Behandelter Abschnitt Hld 2,16
„Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der unter den Lilien weidet“ (Hld 2,16).
Die glückliche Braut redet jetzt mit voller Gewissheit von dem Besitz des Gegenstandes ihrer Liebe. „Mein Geliebter ist mein“, nicht: „Ich hoffe, dass Er mein ist“. Wenn die Liebe wirklich und wahr ist, so verlangt das Herz nach dem Besitz seines Gegenstandes. Nichts anderes genügt ihm.
Bisher haben wir die Braut mit bewundernder Freude von den vielen herrlichen Eigenschaften ihres Geliebten reden gehört; auch stand sie im Genuss der Segnungen Seiner Liebe. Jetzt aber besitzt sie Ihn Selbst. So wird es sein am Ende der Tage. Christus wird für den Überrest sein, und der Überrest für Christus. Aber unsere Herzen sind so träge zu glauben. Wieder und wieder versichert der Herr die Braut Seiner Liebe und Seines Wohlgefallens an ihr. Selbst wenn sie sagt, dass sie schwarz ist, nennt Er sie sofort: „Du Schönste unter den Frauen“. Und jetzt kann sie mit aller Gewissheit sagen: „Er ist mein!“ Welch ein Triumph! „Jesus ist mein!“ Die Braut spricht jetzt nicht mehr von den Ergebnissen Seiner Liebe oder von Seinen ausgezeichneten Eigenschaften, sondern von Ihm Selbst.
Könnte man mit ebensolcher Bestimmtheit von dem Besitz irgendeines irdischen Gegenstandes reden? Sicherlich nicht. Man kann mit einem gewissen Maß von Wahrheit sagen: „Dies Geld ist mein; dies Haus ist mein; dieser Ehrenplatz ist mein usw.“ Aber wie rasch können alle diese Dinge uns entschwinden oder wir ihnen! Wie oft ist gerade dann, wenn wir meinten, der Erfüllung unseres Herzenswunsches endlich nahe zu sein, diese Erfüllung in weite Fernen gerückt worden; oder wenn wir wirklich den lange ersehnten Gegenstand in unserer Hand hielten, wie oft ist er über Nacht verwelkt wie eine dem nährenden Boden entrissene Blume! Ach, wie viele Tausende und Millionen müssen am Ende ihres Lebens ausrufen: „Alles, wofür ich sorgte und lebte, wofür ich kämpfte und litt, ist nicht mein und wird nicht mein sein in Ewigkeit! Für ein Linsengericht habe ich mein Erstgeburtsrecht verkauft, und nun ist alle Hoffnung dahin; nichts bleibt mir als eine finstere, schreckliche Ewigkeit!“
Wie töricht ist es, auf irgendetwas in dieser Welt sein Vertrauen zu setzen! Und wenn ich von allem, was die Menschen der Welt schätzen, reden könnte als „mein“: mein Reichtum, meine Ehre, mein Einfluss, meine Macht, mein Verstand usw. – was könnte es mir nützen, was kann es tun für meine unsterbliche Seele? Aber wie ganz anders ist es, wenn Christus, der Geliebte, der Gegenstand meines Herzens ist; wenn der Glaube mit voller Gewissheit sagen kann: Christus ist mein, mein jetzt und in Ewigkeit, mein, um meine Sünden abzuwaschen und mich mit der Gerechtigkeit Gottes zu bekleiden, mein, um in meinem Herzen zu wohnen, mein in allen Umständen und Schwierigkeiten dieses Lebens, mein in ewiger Herrlichkeit! Ja, mein Leser, und noch mehr als das: Er ist mein als Der, auf Den ich blicke und mit Dem ich rede, der mich liebt, für mich sorgt, mit mir fühlt und mich aufrecht hält, der mich mit Güte und Huld umgibt bis an das Ende meines Pilgerpfades und Der mich bald heimholen wird ins Vaterhaus droben. Ist das nicht ein seliges Teil? Sage mir, ist es nicht genug für einen armen, schuldigen Sünder?
O wer ermisst den Reichtum, der in diesen Worten liegt: “Ich bin des Herren, und der Herr ist mein!“? Welch eine Zukunft tut sich hier dem Blick des Glaubens auf! Nicht fürchtet sich die Braut, So kühn zu reden; nein, sie rühmt sich laut: Mein Gott, mein Heiland, mein geliebter Herr! Und hat sie nicht Sein Wort? Sagt Er nicht Selbst: „Wie mich der Vater liebte, lieb‘ ich euch“?
Und hat Er bis ans Ende nicht geliebt, Nicht dieses eine nur von ihr begehrt: “Gib mir dein Herz! „?
Wie ist es möglich, so fragt das liebende Herz, dass irgendjemand diesen Jesus vernachlässigen oder gar verachten könnte? „In ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig“ (Kol 2,9). Alles andere ist leer und eitel. Und als der auf erstandene, verherrlichte Mensch lädt Er jetzt alle ein, zu Ihm zu kommen und Seinen Reichtum, Seine Herrlichkeit und Seinen Platz mit Ihm zu teilen. „Denn es ist kein Unterschied . . . , denn derselbe Herr von allen ist reich für alle, die ihn anrufen; denn jeder, der irgend den Namen des Herrn anrufen wird, wird errettet werden“ (Röm 10,12.13).
Andererseits wagt es manche aufrichtige Seele nicht, die den Herrn wirklich lieb hat, zu sagen: „Mein Geliebter ist mein.“ Man meint, das sei Anmaßung. Aber alle, die so denken, vergessen, dass Er es zuerst sagt. Und kann es Anmaßung sein, zu bestätigen, dass Sein Wort wahr ist? Es ist stets demütiger, sich durch Sein Wort leiten zu lassen, als durch die eigenen Gedanken und Gefühle. Wie kommt es, dass solche Geschöpfe, wie wir sind, Ihn lieben? Der einzige Grund liegt darin, dass Er uns zuerst geliebt hat (1Joh 4,19). Eine Seele, die in Aufrichtigkeit nach Christus und Seinem Heil verlangt, besitzt schon beides, wenn sie es auch noch nicht glaubt und weiß. Der Herr hat eine solche Seele bereits in dem Reichtum Seiner Gnade besucht. Er schafft das Verlangen, es zu befriedigen; Er schafft die Liebe, ihr zu begegnen; Er schafft den Glauben, ihm zu antworten. Alles Gute kommt von oben herab. In unserem Herzen von Natur ist nichts Gutes, und Welt und Satan können auch nichts Gutes hineinpflanzen; alles Gute muss von oben kommen.
Jeder gute Gedanke, jedes gute, aufrichtige Verlangen kommt vom Herrn. Jede Seele, die wirklich danach verlangt, Christus kennen zulernen, Ihm zu vertrauen, Ihn zu lieben und Ihm zu dienen, wird deshalb sicherlich Ihn kennen und lieben lernen, Ihm dienen und Ihn anbeten ewiglich. Der Mensch mag Erwartungen erwecken, denen er nicht entsprechen kann, er mag Liebe hervorrufen, die er nachher enttäuscht; aber nicht so der hochgelobte Herr. Er ist der wahrhaftige Gott; Seine Liebe ist vollkommen. Und Er ist unser, mein lieber Mitgläubiger, unser durch die freie Gabe Gottes, so dass wir in aller Demut sagen können: „Mein Geliebter ist mein.“ O möchten wir mehr alles das zu erfassen vermögen, was Er ist und was Er hat für uns.
„Und ich bin Sein.“ Die Braut weiß sehr wohl, dass sie des Herrn ist. Sie ruft sich diese kostbare Wahrheit immer wieder ins Gedächtnis zurück, und Er versichert ihr in der lieblichsten Weise, dass sie Ihm über alles teuer sei. „Meine „Freundin, meine Schöne, meine Taube“, so nennt Er sie. Ist es nicht ein beglückender Gedanke, mein Leser, dass der Gläubige niemandem anders angehört als Christus, und dass er Ihm allein unterworfen ist? „So rühme sich denn niemand der Menschen“, sagt der Apostel, „denn alles ist euer. Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges: alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1Kor 3,21-23). Kostbare Wahrheit! „Ihr seid Christi.“
Jeder Gläubige kann sagen: „Ich bin Sein.“ So ehren wir Gott und Sein Wort. Wir gehören ausschließlich Christus an und sind nur Ihm unterworfen. Und während wir keinem anderen als Ihm angehören, sind alle Dinge unser: „es sei Paulus oder Apollos oder Kephas usw.“ Sie sind unsere Diener, nicht unsere Meister. Einer ist unser Meister. Selbst der Tod hat seine Herrschaft über uns verloren. Er ist für den Gläubigen kein Herr mehr, sondern ein Bote des Friedens, ein Diener. Der Tod kann mich nicht länger als seine Beute betrachten; die Welt kann nicht länger sagen, dass ich ihr angehöre, und der Feind kann nicht sagen, dass ich sein sei. Das einfache, aber so herrliche Wort: „ihr seid Christi“, ordnet alles. O glaube es, mein Leser, und glaube es so, dass du auch Ihm allein zu folgen begehrst. Wir sind um einen Preis erkauft, und dieser Preis ist Sein kostbares Blut. Wir gehören nicht mehr uns selber an, sondern Ihm.
„Er weidet unter den Lilien.“ Die Braut erinnert sich an den Namen, den Er ihr gegeben hat (Hld 2,2). Ist das Anmaßung? Wahrlich nicht. Möchten wir im Gegenteil mehr an die Worte denken, die Er gebraucht, und die Titel beachten, die Er gibt! Als „die Lilie“ ist sie die Vertreterin Seines ganzen Volkes; und in der Weite ihres Herzens nennt sie sie alle „Lilien“. Überdies weiß sie, dass Er unter den Lilien weidet. Da ist Er zu finden, nirgendwo anders. In dem Liliengarten findet Er Seine Erquickung, Seine Freude, Sein Genüge. Welch ein Vorrecht, Lilien in diesem Garten sammeln zu dürfen, während Er noch Seine Ankunft hinausschiebt.