Behandelter Abschnitte Hld 5,3
„Ich habe mein Kleid ausgezogen, wie sollte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füße gewaschen, wie sollte ich sie wieder beschmutzen?“ (Hld 5,3).
Ach! wie unempfindlich ist die Tochter Zion geworden gegenüber den Ansprüchen ihres Messias, ihres gnädigen Herrn. Welch eine verhärtende, alles Gefühl ertötende Sache ist doch die Sünde. „Erkenne und sieh, dass es schlimm und bitter ist, dass du den Herrn, deinen Gott, verlässt“ (Jer 2,19). Wenn wir uns einmal aus der Gegenwart des Herrn entfernt haben, wer kann dann sagen, wie weit wir von Ihm abirren oder auf wie viele Nebenwege wir geraten mögen. Schon der Gedanke an ein solches Verhalten ist erschreckend. Und je mehr wir unsere Brüder lieben und je geistlicher unser Urteil ist über jenes Übel, desto größer wird auch unser Schmerz sein über eine Seele, die ihrem Herrn den Rücken wendet.
Welcher Diener des Herrn, dem das Wohl der Seelen und die Herrlichkeit seines Herrn am Herzen liegt, hat nicht schon im Stillen geweint über den abnehmenden Eifer und die immer mehr hinsterbende Energie eines einst ernsten, hingebenden Gläubigen? Das Herz des Hirten war so glücklich, so dankbar, so hoffnungsfreudig, als er die liebliche Frische der Seele für Jesus bemerkte. Immer eine der Ersten bei den Zusammenkünften der Gläubigen, das Gesicht strahlend vor Freude, wenn von Jesus die Rede war, – so war es einst; jedes Wort über Christus drang wie Freudenöl in ihr Innerstes, und wenn sie aus der Versammlung heimkehrte, so war es nur, um im stillen über das Gehörte weiter nachzusinnen und mit dem Herrn in der Einsamkeit Gemeinschaft zu machen.
Und jetzt? Ach, ein jeder, der einmal den Schmerz gefühlt hat, eine solche glückliche Seele irregeleitet zu sehen, weiß was es ist. Wie das grüne, frische Blatt des Sommers nach einer Zeit großer Hitze dürr und schlaff herabhängt, wie wenn ein heißes Eisen darüber gegangen wäre, so ist es auch mit der Seele, die durch irgendeine List des Feindes vom rechten Pfad abgelenkt worden ist. Ihre ganze Erscheinung und ihr ganzes Wesen haben sich verändert. Die Versammlungen werden nur noch selten besucht, und wenn sie kommt, empfängt sie nur wenig oder gar nichts. Das Antlitz hat seinen glücklichen, freudigen Ausdruck verloren; der Friede Gottes leuchtet nicht mehr aus ihm heraus, das Auge strahlt nicht mehr in dem alten Glanz.
Die irrende Seele selbst meint, alles andere habe sich verändert; ach, sie lernt so schwer, dass die Veränderung sich in ihr selbst vollzogen hat. Schließlich ärgert sie sich vielleicht an irgendeiner geringfügigen Sache und – verlässt die Gemeinschaft der Gläubigen. Ihr Platz ist jetzt leer; und wohin ist sie gegangen? Ach, in den meisten Fällen kann der Herr allein diese Frage beantworten. Nicht dass uns das „Wohin“ gleichgültig sein sollte. Sicherlich nicht, aber der Herr allein vermag den Spuren der abgeirrten Seele zu folgen. Sein Auge, das nie schlummert, begleitet sie überall hin, und das Herz, das einst um ihrer Sünden willen so unsäglich litt, kann nie aufhören, für sie Sorge zu tragen. In der Weisheit Seiner Liebe mag Er wohl erlauben, dass der Abgeirrte die Bitterkeit seiner selbst erwählten Wege schmeckt, aber Er hat stets Mittel und Wege, die Seele zur Buße zu leiten und sie in Seine Gemeinschaft zurückzuführen.