der Libanon, auserlesen wie die Zedern. Dieses Bild schildert offenbar Seine Majestät als der Messias. Die gewaltigen, himmelanstrebenden Zedern des Libanon sind in der Schrift das ständige Symbol von Erhabenheit, Macht und Größe. Glänzend wie feines, gediegenes Gold, geschmückt mit jeder Schönheit und Tugend, duftend wie die schönsten Blumen und reichsten Gewürze, herrlich und majestätisch gleich den Zedern des Libanon – so ist die Person ihres Geliebten.
„Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit“ (Hld 5,16a). Da die Lippen bereits genannt sind, so muss durch diesen Vergleich noch auf etwas anderes als die bloßen Worte des Herrn hingedeutet werden. Vielleicht bezieht er sich mehr auf die Ausdrücke der Gnade und Freundlichkeit Jesu, auf Seine vertrauten Mitteilungen, auf die innigen Kundgebungen Seiner Liebe und Freundschaft. Die Braut hat schon oft Seine Gnade geschmeckt; deshalb kann sie aus Erfahrung sagen: „Sein Gaumen ist lauter Süßigkeit.“ Die Güte und Freundlichkeit, mit der Er ihr begegnet; selbst wenn sie gefehlt hat, ist genug, um in ihrem Herzen einen tiefen, unauslöschlichen Eindruck von der Süßigkeit Seiner Gnade zurückzulassen.
„Wenn ihr wirklich“, sagt der Apostel, „geschmeckt habt, dass der Herr gütig ist“. – Andere Ausleger denken, dass der süße, liebliche Klang der Stimme des Herrn hier gemeint sei.
Die Braut schließt die Beschreibung ihres Geliebten mit den Worten: „Und alles an ihm ist lieblich. – Das ist mein Geliebter, und das ist mein Freund, ihr Töchter Jerusalems!“ (Hld 5,16b).
Die Worte fehlen ihr. Nicht dass sie müde wäre, von Ihm zu reden; aber sie ist unfähig, alles zu sagen, was Er ist. Darum endigt sie mit den alles umfassenden Worten: „Alles an ihm ist lieblich.“ Es ist, als wenn sie sagen wollte: Alle nur erdenkliche Lieblichkeit ist in Ihm; was die Seele wünschen und begehren kann, findet sich in Ihm; alle Schönheit gehört Ihm an. In Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit samt allen Tugenden der Menschheit. Er ist lieblich in Seiner Erniedrigung und lieblich in Seiner Erhabenheit; ja, alles an Ihm ist lieblich.
Und ist nicht der letzte Ton dieses herrlichen Liedes der schönste und vollste von allen? „Das ist mein Geliebter, und das mein Freund!“ Manche mögen sagen: Welch eine Beschreibung ist dies! Aber du, meine Seele, sage: Welch ein Schluss ist dies! „Das ist mein Geliebter, mein Freund.“ Er, Er Selbst ist mein! Die Braut verweilt mit tiefer Freude bei Seinen Eigenschaften; aber ihre Wonne erreicht den Gipfelpunkt, wenn sie sagen kann: „Er, in dem alle diese herrlichen Eigenschaften sich finden, ist mein! Deshalb sind auch alle Seine Eigenschaften mein.“ – Throne, Kronen, Szepter, Königreiche, Herrlichkeit und Segnung – alles ist Sein, und des Gläubigen in Ihm. Doch so herrlich diese Dinge auch sein mögen, sie sind doch nicht Er. Was wären sie alle wert ohne die Person des Geliebten?
„Was wär‘ der Himmel ohne Dich und alle Herrlichkeit?“ Ohne Ihn wären alle jene Dinge, so herrlich sie sind, für die Liebe des erneuerten Herzens ein Hohn; gleich der Braut, deren Herz öde und leer sein würde, gebrochen auf der Schwelle ihrer neuen Heimat, wenn sie sähe, dass der, auf dessen Liebe sie rechnete, sie verließe und einer anderen nachginge. Das neue, hübsch eingerichtete Haus bliebe ja zurück; aber ach! das Herz des Geliebten, gerade das, wonach sie sich sehnte, ist anderswo. Der Anblick der Räume, in denen sie mit dem Mann ihrer Wahl so glücklich zu sein hoffte, erweckt nichts als Gefühle der bittersten Enttäuschung in ihr. Alles erinnert sie nur an ihr Elend und ihr Verlassensein. Ihr Glück ist dahin, für immer dahin.
So ist es nicht selten mit der Liebe auf dieser armen Erde. Wie manches liebende und vertrauende Herz ist so gebrochen und unglücklich gemacht worden durch die Herzlosigkeit dessen, dem es vertraute. Aber so ist nicht die Liebe Gottes; Ihm sei ewig Lob und Dank. Glückselig alle, die ihr Vertrauen auf Jesus setzen. Es ist schon der Himmel auf Erden, Ihn zu kennen, Seine Liebe, Seine unergründliche, unveränderliche Liebe zu kennen und zu genießen. Diese Liebe besteht nicht in Worten allein, sondern in Tat und in Wahrheit; nicht in einem förmlichen, kühlen Gelöbnis, von dem das Herz nichts weiß, sondern in dem ewigen Bund Seiner Gnade, besiegelt durch Sein eigenes kostbares Blut. – Und was wird.es erst sein, meine Seele, wenn du diese Liebe in ihrer Fülle erkennen wirst, wenn das Stückwerk aufhören und das Vollkommene gekommen sein wird! wenn du Ihn, deinen Geliebten, sehen wirst, wie Er ist!