Behandelter Abschnitt Hld 5,2
„Ich schlief, aber mein Herz wachte. Horch! mein Geliebter! er klopft: Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! Denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht.“ (Hld 5,2).
In diesem traurigen Bekenntnis der Braut begegnen wir einer Erfahrung, durch die viele Gläubige gehen, und die unsere eingehende Betrachtung verdient. Der weitaus größte Teil der Christen ist viel mehr mit sich und seinen wechselnden Gefühlen beschäftigt, als mit dem Wort Gottes; und dies ist eine Quelle endloser Beunruhigungen und Verlegenheiten für die Seele. Wie oft geschieht es, dass Gläubige, wenn sie eine Veränderung der Gefühle in sich bemerken, daraus. sofort den Schluss ziehen, dass Christus nicht mehr derselbe für sie sei, der Er einst war. Sie beurteilen den Herrn nach ihren Gefühlen, anstatt an Ihn zu glauben nach Seinem Wort. Sie blicken auf sich, anstatt auf Christus, und lassen sich leiten durch Gefühle, statt durch die unveränderliche Wahrheit Gottes.
Vor wenigen Stunden noch, wenn wir der Ordnung in unserem Liede folgen dürfen, stand die Braut in der vollen Freude der Gegenwart ihres Herrn. Sie war froh und glücklich, wie viele Gläubige, solange der volle Strom eines freudenreichen Beisammenseins fließt. Nachdem aber das Mahl beendet ist und die Gäste sich entfernt haben, begibt sie sich zur Ruhe. Und ach! bald, sehr bald kommen Gefühle über sie, die sie tief beunruhigen. „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ Sie ist ruhelos, fühlt sich unbehaglich und unglücklich. Ihr Herz sehnt sich nach Christus, aber sie ist außerstande, sich aufzuraffen. Welch ein trauriger Zustand, wenn Jesus an der Tür steht und klopft! Aber es ist gar kein ungewöhnlicher Fall.
Ein Gläubiger mag im Großen und Ganzen noch recht stehen; aber wenn er in einen schläfrigen Zustand verfällt, werden geistliche Pflichten eine Bürde für ihn, und sie werden entweder ganz vernachlässigt oder doch nicht mit freudigem Herzen erfüllt. Das ist ein betrübender Seelenzustand. „Ich schlief, aber mein Herz wachte.“ Wir tun gut, die beiden Seiten dieses „aber“ zu beachten. Die Braut ist weder im Schlaf, noch ist sie wach. Auf der einen Seite ist bei ihr ein schlummerndes Gewissen, auf der anderen ein wachendes Herz. Deshalb kann sie keine Ruhe finden. Und genau so ist es, wenn wir sorglos werden im Blick auf die Dinge des Herrn. Aber welch ein betrübendes Bild von Tausenden und aber Tausenden, die fröhlich und glücklich im Herrn sein sollten, stets bereit für alles, was es im Dienste für Christum und für unsterbliche Seelen zu tun gibt!
Wenden wir uns jetzt zu der lieblichen Seite dieser belehrenden Szene. Hat der Herr sich verändert, weil die Braut sich verändert hat? Der Unglaube würde sofort bereit sein, zu sagen: ja; und was würde die Folge sein? Unwürdige Gedanken über Christus und endlose Zweifel und Befürchtungen. Wenn unsere Gedanken uns leiten, so sind die Worte Christi wertlos. Ist es denn wirklich so, dass die Kälte und Gleichgültigkeit der Braut Ihn nicht im Geringsten gegen sie verändert haben? Die Liebe Christi zu Seiner Braut verändert sich keinen Augenblick, trotz ihrer Unbeständigkeit und ihrer mannigfachen Rückschritte. Und wahrlich, keine bessere Antwort könnte auf jene Frage gegeben werden als die Worte der schläfrigen Braut selbst.
Trotz ihrer Schläfrigkeit erkennt sie Sein Klopfen und unterscheidet Seine Stimme; und immer noch sagt sie: „Mein Geliebter!“ In ihrem Inneren gibt es ein Leben, das stets auf Seine Stimme antworten muss, trotz aller Fehler, die sie macht. „Horch! mein Geliebter!“ sagt sie. „Er klopft: mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene! denn mein Haupt ist voll Tau, meine Locken voll Tropfen der Nacht“. Hier haben wir, geliebter Leser, den armen, stets veränderlichen Gläubigen vor uns, und ihm gegenüber unseren teuren, unveränderlichen Herrn. Was denkst du? Sollen die törichten Einbildungen unserer Herzen in einem solchen Fall unser Führer sein hinsichtlich der Gedanken Christi, oder soll es Gottes untrügliches Wort sein? Was könnte klarer und bestimmter sein, als das Wort, mit dem wir uns beschäftigen? Solltest du deshalb je berufen werden, mit zurückgegangenen, aber beunruhigten Seelen zu verkehren, möchte dann dein Verhalten, möchten deine Worte die Gesinnung Christi ausstrahlen, wie sie sich hier kundgibt!
Voll der geduldigsten, rührendsten Liebe sind die Worte, die der Bräutigam an Seine schwache und irrende Braut richtet. Statt Sich durch ihren traurigen Seelenzustand beeinflussen zu lassen und ihr Vorwürfe zu machen wegen ihrer Undankbarkeit und Gleichgültigkeit gegen Ihn redet Er sie zärtlicher an, als bei irgendeiner früheren Gelegenheit. „Mach mir auf“, sagt Er, mir, deinem Messias, deinem Geliebten. Ich bin Jesus; warum solltest du die Tür vor mir verschließen? „Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene“. Nie vorher hat Er sie Seine „Vollkommene“ genannt. Dieser Ausdruck Seiner bewundernswerten Gnade war für den Tag ihrer Schwachheit aufgespart geblieben. Und nie vorher hatte Er von dem „Tau“ und den „Tropfen der Nacht“ gesprochen, die jetzt auf Seinem Pfade hingebender, selbstverleugnender Liebe auf Ihn gefallen waren. Nichts kann Seine Liebe von ihrem Gegenstand und Ziel abwenden. Aber ach! Sein liebevoller Ruf macht nur wenig Eindruck auf das schlafbeschwerte Gewissen der Braut.
Gibt es hier irgendetwas, das einer Veränderung in der Liebe Christi zu Seiner Braut gleichsähe? Wenn es etwas gibt, so ist es dies, dass Er Seine Liebe jetzt nur umso völliger offenbart und sie umso zärtlicher anredet. Redet Er nicht in einer Weise zu ihr, die ganz und gar dazu angetan ist, das Herz zu schmelzen? Er spricht gerade so, als wenn es eine große Gunstbezeugung für Ihn wäre, wenn sie Ihn unter ihr Dach kommen ließe; oder wie ein müder Wanderer, der in einer finsteren und stürmischen Nacht vom rechten Wege abgekommen ist und nun um Unterkunft bittet. Auch ist es sehr bemerkenswert, dass Er sie nie vorher in so vielen zärtlichen Ausdrücken angeredet hat: „Mach mir auf, meine Schwester, meine Freundin, meine Taube, meine Vollkommene.“ – Das also ist die Liebe Christi, und zwar Seine Liebe zu einer Irrenden, träge Gewordenen. Lasst uns sie wohl betrachten, mein Leser. Es gibt nur ein Herz, das sich niemals verändert. O wie sollten wir dieses Herz wert halten, diesem Herzen vertrauen, auf dieses Herz rechnen! wie sollten wir stets diesem unveränderlichen Herzen der vollkommensten Liebe nahe bleiben! Aber ach! welche Herzen haben wir! All dieser langmütigen, bewundernswerten Liebe begegnet die schlummernde Braut mit Gleichgültigkeit und beantwortet sie mit den nichtigsten Entschuldigungen.